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„Ein bloßes Kulturchristentum ohne persönlichen Glauben an den dreifaltigen Gott hat keine Zukunft“

24. November 2020 in Interview, 5 Lesermeinungen
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Kardinal Müller: „Christ wird man im Innersten des Verstandes und Herzens durch den Glauben an Jesus, den Sohn Gottes und den Retter der Welt. Diesen Glauben können wir nicht modernisieren, d.h. verweltlichen.“ Interview von Lothar Christian Rilinger


Vatikan (kath.net) Die Welt scheint aus den Fugen zu geraten. Keine historische Überlieferung soll mehr Bestand haben, alles wird in Frage gestellt, jeder Wert soll umgewertet werden und jegliche tradierte Vorstellung soll dekonstruiert werden, um etwas vollkommen Neues, etwas, was keine Bindung zum Herkömmlichen hat, zu erschaffen. Dieser Kampf hat inzwischen den marxistischen Klassenkampf überstiegen und die Kapitalismuskritik für obsolet erklärt. Es geht um mehr, es geht um eine creatio ex nihilo, in der die Toleranz nur der eigenen Meinung gegenüber gilt und jegliche Abweichungen als Phobien auch mit Gewalt bekämpft werden. Die Umwertung der Werte soll vollzogen werden, damit ausschließlich die eigenen Werte Maßstab jeglichen Denkens und Handelns darstellen. Diesem diktatorischen Meinungsterror gilt es, etwas entgegen zu setzen, diesem Robespierre´schen Meinungs- und Tugendterror. Wer könnte besser geeignet sein als die Kirche, sich dieser Meinungsdiktatur entgegen zu stemmen. Wir wollen deshalb mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller, dem vormaligen Präfekten der Glaubenskongregation und emeritierten Professor und jetzigen Honorarprofessor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität München, über die Aufgabe der Kirche sprechen, Einfluss auf das Bilden von Werten zu nehmen.

Lothar Rilinger: Bevor wir uns den politischen Aufgaben der Kirche zuwenden, lassen Sie uns über den Ursprung und das Wesen der Kirche sprechen. Die Kirche ist mehr als ein Geschöpf der Menschen, sie ist von Jesus Christus selbst eingesetzt worden. Das führt uns zu der Frage, was ist Sinn und Zweck der Kirche?

Kardinal Gerhard Müller: Martin Luther hat die Kirche eine creatura verbi genannt – ein Geschöpf des Wortes Gottes. Dem können wir Katholiken zustimmen, wenn es nicht beschränkt wird auf den Akt des Glaubens, in dem wir erfahren, dass wir lebendige Glieder am Leib Christi sind. Die Kirche besteht aus endlichen, sündigen und wankelmütigen Menschen, aber sie ist im Wesentlichen eine Stiftung Gottes – beginnend in der Sammlung des Gottesvolkes und endgültig durch die Menschwerdung Gottes und die pfingstliche Ausgießung des Heiligen Geistes. Jesus hat mit der Berufung seiner Apostel den historischen Kern der Kirche geschaffen und seine Kirche (Mt 16,18) als sichtbare Gemeinschaft der Gottesverehrung und der Nachfolge Christi, des Glaubensbekenntnisses und der Gnadenvermittlung begründet. Sie ist Haus und Volk Gottes, die Herde seiner Schafe, der Leib und die Braut Christi sowie der Tempel des Heiligen Geistes. Nur mit den vom Glauben erleuchteten Augen können wir in dem sichtbaren Gebilde ihre Gründung im universalen Heilswillen Gottes erkennen.

Von außen sehen die Nichtchristen nur eine religiöse Institution, die mit dem Evangelium eine schöne Botschaft predigt, aber im konkreten Verhalten ihrer Mitglieder und ihrer Repräsentanten nur eine mäßige, manchmal sogar nur eine Ärgernis erregende Performance ihrer Glaubwürdigkeit bietet.

