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Die Ost- und Westkirche – „Schwesterkirchen“ - Die Brüder Andreas und Petrus treffen sich

vor 3 Stunden in Chronik, 1 Lesermeinung
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Eine kleine kirchengeschichtliche Hinführung und Erklärung zur Geschichte und Gegenwart anlässlich des Treffens von Patriarch Bartholomaios I. und Papst Leo XIV. im November 2025. Von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer


Vatikan-Eichstätt (kath.net) 1. Teil: Trennungen und Wiederannäherungen im 1. Jahrtausend – Ein Weg der Missverständnisse und Enttäuschungen
Einleitung: Dynamiken der Entfremdung – und der Nähe
Wenn heute von der „Trennung der Kirchen“ die Rede ist, denken viele an das Jahr 1054 – als ob an einem einzigen Tag ein jahrhundertelanges Miteinander zerbrochen wäre. In Wirklichkeit war dieses sogenannte „Morgenländische Schisma“ kein Paukenschlag, sondern der Endpunkt eines langen Prozesses. Über Jahrhunderte hatten sich Unterschiede in Sprache, Kultur, Theologie und kirchlichem Selbstverständnis aufgebaut, die das Miteinander allmählich entfremdeten. Und doch war es kein geradliniger Zerfallsprozess, sondern ein Weg voller Schwankungen, gegenseitiger Einflüsse, Klärungen und auch wiederkehrender Annäherungen.

Im Osten herrschte eine synodale, vom Geist der Konzilien geprägte Theologie vor, tief verwurzelt in der griechischen Philosophie und Liturgie. Der Westen entwickelte zunehmend eine juristische Sprache und ein Verständnis von kirchlicher Einheit, das sich stärker am Primat des römischen Bischofs orientierte. Beide Seiten suchten auf ihre Weise, das Evangelium zu bewahren – und doch wuchsen in den Jahrhunderten Missverständnisse, die sich schließlich verfestigten.

I. Zwei Kulturen innerhalb einer Kirche
Als Kaiser Konstantin der Große im Jahr 330 seine neue Hauptstadt Konstantinopel als „Neues Rom“ gründete, verschoben sich Macht- und Kommunikationszentren. Nach der Reichsteilung 395 entwickelten sich Ost und West immer stärker auseinander – politisch, sprachlich und geistig. Der Osten sprach Griechisch, dachte philosophisch, und verstand Kirche und Reich als göttliche Symphonie; der Westen sprach Latein, war stärker rechtlich orientiert und sah in Rom die Hüterin der Einheit, auch gegenüber der weltlichen Macht.

Die unterschiedlichen Sprachen schufen bald auch unterschiedliche Denkweisen. Begriffe wie ousia (Wesen) und hypostasis (Person) auf griechischer Seite oder substantia und persona im Lateinischen ließen sich nicht eins zu eins übersetzen. Und was ursprünglich nur begriffliche Nuancen waren, führte bald zu theologischen Verschiebungen – etwa in der Trinitätslehre oder im Verständnis der Christusnatur. So entstanden aus Sprachunterschieden ganze Welten des Denkens.

II. Christologische Weichenstellungen
Die großen Konzilien des 5. Jahrhunderts gaben dem Glauben Gestalt – und zugleich entstanden neue Bruchlinien.

431 in Ephesus wurde gegen den Nestorianismus betont, dass Maria Theotokos, Gottesgebärerin, sei, um die ungeteilte personale Einheit Christi zu sichern. Damit setzte sich eine eher alexandrinische Sicht gegen den stärker rationalen Antiochenismus durch.
20 Jahre später formulierte das Konzil von Chalcedon (451) die berühmte Formel, Christus sei „in zwei Naturen, unvermischt und ungetrennt“. Diese Definition wollte eine Mitte zwischen den Extremen halten – und wurde doch von vielen Christen in Ägypten, Syrien und Armenien als unzureichend empfunden. Sie hielten an einer „mia-physitischen“ Sicht fest, nach der in Christus die göttliche und menschliche Natur untrennbar vereint sind. So entstanden die bis heute existierenden altorientalischen Kirchen – koptisch, syrisch, armenisch –, die zwar von Byzanz getrennt, aber keineswegs vom christlichen Glauben entfremdet waren.
Damit war bereits im 5. Jahrhundert klar: Die eine Kirche lebte in einer inneren Vielfalt, die theologisch, sprachlich und kulturell unterschiedliche Akzente setzte. Rom und Konstantinopel mussten ihre eigene Beziehung also stets inmitten einer komplexen, vielstimmigen Christenheit gestalten.

III. Vielfalt der Riten und kirchlichen Disziplin
Die Unterschiede zwischen Ost und West zeigten sich bald auch im Gottesdienst und in der Lebensform. Der Osten gebrauchte gesäuertes Brot in der Eucharistie, der Westen ungesäuertes; die Fastenregeln, der Zölibat, der Ort der Epiklese im Hochgebet – vieles war verschieden, ohne dass man es zunächst als Gegensatz empfand. Diese Verschiedenheit war Ausdruck der reichen consuetudo ecclesiarum, der legitimen Gewohnheiten der Kirchen.

Erst als politische Spannungen zunahmen, wurden liturgische Unterschiede zu Abgrenzungsmerkmalen. Was einst bunte Vielfalt war, erschien plötzlich als Zeichen mangelnder Rechtgläubigkeit. Damit begann ein Prozess, der nicht theologisch, sondern mentalitätsgeschichtlich zu verstehen ist: Die Differenz wurde zur Identität.

IV. Das Filioque – eine kleine Formel mit großer Wirkung
Ein Beispiel für wachsende Missverständnisse ist der Zusatz filioque („und vom Sohn“) im Glaubensbekenntnis. Ursprünglich im 6. Jahrhundert in Spanien gegen den Arianismus eingefügt, wollte er betonen, dass der Heilige Geist vom Vater „durch den Sohn“ ausgeht. Im Osten jedoch empfand man diese Ergänzung als unzulässige Veränderung des gemeinsamen Credos und als Gefahr für das trinitarische Gleichgewicht: Nur der Vater sei der Ursprung der Gottheit.

Das eigentliche Problem war weniger der theologische Inhalt als die kirchliche Kompetenzfrage: Darf ein Teil der Kirche eigenmächtig ein ökumenisches Symbol verändern? Der Westen bejahte, der Osten verneinte – und die Wunde blieb offen. So wurde eine theologische Nuance zu einem Symbol für die Frage nach Autorität und Einheit.

V. Wiederkehrende Risse und Heilungen
Zwischen dem 5. und dem 11. Jahrhundert wechselten Phasen der Entfremdung und der Wiederannäherung.
Das Henotikon Kaiser Zenons (482) versuchte, Chalcedon zu versöhnen, führte aber zum sogenannten acacianischen Schisma zwischen Rom und Konstantinopel. Erst 519 kam es zur Versöhnung – mit einer Formel, die den römischen Primat stark betonte.
Ähnlich ambivalent war das Trullanische Konzil (692), das zahlreiche disziplinäre Kanones erließ, die Rom nie formell bestätigte, aber weitgehend stillschweigend duldete.

Auch der Bilderstreit (8.–9. Jh.) zeigte die komplizierte Verflechtung von Politik und Theologie. Als die byzantinische Kirche die Verehrung der Ikonen verbot, stand Rom entschieden für sie ein. Das Zweite Konzil von Nizäa (787) beendete den Streit und brachte die Kirchen für einen Moment wieder näher.

Doch bald kam die „Bulgarienfrage“ (9. Jh.), in der sich Rom und Konstantinopel um die kirchliche Zuständigkeit stritten – ein Vorgeschmack auf spätere Missionskonflikte. Das sogenannte Photianische Schisma (863–880) schließlich, ausgelöst durch einen Patriarchenstreit und die Filioque-Kontroverse, konnte noch einmal überwunden werden. Das zeigt: Selbst tiefgreifende Konflikte führten damals noch nicht zur endgültigen Trennung. Die Communio war belastet, aber nicht zerbrochen.

VI. Tiefer liegende Spannungen
Unter der Oberfläche dieser Ereignisse standen zwei verschiedene ekklesiologische Grundhaltungen:
Der Westen verstand Einheit zunehmend als hierarchisch sichtbare Gemeinschaft unter dem Primat des Papstes; der Osten als spirituelle Gemeinschaft der Ortskirchen, geeint durch die Eucharistie und den Heiligen Geist. Beide Sichtweisen wurzeln in der apostolischen Überlieferung, doch sie gewannen unterschiedliche Akzente.

Hinzu kam die Frage der Rezeption: Ein Konzil galt nicht schon deshalb als gültig, weil es abgehalten wurde, sondern weil es vom ganzen Gottesvolk – durch Liturgie, Recht und Glaubenspraxis – angenommen wurde. Manche Einigungen wirkten erst nach Jahrhunderten. Andere scheiterten, weil die Herzen nicht vorbereitet waren.

VII. Das Jahr 1054 – Symbol und Missverständnis
Die berühmte Szene vom 16. Juli 1054 – als die päpstlichen Legaten in der Hagia Sophia eine Bannbulle niederlegten und Patriarch Michael Kerularios den Gegenbann verhängte – war keine bewusste „Spaltung“ im modernen Sinn. Papst Leo IX. war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben; die Legaten handelten also ohne gültiges Mandat. Die zeitgenössischen Christen empfanden den Vorgang eher als Episode in einer ohnehin spannungsreichen Beziehung, nicht als endgültige Trennung.

Erst spätere Ereignisse – besonders die Plünderung Konstantinopels durch Kreuzfahrer 1204 – gaben dem Jahr 1054 retrospektiv seine symbolische Schwere. So wurde aus einem politischen und persönlichen Konflikt ein kirchengeschichtliches Fanal. In Wahrheit blieb die kirchliche Communio auch danach in vielen Bereichen real: durch Gebet, Heiligenverehrung, gegenseitige Achtung und gemeinsame Erinnerung an das erste Jahrtausend.

VIII. Was das 1. Jahrtausend uns lehrt
Die Geschichte der Kirche im ersten Jahrtausend ist kein Drama des Scheiterns, sondern ein Lernweg. Aus Missverständnissen entstanden Klärungen, aus Trennungen wuchs neues Verständnis. Immer wieder zeigten sich Versöhnungsbereitschaft, Geduld und gegenseitige Anerkennung – auch wenn sie nicht dauerhaft institutionalisiert werden konnten.

Wahr ist: Die Communio wurde verwundet, aber nicht zerstört. Und wahr bleibt ebenso: Einheit wächst nicht durch Zwang, sondern durch geheiltes Gedächtnis. Wo Christen lernen, ihre eigene Geschichte nicht als Schuldregister, sondern als gemeinsame Pilgerreise zu lesen, da wird das erste Jahrtausend zur lebendigen Quelle – nicht der Nostalgie, sondern der Hoffnung.
Es erinnert uns daran, dass die Einheit der Kirche keine fertige Struktur, sondern ein Weg ist – ein Weg, der durch Missverständnisse hindurchführt, aber immer wieder zur Begegnung zurückfindet: wie die Brüder Andreas und Petrus, die einander nie fremd geworden sind, auch wenn sie sich lange nicht gesehen haben.

2. Teil: Was war 1054 „wirklich“ – und warum sind historische Missverständnisse so nachhaltig?
Einleitung: Das Schisma als Symbol – nicht als Ereignis
Wenn heute vom „Morgenländischen Schisma“ gesprochen wird, entsteht rasch das Bild eines dramatischen Augenblicks, in dem die eine Kirche in zwei Hälften zerbrach: der Westen unter Rom und der Osten unter Konstantinopel. Diese Vorstellung ist eingängig, doch sie greift zu kurz. Was im Jahr 1054 geschah, war kein formaler Bruch der Kirchengemeinschaft, sondern ein symbolisch aufgeladener Konflikt – ein „Ritual der Entfremdung“, dessen Gewicht erst Jahrhunderte später erkannt, ja überhöht wurde.