Auch die Gläubigen wissen, dass die Kirche eine gemischte Gesellschaft ist aus Heiligen, insofern wir auf das Gnadenwirken Gottes schauen, und von Sündern, insofern wir im Blick auf uns schwache Menschen unser Versagen anerkennen müssen. „Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung. Die Kirche ‚schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes' (Augustinus) auf ihrem Pilgerweg dahin und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt.“ (II. Vatikanum, Lumen gentium 8).

Rilinger: Damit steht fest, dass die Kirche von ihrem Selbstverständnis her die Immanenz und die Transzendenz einschließt. Sie ist Werkzeug und Zeichen für die innigste Vereinigung der Menschen mit Gott, aber auch für die Einheit der ganzen Menschheit, wie es der belgische Theologe Gérard Philips zur Vorbereitung des Konzilsdekrets Lumen gentium vorgeschlagen hat. Damit werden die zwei Dimensionen der Kirche erfasst. Bedeutet dies, dass die Ethik, also das Erfahrungswissen, gleichberechtigt neben dem Glauben, also dem Offenbarungswissen, steht?

Müller: Es gibt eine Reihenfolge, die nicht umgekehrt werden kann. Die Gnade Gottes ist zuerst ein Gabe und dann auch eine Aufgabe. Erst kommt das neue Sein und dann das neue Handeln aufgrund des Sollens.

Aber das darf nicht als äußerliche Konsequenz angesehen werden, so dass der Christ nur legalistisch ein sachhaftes Gesetz befolgt. Wir folgen Jesus nach. Und die Gemeinschaft mit ihm, ja die neue Geschöpflichkeit, die uns auf Grund der Einheit mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn durch die Taufe und den Glauben (mit Hoffnung und Liebe) zuteil geworden ist – diese neue Geschöpflichkeit also, macht es möglich, dass wir in der Erfüllung der Gebote Gottes eins werden mit ihm in der Liebe.

Die Theologie beruht nur auf der Auslegung der Offenbarung, aber sie zieht dafür auch das Erfahrungswissen der Geistes,- Sozial- und Naturwissenschaften sowie die praktischen Regeln der gesunden Alltagslogik heran, um eine geistige und moralische Orientierung der Glaubenden in ihrer jeweiligen Welt und Epoche zu ermöglichen. Aber das Wort Gottes kann niemals der endlichen Vernunft eines geschaffenen Verstandes untergeordnet werden. Wenn sich, um ein Beispiel zu nehmen, unser Wissen über die kosmologische Entstehung unseres Kosmos im Verhältnis zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zur Zeit der Abfassung des Buches Genesis im Alten Testament auch unermesslich gewandelt hat, so ändert das nichts an unserem philosophischen und theologischen Wissen, dass alles, was existiert und was nicht Gott ist, sein Dasein und sein Sosein durch den Willen Gottes empfangen hat.


Rilinger: Da die Ethik Teil der Religion ist und die Kirche somit auch auf das Verhältnis der Menschen untereinander Einfluss nehmen muss, könnte deshalb der Kirche die Verpflichtung obliegen, sich in den politischen Diskurs einzuschalten. Ist sie hierzu verpflichtet und wenn ja, in welchem Umfang und auf welchem Gebiet soll sich die Kirche politisch engagieren?

Müller: In einem demokratischen Staat, in dem politische Parteien legitim um die Mehrheit kämpfen, kann sich die Kirche von ihrem Wesen her, den universalen Heilswillen Gottes zu verkünden und in den Sakramenten zu vermitteln, nicht in die Parteipolitik einmischen. Etwas anders ist das Engagement der Bürger aus ihrem christlichen Glauben heraus für das Gemeinwohl.

Aber die Kirche, gerade auch durch ihre höchsten Repräsentanten, dem Papst, den Bischöfen, den Geistlichen vor Ort, muss Stellung nehmen zu den Grundlagen jedes Gemeinwesens mit dem Bekenntnis zur unveräußerlichen Würde eines jeden einzelnen Menschen und zur Garantie der grundlegenden Menschenrechte wie die Rechte auf Leben, auf Freiheit des Gewissens und der Religion, um einige Beispiele zu nennen.

Sie darf aber nicht wie eine Lobbygruppe materielle Eigeninteressen vertreten – unabhängig von der Tatsache, dass die Kirche zur Erfüllung ihrer Sendung auch irdischer Güter bedarf.

Dem Staat kommt kein Recht zu, die Kirche – wie in den Säkularisationen – zu enteignen und dann die Bischöfe mit der staatlichen Besoldung von sich abhängig zu machen. Hier gibt es manche historische Verwerfung und manches ist zu korrigieren.

Rilinger: Die Kirche muss sich also zumindest durch Beratung in den politischen Diskurs einschalten. Erwächst hieraus die Verpflichtung, die Bildung von christlichen Werten vorzunehmen und zu versuchen, diese in der Gesellschaft zu verankern?

Müller: Ja, das ist eine große Aufgabe. Besonders in den katholischen Vereinen und Verbänden, der Erwachsenenbildung und den Universitäten ist der Ort für eine geistige, kulturelle und politische Bildung für Heranwachsende und Erwachsene.

Rilinger: Auf Grund unserer aufklärerischen Vorstellungen ist die Trennung von Kirche und Staat vollzogen, so dass die Kirche nicht mehr als Staatskirche angesehen werden kann. Sie ist aber gleichwohl existent und damit Teil der Gesellschaft. Die Kirche leidet unter einem Mitgliederschwund. Besteht deshalb die Gefahr, dass der Einfluss der kleiner werdenden Kirche im gesellschaftlichen Bereich und damit auch in der Politik schwindet?

Müller: Weder eine Staatskirche noch eine „theokratisch“ konzipierte Gesellschaft wie im Islam kann unser Modell sein. Unser demokratischer Staat ist übrigens kein Obrigkeitsstaat, der religiöse Aktivitäten reguliert. Er dient der Gesellschaft, die aus den einzelnen Personen mit ihren Grundrechten und ihrer individuellen und korporativen Religionsfreiheit besteht.

Der Einfluss des Evangeliums und der Lehre der Kirche auf die Gesellschaft kann nicht über die Autorität des Staates laufen, sondern über das Wahrheitsgewissen der Menschen. Das ist auch die Konzeption der Religionsfreiheit und damit auch der Freiheit der Kirche in einem modernen, demokratischen, auf den Menschenrechten gegründeten Staat – wie es das II. Vatikanische Konzil im Dekret über die Religionsfreiheit Dignitatis humanae (1965) formuliert hat.

Rilinger: Kann somit der Einfluss der Kirche auf die Politik unabhängig von der Größe der Kirche und der Anzahl ihrer Mitglieder gesehen werden?

Müller: In den Staaten des Westens ist die Mehrheit seit vielen Jahrhunderten christlich geprägt. Aber seit der Reformation gibt es dort auch wechselnden Mehrheiten und Minderheiten zwischen katholischen und protestantisch gewordenen Staaten mit all den Problemen der Diaspora.

Außerhalb Europas und Amerikas sowie Australiens gibt es, vor allem in Asien und Afrika, christliche Minderheiten in teils toleranten wie auch in teils aggressiv-kirchenfeindlichen nichtchristlichen Mehrheitskulturen. Wenn es sich um sehr aktive christliche Gemeinden handelte, vermochten sie einen bestimmten Einfluss auf das Menschenbild der sie umgebenden Gesellschaften auszuüben und zwar durch das Bewusstmachen, dass jeder einzelne Mitmensch über eine Würde verfügt und durch ihre karitative Einstellung. Man denke auch an Mutter Teresa und ihre Mitschwestern.

Rilinger: Um den Mitgliederschwund zu bremsen und um die Kirche wieder für mehr Gläubige attraktiv zu machen, ist es notwendig, diese einem Erneuerungsprozess zu unterziehen. Übereinstimmung herrscht zwar innerhalb der Kirche, dass eine Erneuerung vollzogen werden müsse, doch wie dieser Prozess ausgestaltet sein müsste, ist heftig umstritten. Joseph Ratzinger hat schon 1972 empfohlen, die Erneuerung der Kirche einzuleiten und hat deshalb in seinem Buch „Das neue Volk Gottes“ den Vorschlag unterbreitet, „dem reinen Bild des Ursprungs Geltung zu verschaffen“ und sich nicht der Modernisierung hinzugeben, denn in der Konkurrenz mit anderen Modernisierern werde die Kirche immer ins Hintertreffen geraten. Können Sie sich dieser Vorgabe anschließen?