In Wahrheit war 1054 ein Knotenpunkt vieler Missverständnisse, ein Moment, in dem politische Machtfragen, liturgische Eigenheiten und persönliche Empfindlichkeiten ineinandergriffen. Die damaligen Akteure selbst – weder die päpstlichen Gesandten noch der Patriarch von Konstantinopel – sahen in ihrem Handeln das Ende der Einheit. Erst das spätere Gedächtnis der Kirche, vor allem nach 1204, machte aus dieser Episode den Gründungsmythos der Trennung.


I. Die Konstellation von 1054: Politik, Ritus, Macht und Misstrauen
1. Zwei Ekklesiologien im Schatten der Politik
Die Mitte des 11. Jahrhunderts war eine Zeit intensiver Umbrüche. Im Westen hatte die gregorianische Reformbewegung begonnen, das Papsttum zu stärken und von weltlicher Einflussnahme zu befreien. Papst Leo IX., ein Vertreter dieser Reformrichtung, verstand den Primat Roms zunehmend auch als juristische Autorität über die Gesamtkirche.

Im Osten hingegen dominierte unter Kaiser Konstantin IX. Monomachos eine Politik, die das byzantinische Ideal der Symphonia zwischen Kaiser und Kirche erneuern wollte. Patriarch Michael Kerularios, energisch und stolz, verteidigte die Autonomie des Ostens gegenüber römischer Einmischung.

In diese Gemengelage fiel ein Streit über eher nebensächliche, aber symbolisch aufgeladene Themen: der Gebrauch ungesäuerten Brotes in der lateinischen Liturgie, die Priesterheirat, der päpstliche Anspruch auf Süditalien. Was zunächst Fragen liturgischer Disziplin waren, geriet rasch in das Zentrum eines Machtkampfes. Rom wollte Ordnung schaffen, Konstantinopel Souveränität wahren. Beide Seiten handelten aus eigener Logik – und beide missverstanden die Motive des anderen.

2. Der dramatische 16. Juli 1054
Als Kardinal Humbert von Silva Candida, Leiter der römischen Gesandtschaft, am 16. Juli 1054 während der Liturgie in der Hagia Sophia eine Bannbulle auf den Altar legte, geschah dies im Namen eines Papstes, der bereits tot war: Leo IX. war zwei Monate zuvor verstorben. Damit war die Vollmacht der Legaten erloschen; ihr Akt war also kirchenrechtlich ohne Wirkung.

Patriarch Kerularios reagierte empört – und verhängte seinerseits den Bann über die Legaten. Doch weder Humbert noch Kerularios begriffen die Tragweite ihres Tuns. Zeitgenössische Chronisten wie Michael Psellos berichten von Aufregung, aber nicht von einer Spaltung. Der Bann galt einigen Personen, nicht der ganzen Kirche. Niemand sprach vom Ende der Communio. Erst später wurde diese Szene zur Ikone einer „Scheidung“, die damals niemand beabsichtigte.

II. Was wurde wirklich exkommuniziert? – Eine kanonische Klärung
1. Die personenbezogene Strafe zur Heilung
In der kirchenrechtlichen Tradition ist die Exkommunikation eine persönliche, nicht eine kollektive Maßnahme. Sie richtet sich gegen bestimmte Personen, nicht gegen Gemeinschaften. Sie ist eine poena medicinalis – eine heilsame Zuchtmaßnahme, die Umkehr und Versöhnung ermöglichen soll.

Weder das byzantinische Kirchenrecht noch das westliche Recht kennt die Möglichkeit, eine ganze Kirche zu exkommunizieren. Eine solche Sanktion wäre widersinnig, da die Kirche als Leib Christi nicht in sich selbst getrennt werden kann. Zudem endet jede Zensur mit dem Tod der Betroffenen. Eine „ewige Exkommunikation“ ist daher theologisch wie juristisch unmöglich.

2. Konsequenzen für 1054
Wenn man also das Ereignis von 1054 unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, ergibt sich ein erstaunliches Bild: Selbst wenn Humberts Bannbulle gültig gewesen wäre – was sie nicht war –, hätte sie nur die damals lebenden Personen getroffen. Mit deren Tod erlosch die Wirkung von selbst.

Diese nüchterne Erkenntnis erklärt, warum 1965 Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras I. die „Erinnerung an die Anathemen“ tilgten, aber keine „Aufhebung der Exkommunikation“ vornahmen. Es war kein juristischer Akt, sondern eine symbolische Geste der Heilung – die Reinigung des Gedächtnisses von einem Missverständnis, das über Jahrhunderte zu einer Wunde geworden war.

III. Warum das Missverständnis blieb: Die Macht der Erinnerung
Geschichte lebt nicht nur von Fakten, sondern auch von Erinnerungen – und von der Art, wie sie erzählt werden. Das Jahr 1054 ist ein Lehrbeispiel für die Dynamik kirchlicher Gedächtnisbildung. Vier Kräfte wirkten dabei zusammen:
1. Symbolverdichtung
Je komplexer ein Prozess ist, desto stärker sucht das Gedächtnis nach einem klaren Datum, an dem sich alles festmachen lässt. 1054 wurde zum erzählerischen Fixpunkt eines langen Entfremdungsprozesses – ein didaktisch brauchbares Symbol für eine diffuse Entwicklung.
2. Gedächtnispolitik nach 1204
Die Plünderung Konstantinopels durch Kreuzfahrer im Jahr 1204 brannte sich tief in das Bewusstsein der Orthodoxie ein. Die Errichtung eines lateinischen Patriarchats auf byzantinischem Boden war eine Demütigung, die das Misstrauen gegen den Westen über Jahrhunderte festigte. Von da an erschien 1054 als „Ursünde“ dieser Katastrophe – als Beginn eines Leidens, das erst 1965 symbolisch gelindert wurde.
3. Lehr- und Sprachgrenzen
Die dogmatischen Differenzen – etwa das Filioque, das Verständnis des Primats oder die liturgischen Formen – wurden zu identitätsstiftenden Merkmalen. Sie machten aus der faktischen Distanz eine theologisch begründete. Was ursprünglich nur verschiedene Akzente waren, wurde als Gegensatz wahrgenommen.
4. Populäre Verkürzungen
Schließlich trug auch die Sprache dazu bei: Man sprach von der „Exkommunikation der Griechen“ oder der „Trennung der Kirche“, obwohl beides juristisch sinnlos ist. Die Komplexität kirchlicher Rechtsbegriffe wurde durch emotionale Bilder ersetzt. So verfestigte sich in der Frömmigkeit und Geschichtsschreibung eine Vorstellung, die sich bis heute schwer auflösen lässt.