Müller: Christ wird man im Innersten des Verstandes und Herzens durch den Glauben an Jesus, den Sohn Gottes und den Retter der Welt. Diesen Glauben können wir nicht modernisieren, d.h. verweltlichen. Aber wir können ihn in seiner Aktualität aufzeigen als das Vertrauen, das wir im Leben und Sterben allein auf Gott und nicht auf Menschen setzen.

Aber wir müssen auch die geistige Konzeption des Christentums mit dem modernen wissenschaftlichen Weltbild und der Gesellschaftsentwicklung in eine Synthese bringen oder falschen Tendenzen auch widersprechen. Den Sozialdarwinismus eines biologistischen Menschenbildes gab es nicht zu der Zeit Jesu. Zu Recht hat die Kirche gegenüber der angeblich wissenschaftlichen Rassenlehre des Nationalsozialismus und der kommunistischen Theorie von der Geschichte als Folge mörderischer Klassenkämpfe an der Wahrheit von der wahren Gleichheit und Solidarität aller Menschen als Geschöpfe Gottes festgehalten. Wir bejahen grundsätzlich alle Möglichkeiten der Medizin, den Menschen in ihren Leiden und Krankheiten zu helfen.

Aber wir bestehen bioethisch auf dem Grundsatz, dass der eine nicht auf Kosten des andern geheilt werden darf, wie es in der verbrauchenden Embryonenforschung praktiziert wird oder auch beim Handel mit Organen, wenn diese Menschen gegen deren Willen mit Gewalt entnommen werden, oder auch im Rahmen der Leihmutterschaft, wenn die Notlage von Frauen ausgenutzt wird, um ihren Körper für eine Leihmutterschaft – besser: „Mietmutterschaft“ – zu kaufen, um nur einige besonders verwerfliche Beispiele aufzuführen.

Rilinger: Besteht die Gefahr, dass, wenn sich die Kirche die Vorstellungen des mainstream zur Grundlage ihrer Erneuerung erkoren hat, sie ihren spirituellen Charakter verliert und sich dadurch ihrer eigentlichen Aufgabe als Werkzeug Gottes entledigt?

Müller: Der sogenannte „mainstream“ ist heute die Form, wie Ideologen die Weltgesellschaft geistig und moralisch gleichschalten, damit eine kleine Finanzelite die große verdummte Masse leichter lenken kann, und ihr dabei erfolgreich einredet, dass sie sich nach eigener Überzeugung hat entmündigen lassen.

Die Kirche ist – nach dem bekannten Philosophen der Frankfurter Schule Jürgen Habermas – mit ihrer Lehre und Liturgie in der säkularen Moderne „die Vergegenwärtigung einer starken Transzendenz und ein Pfahl im Fleisch einer Moderne, die dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgibt“ (Auch eine Geschichte der Philosophie Band 2, Suhrkamp 2019, 807). Die Kirche ist damit der letzte Hort der Freiheit gegenüber einer totalitären Gleichschaltung.

Rilinger: Wenn sich die Kirche auf der Grundlage ihrer Ursprünge erneuert und die Glaubensverkündigung in den Vordergrund ihres Engagements stellt, könnte sie dann wieder stärker in der Gesellschaft nicht nur wahrgenommen, sondern auch akzeptiert werden?

Müller: Der Weg zur gesellschaftlichen Bedeutung der Korporation der Kirche kann nur über die Überzeugungsarbeit des einzelnen gehen. Ein Fluss, der von seiner Quelle getrennt wird, ist zum Austrocknen verurteilt. Ein bloßes Kulturchristentum ohne den persönlichen Glauben an den dreifaltigen Gott, den Schöpfer, Erlöser und Versöhner, hat keine Zukunft.

Rilinger: Können Sie sich vorstellen, dass der Prozess einer schleichenden Entchristlichung unserer Gesellschaft durch das Beispiel der verbliebenen Mitglieder der Kirche gestoppt und ins Gegenteil verkehrt werden könnte?

Müller: Rein menschlich betrachtet ist das schwer vorstellbar. Aber bei Gott ist alles möglich und warum sollen sich die Menschen auf Dauer zum eigenen Schaden dem Evangelium seiner Liebe verschließen? Die Gnade ist nicht nur Gottes Gunst, sondern auch seine Kraft, die uns verändert und die resignierte Zyniker der Dekadenz in opferbereite Apostel der Frohen Botschaft verwandeln kann.

Rilinger: Grundlage der kirchlichen Verkündigung ist die Heilige Schrift und die Tradition. Die sich hieraus ergebenden Wahrheiten müssen verkündet werden. Wie stellen Sie sich eine Neuevangelisierung vor und wie meinen Sie, dass Sie wieder die Herzen der Menschen erreichen können, damit sie sich für das Wort Gottes öffnen?

Müller: Wir müssen lebendige Zeugen sein. Wer nicht überzeugt ist, kann auch andere nicht überzeugen. Aber wir können nur die Botschaft Christi verkünden und vorleben. Gott allein kann innerlich die Herzen berühren. Es steht nicht in menschlicher Macht, andere zur Hingabe ihres Herzens an Gott zu bewegen. Überreden mit klugen Worten und propagandistischen Tricks wäre ohnehin der Freiheit des Menschen unwürdig und hätte mit dem innerem Glauben des Herzens und dem dazu gehörenden äußeren Bekenntnis wenig zu tun (vgl. Röm 10, 9f).

Rilinger: Was für Möglichkeiten der Verkündung der Lehre Christi können Sie sich vorstellen, um die Herzen der Menschen zu erreichen?

Müller: Wie war es denn den Aposteln und den verachteten Christen der ersten drei Jahrhunderte gegenüber der griechisch-römischen Hochkultur gelungen, den Samen des Wortes Gottes und der Gnade Christi in die Herzen der einfachen Menschen und in den Kopf der Intellektuellen auszusäen? Sie konnten niemals, besonders nach dem Diokletianischen Totalvernichtungsprogramm, mit der Konstantinischen Wende rechnen – die allerdings auch das neue Problem der opportunistischen Massenbekehrung mit sich brachte. Die Zukunft kennt allein Gott, und er führt die Kirche auf ihrem Pilgerweg, von dem wir nur das Ziel, aber nicht die verschlungenen Pfade kennen. Wir können uns als Gottes Mitarbeiter zur Verfügung stellen durch ein echt christliches Leben, durch das Gebet und die geistige Überzeugungsarbeit, durch die Katechese für Heranwachsende und über die christliche Allgemeinbildung sowie durch die Spitzenleistungen großer Theologen wie Athanasius, Basilius der Große, Augustinus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Johann Adam Möhler, Matthias Jose Scheeben, John Henry Newman, Hans Urs von Balthasar... Man sagt: Die Heiligen retten die Kirche. Aber sowohl die sakramental vermittelte heiligmachende Gnade wie auch die heroische und spirituelle Heiligkeit der von der Kirche zur Ehre der Altäre erhobenen Mitchristen können ja von uns nicht organisiert werden, sondern sind die Frucht der Gnade, die wir demütig von Gott erbitten.

Rilinger: Der Mitgliederschwund wird auch finanzielle Konsequenzen haben. Die Kirche könnte zur armen Kirche werden. Halten Sie es für möglich, dass eine arme Kirche attraktiver für die verlorenen Schafe ist und sie deshalb wieder erstarken könnte?