IV. Vom historischen Ereignis zur symbolischen Chiffre
1. Das Nachleben des Datums
Erst die mittelalterlichen Chronisten des 12. und 13. Jahrhunderts machten 1054 zur Epochengrenze. Der Westen sprach vom „Abfall der Griechen“, der Osten vom „Abfall der Lateiner“. Dabei blieb der Kontakt über lange Zeit bestehen: Pilger, Händler, Mönche und Gesandtschaften überquerten weiterhin die Grenzen, Gebete und liturgische Texte zirkulierten in beide Richtungen.
Doch mit der Eroberung Konstantinopels (1204) wurde diese Beziehung endgültig vergiftet. Das lateinische Patriarchat (1205–1261) war nicht nur eine politische, sondern eine seelische Besatzung. Seitdem stand 1054 am Anfang einer Geschichte der Verletzungen – wie ein Symbolstein, an dem sich das kollektive Gedächtnis immer neu entzündete.
2. Theologische Mythisierung
Im Westen wurde das „Schisma der Griechen“ bald zu einem theologischen Argument: ein Beweis für die „Sturheit“ des Ostens. Im Osten wiederum galt Rom als Inbegriff westlicher Arroganz. So entstand eine gegenseitige Mythisierung, die mehr über Ängste als über Glaubensinhalte aussagte. Das Missverständnis von 1054 verwandelte sich in eine theologische Trennwand.

V. Erinnerung und Heilung: Vom Bann zur Umarmung
Im 20. Jahrhundert wurde erkannt, dass Einheit nicht durch neue Dogmen entsteht, sondern durch Versöhnung der Herzen. Die Geste von 1965 – Paul VI. und Athenagoras I., Rom und das Phanar, die Tilgung der Anathemen – war darum mehr als ein ökumenisches Protokoll. Sie war ein geistliches Sakrament der Erinnerung.
Diese Begegnung, begleitet von Gebet und Tränen, verwandelte ein juristisches Missverständnis in ein Zeichen der Liebe. Der orthodoxe Theologe Ioannis Zizioulas nannte sie später „eine Liturgie des Herzens“. Damit begann eine neue Phase: Nicht der Bann, sondern die Umarmung wurde zum Symbol des 20. Jahrhunderts.

VI. Schluss: Das Schisma als Lehrstück der Communio
Das Jahr 1054 bleibt ein Mahnmal – aber kein Dogma. Es erinnert daran, dass Spaltungen nicht plötzlich entstehen, sondern wachsen, wenn Kommunikation abreißt und Vertrauen schwindet. Die Akteure jener Zeit waren Menschen ihrer Epoche, gebunden an Stolz, an Machtverhältnisse, an die Begrenztheit ihrer Perspektiven.

Doch die Kirche als Ganzes blieb eine: verwundet, aber nicht vernichtet. Wer 1054 in diesem Licht sieht, erkennt, dass Einheit nicht in Uniformität liegt, sondern in der geheilten Erinnerung. Wo Missverständnisse benannt und Trennungen vergeben werden, da wächst Communio.

Darum ist 1054 kein Datum des Endes, sondern ein Spiegel für das, was Kirche immer neu lernen muss: dass Liebe größer ist als Bann, dass Wahrheit ohne Demut keine Einheit schafft, und dass die Geschichte des Leibes Christi – trotz aller Narben – eine Geschichte des Heilens bleibt.

3. Teil: Wie ging es zwischen Ost und West weiter?
Einleitung: Von der Wunde zum Weg – Dynamiken seit 1204
Wenn man die Geschichte der Trennung zwischen Ost und West auf ein einziges Jahr fixiert, verfehlt man ihr inneres Drama. Das oft genannte Datum 1054 steht nicht für eine endgültige Spaltung, sondern für einen symbolisch aufgeladenen Konflikt. Die eigentliche, dauerhafte Verhärtung setzte 1204 ein: Die Eroberung und Plünderung Konstantinopels durch ein Kreuzfahrerheer, die Errichtung eines lateinischen Patriarchats im Herzen der orthodoxen Welt und die damit verbundene Demütigung schrieben sich in das Gedächtnis der Ostkirche ein. Fortan wurden ältere Konflikte rückprojiziert; 1054 gewann rückblickend das Gewicht eines „Ursprungsdatums“.

Die späteren Unionsversuche von Lyon (1274) und Florenz (1439) waren ernsthafte Bemühungen, die rissenüberlagerte Communio zu heilen. Aber sie blieben in weiten Teilen diplomatisch und erreichten die Herzen der Gläubigen kaum. Die Texte wurden an hochrangigen Orten formuliert; ihre Rezeption – also die praktische Annahme im kirchlichen Leben – blieb unzureichend. So setzte sich in beiden Kirchen eine Kultur der Distanz fest, die mehr von verletzter Erinnerung als von aktueller Gegnerschaft lebte.

I. Jahrhunderte der Distanz – und erste Brücken (1453–1918)
Mit dem Fall Konstantinopels 1453 traten neue politische und kirchliche Ordnungen in Kraft. Im osmanischen „Millet-System“ erhielt die Orthodoxie einen geschützten, aber begrenzten Raum. Der Westen war unterdessen von Reformation, Konfessionskriegen und Gegenreformation geprägt; die Aufmerksamkeit für den Osten blieb sporadisch. Man kann diese Epoche nicht einfach als „Schweigen“ beschreiben, doch es herrschte eine getrennte Entwicklung: Unterschiedliche politische Rahmenbedingungen, Sprachen, Theologieschulen und liturgische Kulturen prägten Christenheit und Kirchen auf je eigene Weise.

Gleichzeitig öffneten sich immer wieder kleine Fenster. Das 19. Jahrhundert entdeckte die Kirchenväter neu; ökumenische Sammlungen, Übersetzungen und die wachsende liturgische Bewegung weckten im Westen Respekt für die geistliche Tiefe und Schönheit der östlichen Liturgien. In Rom und anderswo entstanden Ost-Kollegien – Ausbildungsstätten, die ausdrücklich zum gegenseitigen Verständnis beitrugen.

Ein echter Tonwechsel erfolgte mit der Konstantinopler Enzyklika von 1920, die sich „an alle Kirchen Christi“ richtete. Dieser Text war weniger ein detailliertes Programm als vielmehr eine neue Sprache: Christen seien „nicht länger Fremde, sondern Verwandte und Brüder“. Damit schlug die orthodoxe Erstkirche einen Ton an, der das spätere Gespräch erst möglich machte: Keine Abgrenzung, sondern Einladung; keine Unterwerfung, sondern Geschwisterlichkeit.

II. Ein neuer Anfang im 20. Jahrhundert
Die beiden Weltkriege hinterließen tiefe Wunden. Sie brachten aber auch die Einsicht, dass zersplittertes Christentum seiner Sendung in einer verwundeten Welt nicht gerecht wird. 1948 trat in Amsterdam die Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen zusammen – mit aktiver Beteiligung orthodoxer Kirchen. Das Anliegen verschob sich: Nicht der Vergleich der Systeme stand im Vordergrund, sondern das gemeinsame christliche Zeugnis in einer Zeit der Schuld, der Flucht und des Wiederaufbaus.

In der katholischen Kirche leitete das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) einen Paradigmenwechsel ein. Papst Johannes XXIII. und später Paul VI. prägten ein Verständnis von Dialog als Grundhaltung kirchlicher Existens. Die Enzyklika Ecclesiam suam (1964) beschrieb den Dialog nicht als Taktik, sondern als Ausdruck von Liebe und Wahrheit; das Konzilsdekret Unitatis redintegratio (1964) machte die Einheit der Christen zur Aufgabe, die im Gebet beginnt, in gegenseitiger Anerkennung wächst und in lehrmäßiger Klärung zur Reife kommt. Damit war die Ökumene nicht länger Randthema, sondern Herzensanliegen.

III. Von der Geste zur Struktur – der Rahmen seit 1964
Die entscheidende Bewegung der modernen Ökumene begann nicht mit neuen Definitionen, sondern mit Zeichen. 1964 umarmten sich Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras I. in Jerusalem. Es war eine schlichte Geste – kein Lehrsatz –, und doch transformierte sie das Gedächtnis. Ein Jahr später, am 7. Dezember 1965, wurde in Rom und im Phanar synchron eine Erklärung verlesen, die die gegenseitigen Anathemen von 1054 „aus dem Gedächtnis der Kirche“ tilgte. Wichtig ist: Exkommunikation ist im kirchlichen Denken personal und heilend gemeint; sie richtet sich nie gegen „eine Kirche als Ganze“ und erlischt mit dem Tod der Betroffenen. 1965 „hob“ daher nichts juristisch auf, sondern reinigte das Gedächtnis – eine geistliche Operation, keine juristische Volte.

Aus den Gesten wuchsen Strukturen. Seit 1979 arbeitet die Gemeinsame Internationale Kommission für den theologischen Dialog kontinuierlich. Ihre wichtigsten Stationen lassen sich – ohne Fachjargon – so zusammenfassen:
•    Kirche und Eucharistie: Einheit zeigt sich zuerst und am stärksten in der Feier des Glaubens.
•    Communio-Ekklesiologie: Kirche ist nicht ein Apparat, sondern Gemeinschaft, die im Heiligen Geist lebt und sich synodal ordnet.
•    Synodalität und Primat (Ravenna): Leitung ist ein Dienst an der Communio – von der Ortsgemeinde bis zur Weltkirche; synodale Mitwirkung und ein dienender Primat sind nicht Gegensätze, sondern aufeinander bezogen.
•    Blick auf das 1. Jahrtausend (Chieti): Hier lebten Ost und West trotz Krisen in Communio; die damaligen Praktiken sind keine Blaupause, aber eine Hermeneutik – ein Deutungsrahmen.
•    Das 2. Jahrtausend neu lesen (Alexandria): Gemeinsames Verstehen geht jeder Entscheidung voraus; nur was von den Kirchen angenommen wird, trägt dauerhaft.

Diese Texte sind keine fertigen Urteile, sondern ein theologisches Geländer: Sie ermöglichen, die wirklich strittigen Punkte sachlich zu verhandeln, ohne die Beziehung zu beschädigen.

IV. Schwieriges Erbe: Was „Uniatismus“ lehrt
Unter „Uniatismus“ versteht man historische Strategien, mit denen orthodoxe Gläubige – oft in Konfliktlagen – Teilkirchen in Gemeinschaft mit Rom bildeten (die mit Rom unierten Ostkirchen). Diese Kirchen haben eine eigene liturgische und geistliche Tradition, die sie bewahrt haben und bewahren. Zugleich aber hat die Entstehung solcher Strukturen an manchen Orten einen bleibenden Misstrauensspeicher erzeugt.