Müller: Nicht per se. Wir können arme Kirche sein in dem Sinn, damit alle merken, dass die Kirche kein Geldinstitut ist, sondern dass die materiellen Güter nur Mittel zu einem höheren Zweck sind. Ein Priester bekommt eigentlich keine Vergütung für seine Dienste, sondern nur seinen Lebensunterhalt. Die eigentlichen Heilsgüter haben wir von Gott alle umsonst empfangen. Klar ist, dass auch ihre Weitergabe durch die Apostel und ihre Nachfolger gratis zu geschehen hat. „Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.“ (Mt 10, 8).

Rilinger: Ist die Zahlung eines Unterhaltsbeitrages eine conditio sine qua non für die Mitgliedschaft in der Kirche oder könnte auch die Mitgliedschaft für Gläubige möglich sein, die sich weigern, Unterhaltsbeiträge zu zahlen?

Müller: Die Bereitschaft, die Sendung der Kirche auch materiell mitzutragen, ist eine moralische Konsequenz aus unserem Christsein. Wie hoch der Beitrag ist, den der einzelnen erbringen zu können meint, bleibt seinem Gewissen überlassen – wie schon der hl. Petrus gegenüber Hananias und seiner Frau Saphira feststellte (vgl. Apg 5, 4). Es herrschte in der Urgemeinde keineswegs ein Zwangskommunismus. Für uns Katholiken gehört das öffentliche Bekenntnis zur sichtbaren Kirche als Sakraments- und Rechtsgemeinschaft dazu und ist die innere Bedingung der Zugehörigkeit zur realen Heilsgemeinschaft (vgl. Lumen gentium 8).

Leider gibt es auch Gründe, über den unsachgemäßen Umgang mit Kirchengütern und Spendengeldern verärgert und manchmal sogar entsetzt zu sein. Doch ist hier mit einer Abstellung der Missstände zu reagieren und nicht mit der völlig unkatholischen Trennung der Kirche in eine idealistisch-unsichtbare Gnadengemeinschaft und eine sichtbare Religionsorganisation. Die Kirche besteht nach der Analogie des Gott-menschlichen Mysteriums Christi in der sakramentalen Einheit von göttlichen und menschlichen Elementen. Und sie ist, was die Menschen in ihr betrifft, eine gemischte Gesellschaft aus Heiligen der Gnade und Sündern aus dem menschlichen Unvermögen nach. Erst beim Endgericht wird Gott die Spreu vom Weizen trennen. Uns bleibt nur die Mahnung: „Wer zu stehen meint, der sehe zu, dass er nicht falle.“ (1 Kor 10, 12).

Rilinger: Da wir nach der Aufklärung die Trennung von Staat und Kirche als konstituierende Grundlage für das Verhältnis von Staat und Kirche akzeptiert haben, gehören diese verschiedenen Welten an. Muss die Kirche diese Unterschiedlichkeit betonen und sich deshalb vermehrt auf ihre eigene Grundlage, die ja auf der Schrift und der Tradition fußt, beziehen und sich von der Welt zurückziehen, um ein Gegengewicht zur Welt bilden zu können? Muss diese Entweltlichung auch in den einzelnen Gläubigen vollzogen werden, so dass sie sich mit ihren Vorstellungen den religiösen Vorgaben annähern sollen?

Müller: Wir leben in dieser Welt, die Gott erschaffen hat, die aber unter der Last der Sünde aus den Fugen gerät, wenn sie seine Gnade verschmäht und vom Weg in der Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Herrn abweicht. Die Kirche darf sich nicht verweltlichen, um zu verhindern, dass das Salz schal wird und aus einem eschatologischen Zeichen der kommenden Welt ein Büro für innerweltliche Lebenshilfe wird. Christus ist nicht gekommen, um diese oder jene Verbesserung ins Weltgetriebe einzubauen, sondern um die Welt ein für alle Mal zum Guten zu führen, indem er sie zu einer neuen Schöpfung macht. „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern verwandelt euch durch die Erneuerung des Denkens, damit ihr prüfen könnt, was der Wille Gottes ist. Das Gute, das Wohlgefällige und Vollkommene.“ (Röm 12, 2).

Rilinger: Vielen Dank.