Das Dokument von Balamand (1993) brachte an dieser Stelle eine klärende Doppelaussage: Erstens haben die katholischen Ostkirchen ein Existenzrecht und verdienen Respekt. Zweitens ist „Uniatismus“ als Methode der Einheit – also das Anwerben oder Überlagern paralleler Strukturen – kein Weg der heutigen Ökumene. Die praktischen Konsequenzen sind einfach: Fairness in Kontaktzonen, Verzicht auf Proselytismus, Schutz gewachsener Pastoralräume und eine Kultur der Kooperation.

V. Neue Spannungen – und die Bewährungsprobe der Ökumene
Die jüngere Vergangenheit zeigt, wie sehr Kirchen durch politische Erschütterungen unter Druck geraten. 2016 trafen sich in Havanna Papst Franziskus und Patriarch Kyrill: Sie betonten Respekt, warnten vor Proselytismus und versuchten, im Blick auf die Ukraine Brücken zu bauen. 2018 kam es nach dem Weg zur Autocephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine zu einem schweren Bruch innerhalb der orthodoxen Familie: Die Russische Orthodoxe Kirche unterbrach die eucharistische Gemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat. Seit 2022 belasten Krieg und die Debatten um das Narrativ der „Russischen Welt“ die ökumenische Szene zusätzlich.

Für den katholisch-orthodoxen Dialog bedeutet das: Wo die innerorthodoxe Communio leidet, schwindet die Symmetrie im bilateralen Gespräch. Umso wichtiger wurden die stabilen Referenzen – die Dialogtexte, die Brudergesten, das gemeinsame Gebet. Sie verhindern, dass Tagespolitik den geistlichen Grundsatz überlagert: Einheit wächst aus gereinigter Erinnerung, nicht aus kurzfristigen Arrangements.

VI. Leitlinien für den weiteren Weg
Was bleibt, ist kein „Plan mit Datum“, sondern eine Haltung: Dialog der Liebe öffnet die Türen, Dialog der Wahrheit klärt die Fragen; Synodalität und Primat gehören zusammen; Rezeption ist wichtiger als bloße Beschlussproduktion. Die Geschichte lehrt uns, dass Einheit nicht durch Druck, sondern durch Geduld, Wahrhaftigkeit und gelebte Nähe reift.

Schluss: Verwundet – aber nicht verloren
Seit 1204 trägt die Kirche Wunden, und doch ist die Sehnsucht nach Communio nicht erloschen. Die vielen Gespräche, Texte und Zeichen sind kein diplomatisches Feuilleton, sondern Ausdruck eines geistlichen Ernstes. Wo die Kirche sich vom Geist leiten lässt, wachsen Verständnis, Vertrauen und Bereitschaft zur Umkehr; wo Stolz oder Politik dominieren, schrumpft der Raum der Gnade. Die Aufgabe unserer Zeit lässt sich schlicht formulieren: Gedächtnis heilen, Strukturen klären, Zeugnis geben. So wird sichtbar, dass das Band der Liebe stärker ist als jede Trennung – und dass die Brüder Andreas und Petrus ihren Weg zueinander nicht aufgegeben haben.
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4. Teil: Ein hoffnungsvoller Neuanfang mit Athenagoras I. und Paul VI. – bis heute
Einleitung: Von der „Tilgung der Erinnerung“ zur Kultur der Nähe

Ökumene ist eine Schule der Geduld. Sie beginnt selten mit großen Schlagzeilen oder fertigen Lehrsätzen, sondern mit kleinen, glaubwürdigen Gesten: eine Umarmung, ein gemeinsames Gebet, ein ehrlich gesprochenes Wort. Genau so setzte die moderne Annäherung zwischen Rom und Konstantinopel ein. Jerusalem 1964 – die Umarmung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras I. – und Rom/Phanar 1965 – die gleichzeitige Verlesung der Erklärung, die die gegenseitigen Bannformeln von 1054 „aus dem Gedächtnis der Kirche“ entfernte – wurden zu Wegmarken. Diese Zeichen schufen einen Raum des Vertrauens, in dem man über die schwierigen Themen sprechen konnte: Synodalität (das gemeinsame Beraten und Entscheiden), Primat (der Dienst des Bischofs von Rom an der Einheit), Rezeption (die Annahme von Beschlüssen im Leben der Kirche) und das Filioque (eine seit Langem verschieden formulierte Aussage über das Verhältnis des Heiligen Geistes zum Vater und zum Sohn). Die Reihenfolge war wichtig: Zuerst Nähe, dann Klärung. Aus der „Ökumene der Liebe“ wuchs allmählich der belastbare „Dialog der Wahrheit“.

I. Jerusalem 1964 – die Grammatik der Nähe
Die Pilgerreise von Paul VI. ins Heilige Land (3.–6. Januar 1964) war vor allem ein geistlicher Weg. Und doch geschah dort Geschichte: Auf dem Ölberg standen sich zwei Kirchenoberhäupter gegenüber, die über Jahrhunderte vor allem übereinander geredet hatten. Nun schauten sie sich an, reichten einander die Hand, küssten sich brüderlich, beteten gemeinsam das Vaterunser.
Man könnte sagen: Es war eine kleine Liturgie der Nähe. Kein Dekret, keine dogmatische Formel, kein langer Text – und gerade deshalb so stark. In wenigen Minuten geschah, was ganze Bibliotheken an Polemik nicht vermocht hatten: Die Erinnerung wurde verwandelt. Wer den anderen nicht als Gegner, sondern als Bruder vor Gott sieht, kann über den Schatten der eigenen Geschichte springen. Diese Begegnung gab der Ökumene eine Grammatik: erst das menschlich Glaubwürdige, dann das theologisch Notwendige. Erst Blickkontakt, dann Begriffsklärung.

II. 7. Dezember 1965 – Liturgie der Versöhnung
Ein Jahr später, am Rande der letzten Konzilssitzungen in Rom, geschah der zweite Schritt. Gleichzeitig in der Petersbasilika und im Phanar in Konstantinopel wurde eine Gemeinsame Erklärung verlesen. Sie behauptete nicht, man könne eine halbe Jahrtausendgeschichte in einer Stunde „richten“. Sie tat etwas Bescheideneres und zugleich Größeres: Sie reinigte das Gedächtnis von Worten und Gesten, die sich im Jahr 1054 Menschen miteinander zugefügt hatten.

Wichtig ist der sachliche Kern: Exkommunikation in der Kirche ist eine personale Maßnahme – gedacht als heilende Zurechtweisung –, sie gilt nie einer „Kirche als Ganzes“ und endet mit dem Tod der Betroffenen. Also gab es 1965 nichts „juristisch aufzuheben“. Aber es gab etwas Tieferes zu tun: die Erinnerung heilen. Genau das geschah. Diese Zurückhaltung war keine Schwäche, sondern Weisheit. Man überforderte niemanden, man zwang nichts. Man machte Platz für Nähe, ohne die Wahrheit unter den Teppich zu kehren.

III. Von der Geste zur Struktur – wie Nähe tragfähig wird
Gesten berühren das Herz. Damit sie bleiben, brauchen sie Form. 1967 besuchten sich Paul VI. und Athenagoras I. gegenseitig – in Rom und im Phanar. Aus der Ikone von 1964 wurde eine Praxis: Briefe, Delegationen, gemeinsame Gebete. Danach folgte der Schritt zur Struktur.

1979 gaben Papst Johannes Paul II. und Patriarch Demetrios I. dem theologischen Dialog ein dauerhaftes Mandat: die Gemeinsame Internationale Kommission. Seitdem wächst – langsam, verlässlich – eine gemeinsame Fachsprache. Sie deckt Konflikte nicht zu, sondern macht sie verhandelbar. Vier Stichworte umreißen, worum es geht:
•    Synodalität: Kirche ist kein Ein-Mann-Betrieb. Sie atmet, wenn Bischöfe, Priester, Diakone und Gläubige gemeinsam hören und unterscheiden.
•    Primat: Einheit braucht einen Dienst der Sammlung. Der Bischof von Rom hat in der katholischen Sicht diesen Dienst; die Frage ist, wie er ihn so ausübt, dass er auch von der orthodoxen Seite als Dienst an der Communio verstanden werden kann.
•    Rezeption: Nicht der Beschluss allein, sondern seine Annahme und Bewährung im Leben der Kirche lässt Einheit wachsen.
Drei Dialogdokumente helfen, das zu sortieren: Ravenna (2007) zeigte, dass Synodalität und Primat zusammengehören – auf der Ebene der Ortskirche, der Region und der Weltkirche. Chieti (2016) erinnerte an das 1. Jahrtausend: Damals lebten Ost und West trotz Krisen in Communio; daraus lässt sich heute lernen, ohne mechanisch zu kopieren. Alexandria (2023) nahm das 2. Jahrtausend unter die Lupe – Reformation, Nationalkirchen, Moderne – und betonte: Rezeption ist die „zweite Synodalität“; Einheit reift, wenn Beschlüsse gelebt werden.

IV. „Theologie der Dinge“ – wie Materielles Herzen bewegt
Manches heilt schneller, wenn man es berühren kann. Am 27. November 2004 gab Johannes Paul II. Reliquien der Heiligen Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomos an das Ökumenische Patriarchat zurück. Was 1204 als Raub begann, wurde 700 Jahre später zur Geste der Heilung. Solche „Sakramente der Geschichte“ predigen ohne Worte. Sie sagen: Wir schulden einander Respekt. Wir wollen gutmachen, was verletzte.

Ähnlich wichtig sind die Regelmäßigkeiten: Jedes Jahr zum Fest Peter und Paul (29. Juni) kommt eine Delegation aus Konstantinopel nach Rom; zum Fest des heiligen Andreas (30. November) geht eine römische Delegation ins Phanar. Diese Besuche sind kein höfisches Theater. Sie sind der Atemrhythmus der Schwesterkirchen. In stürmischen Zeiten hält dieser Rhythmus das Band gespannt – er verhindert, dass es reißt.

V. Benedikt XVI. und Bartholomaios I. (2006–2012) – Vertrauen durch Klarheit
Die Begegnungen zwischen Benedikt XVI. und Patriarch Bartholomaios I. zeigten, wie Nähe und Wahrheit sich gegenseitig stützen. Man stand gemeinsam ein für Religionsfreiheit, Frieden und Dialog – Themen, die Christen glaubwürdig nur miteinander vertreten können. Zugleich benannte man ruhig, was (noch) nicht geht – zum Beispiel die Interkommunion. Das lernte die Öffentlichkeit: Zuneigung relativiert Wahrheit nicht. Im Gegenteil: Nur dort, wo man einander wohlwollend begegnet, kann man sensible Fragen ohne Polemik aussprechen.

VI. Franziskus und Bartholomaios I. (seit 2013) – Freundschaft als Stil
Mit Papst Franziskus bekam die Ökumene einen Ton, den viele Menschen sofort verstehen: Freundschaft. Jerusalem 2014 – fünfzig Jahre nach 1964 – war mehr als ein Jahrestag; es war eine Erinnerung an die Quelle. Lesbos 2016, die gemeinsame Reise mit Erzbischof Hieronymos, brachte etwas Entscheidendes ins Spiel: Ökumene ad extra. Man betete nicht nur miteinander, man half gemeinsam – den Geflüchteten, den Schwächsten. Das Friedensgebet im Vatikanischen Garten – 2014 und in geistlicher Erinnerung 2024 – wirkte wie ein Gegenbild zu den zerrissenen Nachrichtenbildern: Wo die Welt lauter wird, hält gemeinsames Gebet die Türen offen. Freundschaft ersetzt Theologie nicht, aber sie ist ihr Humus: Auf freundlichem Boden wachsen gute Gespräche.