Archivfoto Kardinal Müller (c) Emmanuel du Bourg de Luzençon

 


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Lesermeinungen

 Ad Verbum Tuum 25. November 2020 

Vielen Dank allen Beteiligten

"Die Kirche ist damit der letzte Hort der Freiheit gegenüber einer totalitären Gleichschaltung." - darin läge heute wieder eine große Chance gehört zu werden. Alleine so viele Hirten sind lieber bequem und haben sich im Büro - "aus einem eschatologischen Zeichen der kommenden Welt ein Büro für innerweltliche Lebenshilfe wird" - kommod eingerichtet.
Seid wachsam, möchte man ihnen zurufen ....


1
 
 lesa 25. November 2020 

"Maria voll der Gnade" bittet für uns

Wieder so kraftvolle, dringend benötigte Orientierung durch Kardinal Müller! "Wir können uns als Gottes Mitarbeiter zur Verfügung stellen durch ein echt christliches Leben, durch das Gebet und die geistige Überzeugungsarbeit, durch die Katechese für Heranwachsende und über die christliche Allgemeinbildung sowie durch die Spitzenleistungen großer Theologen ... Man sagt: Die Heiligen retten die Kirche. Aber sowohl die sakramental vermittelte heiligmachende Gnade wie auch die heroische und spirituelle Heiligkeit der von der Kirche zur Ehre der Altäre erhobenen Mitchristen können ja von uns nicht organisiert werden, sondern sind die Frucht der Gnade, die wir demütig von Gott erbitten."
@Scotus: Danke für das Gebet von J.H. Newman!
"Das Böse wird enden, und der Friede wird in euren Herzen und in der Welt herrschen. Deshalb, meine lieben Kinder, betet, betet, betet! Ich bin mit euch und ich halte vor meinem Sohn Jesus Fürsprache für jeden von euch." (aus d. Botschaft der Gospa August 2020)


3
 
 17RoRo 25. November 2020 
 

Weise Worte!

Die weisen Worte, die wir so brauchen...


2
 
 Scotus 24. November 2020 

ta semeia tōn kairōn

Die Umwälzungen, die heute allerorts stattfinden, sind größer als zur Zeit der Säkularisierung, zur Zeit Josephs II. und der Französischen Revolution. Die heutige Politik ist das verheerende Experiment, das auf dem ganzen Planeten Institutionen und Überzeugungen, Ideologien und Religionen, Identitäten und Gemeinschaften zerstückt und entleert, um deren endgültig entwertete Form dann wieder neu vorzulegen.

Danke, Eminenz Müller, für das Erkennen der "Zeichen der Zeit" (vgl. Mt 16,3) und besonders für das Weiterreichen dieses Feuers, das nie erlischt. Beten wir daher mit John Henry Newman: "O Gott, die Zeit ist voller Bedrängnis, die Sache Christi liegt wie im Todeskampf. Und doch schritt Christus nie mächtiger durch die Erdenzeit, nie war sein Kommen deutlicher, nie seine Nähe spürbarer, nie sein Dienst köstlicher als jetzt. Darum lass uns im Anblick des Ewigen zwischen Sturm und Sturm in der Erdenzeit zu Dir beten: O Gott, Du kannst das Dunkel erleuchten, Du allein kannst es! Amen."


9
 
 Chris2 24. November 2020 
 

... selbst, wenn es brav Maske trägt

oder den Gläubigen "im vorauseilenden Gehorsam" sogar noch vor dem Staat die Hl. Messe raubt. Es gab Zeiten in der Kirche, in denen die Nachfolger Petri in ihrem Lebenesstil oder auch lehrmäßig "Grenzen ausgelotet" haben. Letzteres erleben wir leider gerade wieder, etwa bei der scheinbaren Aufweichung der Unauflöslichkeit der Ehe, die gleich drei Sakramente erschüttert hatte. Und alles stützte sich auf eine zustimmende Interviev-Äußerung von Franziskus über einen bischöflichen Kommentar zu einer Fußnote einer seiner Enzykliken. Zustände...


4
 

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