VII. „Balamand“ (1993) – Fairness als Pflicht
Ein sensibles Thema ist und bleibt der sogenannte Uniatismus – also historische Wege, auf denen orthodoxe Gläubige mit Rom unierte Ostkirchen bildeten. Das hat an manchen Orten Verletzungen hinterlassen. Das Dokument von Balamand zieht darum eine klare Linie: Diese Ostkirchen existieren rechtmäßig und verdienen Respekt; Uniatismus als Methode – also Abwerbung oder Parallelstrukturen – ist kein Weg zur Einheit. Praktisch heißt das: kein Proselytismus, Respekt in gemischten Gebieten, Schutz der liturgischen Sprachen und Riten. Besonders in Krisenregionen – etwa in der Ukraine – hilft dieser Rahmen, Emotionen zu mäßigen und Menschen im Blick zu behalten, nicht Systeme.

VIII. Orthodoxe Binnenkrisen seit 2018 – die Schwerkraft der Geschichte
Die orthodoxe Welt ist seit 2018 durch den Streit um die Autocephalie (Eigenständigkeit) der Orthodoxen Kirche der Ukraine belastet. Die Russische Orthodoxe Kirche unterbrach die eucharistische Gemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat; seit 2022 verschärfte der Krieg die Lage. Für den katholisch-orthodoxen Dialog heißt das: Man kann nicht so tun, als ginge einen das nichts an. Wenn die Familie der Orthodoxie innen zerrissen ist, spürt man die Schwerkraft außen.
Gerade dann bewährt sich das Minimum der Nähe: Delegationen, Bruderschreiben, gemeinsames Gebet, punktuelle Erklärungen. Und gerade dann braucht es die Fixsterne – Ravenna, Chieti, Alexandria – als Texte, die ruhig bleiben, wenn die See rau wird. Sie geben Orientierung und halten die Tür offen, bis die Wogen sich legen.

IX. 2024/2025 – Nizäa-Horizont und konkrete nächste Schritte
Das 1700-Jahr-Gedenken an das Konzil von Nizäa (325–2025) bietet eine schöne Chance, den Blick zu heben. Drei einfache Worte könnten das Programm sein:
•    Erinnern: nüchtern und gemeinsam – wofür das erste Konzil stand: den gemeinsamen Glauben an Christus, wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch.
•    Vertiefen: die Dialogtexte nicht nur zitieren, sondern umsetzen – in kirchlichen Strukturen, in Ausbildung, in der Sprache der Pastoral.
•    Fürbitte: gemeinsam beten – an Orten der frühen Kirche, in Rom, im Phanar und überall dort, wo Christen zusammenleben.
Was daraus konkret werden kann? Erstens ein gemeinsamer „Fahrplan“ der Vorgehensweise hinsichtlich „Primat und Synodalität“, der nicht auf Schlagzeilen zielt, sondern auf Formulierungen der Annäherung: der Primat als dienender Petrusdienst im Miteinander der Kirchen. Zweitens ein Pastoralpakt gegen Proselytismus, der Balamand in klare, alltagstaugliche Regeln übersetzt – besonders in Regionen, die politisch aufgeladen sind. Drittens eine verstetigte Ökumene der Werke: gemeinsame Friedensinitiativen, Schöpfungszeiten (Fasten- und Gebetszeiten für die Umwelt), Schutz des religiösen Erbes. Viertens Institutionen der Nähe, die auch bei Spannungen weiterarbeiten: Delegationen, Arbeitsgruppen, Begegnungen von jungen Priestern, Ordensleuten und Studierenden – damit Vertrauen wächst und nicht wartet, bis „oben“ alles geklärt ist.
________________________________________

Schluss: Hoffnung als Methode
Seit 1964/65 hat sich eine Kultur der Nähe bewährt. Sie webt Zeichen, Worte und Gebet ineinander. Die Unterschiede sind nicht weg – aber sie müssen uns nicht trennen. Die „Hermeneutik der heilenden Erinnerung“ lehrt, Wunden nicht zu leugnen, sondern zu verwandeln. Was als Tilgung alter Bannformeln begann, ist heute eine Schule der Resilienz: ein nüchterner, zugleich zutiefst geistlicher Realismus.

Darum ist ökumenische Hoffnung keine fromme Floskel, sondern eine Methode. Sie vertraut darauf, dass Christus selbst seine Kirche führt; dass Andreas und Petrus nicht Rivalen sind, sondern sich endlich wieder als Brüder annehmen und gemeinsam den Dreieinen Gott vor der Welt bezeugen und dankbar miteinander lobpreisen. Patriarch Bartholomaios I. und Papst Leo XIV. sollen glaubhafte Zeugen auf diesem Weg werden – nicht als Regisseure einer schnellen Einheit, sondern als Diener einer wachsenden Communio, die im Himmel schon gegeben und hier auf Erden bereits sichtbar wird, wo Christen gemeinsam beten, einander zuhören und zusammen dienen. Im alltäglichen Miteinander beginnt die Einheit. Wir beten und erhoffen in der Kraft des Heiligen Geistes die vollständige Einheit: „Lasst uns einander lieben, auf dass wir in Eintracht bekennen: Den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist, die wesenseine und ungeteilte Dreifaltigkeit“. So beten und singen wir in jeder eucharistischen Liturgie in Ost und West.

Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.

Symboldbild: Zwei Apostel umarmen sich


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Lesermeinungen

 antony vor 18 Minuten 

Sehr interessanter Artikel: Zeigt auch, wie richtig verstandene Synodalität die Einheit fördert.

Auch interessant, mal über den Horizont der römisch-katholischen Denkschablonen hinauszuschauen.

Habe kürzlich ein Buch über das Schicksal der ersten Gemeinden in Israel von Pfingsten bis zu deren Verschwinden im 7. Jhdt. gelesen. Die bestanden fast ausschließlich aus Juden, in Nazareth z. B. zum Großteil aus Mitgliedern der Familie Jesu. Eine ähnliche Geschichte: Entfremdung zwischen Rom und Israel durch unterschiedliche Denktraditionen und Begriffe und persönliche Verletzungen. Das führte zu gegenseitiger Ablehnung, ab der Zeit Konstantins (mit seiner judenfeindlichen Politik) zu harter Verurteilung und Ausgrenzung. War sehr traurig zu lesen.


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