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'Welt auf der Kippe'

16. Dezember 2015 in Buchtipp, keine Lesermeinung
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„Sind wir nicht Leichtgewichte geworden, die keinen Anker mehr haben und dahintreiben wie Pusteblumen im Wind, hin und her geweht von den Lifestyle- und Denkmoden aus den Medienfabriken?“ Leseprobe 2 aus dem neuen Buch von Peter und Jakob Seewald


München (kath.net) Es war der erste Tag in der Mitte der zweiten Dekade des dritten Jahrtausends. Vor dem Fenster tanzten Schneeflocken leicht wie in der Schwerelosigkeit des Weltalls, die Küche duftete nach frischem Kaffee und auf dem Tisch im Wohnzimmer wartete ein verführerisches Frühstück. Sonntagsruhe. Noch nicht einmal das Geknatter billiger Trolleys auf dem Gehsteig unterbrach die Stille. „Die Welt ist schön“, murmelte ich. Wir haben eine warme Wohnung, genug zu essen, und seit 70 Jahren keinen Krieg im Land. Wenn ich irgendwelche Fragen habe, gibt mir „Siri“, die freundliche Dame in meinem iPhone, kompetent Antwort. Ohne Murren. Und wenn ich meinen PC hochfahre, verfüge ich nicht über die lächerliche Menge von 6000 Halbleitern, wie sie die Computer vor 50 Jahren hatten, sondern über 1,3 Milliarden.

Ich stand im Badezimmer und betrachtete die müden Augen in meinem Gesicht. Dann meinen Bauch, der nicht unbedingt wie ein Sixpack aussah. Möglicherweise hatte ich mir diesen Fettvirus geholt, von dem ich irgendwo gelesen hatte. Im Spiegel sah ich die Falten auf meiner Stirn und die welk gewordene Haut. Seit meine Tränensäcke immer größer wurden, steht eine Anti-Age-Creme auf dem Waschtisch. Gegen frühzeitige Faltenbildung und Krähenfüße, lächelte meine Frau mir zu.

Ich war am Vorabend spät zu Bett gegangen. In vielen Wohnungen brannte noch Licht. Mein Gott, wie schaffen es die anderen, jeden Tag fit zu sein? Oder tun die nur so? Vielleicht haben sie Angst vor Albträumen, überlegte ich, oder Angst, einzuschlafen und gleich wieder wach zu werden, so wie ich. Angst vor Panikattacken, die einen nachts das Gehirn zerquetschen. „Weißt du, was wirklich Wahnsinn ist?“, hatte Tibor gefragt, als wir am Nachmittag telefonierten. „Keine Ahnung. Die Weltraumforschung?“ – „Nein.“ – „Telefonieren auf dem Balkon?“ – „Weit schlimmer: täglich früh aufzustehen und wie ein Verrückter zu schuften.“

Als Twens trugen wir Klamotten aus Opas Kleiderschrank. Wir legten Jimmy Hendrix, Jefferson Airplane und Pink Floyd auf, philosophierten über das Sein und das Nichts bei Sartre – und hatten jede Menge Zeit, einfach schon deshalb, weil nirgendwo ein Handy nervte. Ein 90-Minuten-Film im Fernsehen dauerte tatsächlich nur 90 Minuten – und nicht 120, weil uns heute Unterbrechungen an den spannendsten Stellen mitteilen, wo im Baumarkt der Hammer hängt. Okay, Kommunikationstechnologie war ein Fremdwort. Es gab weder Facebook-Partys noch Software-Updates. Dafür gehörten unsere Daten uns, und nicht der NSA oder einem Trust im Silicon Valley. Sollte im Zeitalter der Hochtechnologie nicht alles einfacher werden und besser funktionieren? Die Wahrheit ist, dass manche Technik nur Probleme löst, die man ohne sie nie gehabt hätte. PINs, Codes, BIC- und SWIFT-Nummern – eine falsche Eingabe, und du bist weg vom Fenster. Neuerdings verlangt mein PC, bevor er seine Seiten öffnet, einen „Kennwortrücksetzdatenträger“, von dem ich bis dahin noch nie etwas gehört habe.

Da war dieses ständige Müssen müssen. Auf Facebook Freundschaften annehmen, die man nicht will. Videos teilen, die man nicht sehen möchte. Die Kontaktpflege für die Karriereplanung. Der Optimierungszwang. Der Druck des Lifestyles. Im Sommer die Rasenmäher, im Herbst die Laubbläser, im Winter die Schneefräser. Dann all der tägliche Kleinkram, der uns zu Idioten macht: Du beantwortest Mails. Du verschiebst und ordnest Mails. Du löschst Mails. Aber schon wieder hat irgendjemand, den du nicht kennst, den du auch nie kennenlernen möchtest, etwas auf deinen PC geladen. Wanyao Zhon zum Beispiel, seines Zeichens „Direktor der Bank of China“, der ein „interessantes Geschäft“ anbietet. Oder irgendwelche Spam, Viren und andere Schadware, die dir mit Sicherheit noch ziemlich viel Ärger bereiten werden.


Verhängnisvolle Vernetzung: Jeder schreibt jedem. Jeder will was von jedem. Der Gefällt-mir-Terror. Der Bewertungswahn. Umfragen am Telefon mit der Bitte um die Einschätzung irgendeines Mitarbeiters, der lediglich die Reifen an deinem alten Auto gewechselt hat. Wir sitzen vor dem PC, starren in das Smartphone, scrollen die Bildschirme, tippen Kurznachrichten und sehen uns dann am Fernseher an, wie Menschen eigentlich so leben. Frank von nebenan sagt, er spreche einmal pro Tag mit einer echten Person. Das sei die Kassiererin im Supermarkt. Und wer die Frau kennt, weiß, dass das kein Vergnügen ist.

Da ist plötzlich auch sehr vieles, mit dem wir wenig Erfahrung haben. E-Bay, Google, Amazon, Smartphones, Facebook, Twitter, Clouds, Netflix – all diese Dinge entstanden wie aus dem Nichts heraus. Max Weber sprach 1905 von der mechanistischen Versteinerung unseres Zeitalters, aber noch vor 20 Jahren hatte sich niemand vorstellen können, dass die digitale Revolution die Moderne je in dieser Totalität beherrschen könnte. Ja, wir leben nicht im Technologieparadies, sondern in einer neuen Wildnis, überlegte ich. Um uns herum wimmelt es von Fallen, die uns locken und fangen sollen. Alles schreit nach unserer Aufmerksamkeit, um uns am Hemd zu packen und das Geld aus der Tasche zu ziehen. An jeder Ecke ein Marktschreier; mit Informationen, die im Grunde nutzlos sind. Zukunftsforscher verkünden auf Neudeutsch Dinge als den Gipfel der Erkenntnis, die früher zum kleinen Einmaleins gehörten. Qualitätsfernsehen? Die Rationen, die wir davon noch zugewiesen bekommen, reichen im Zuge der geistigen Sparmaßnahmen kaum mehr als zu einem Gaumenkitzel.

Warum sind wir so rast- und zugleich ratlos geworden? Sind wir Gefangene in einem System, das uns physisch, psychisch und spirituell austrocknet? Ich liebe mein MacBook. Das schnelle Internet ist wie ein magischer Stab, der unerreichbare Dinge herbeizaubert. Aber ich hasse es, wenn ich feststellen muss, dass nicht ich die Dinge im Griff habe, sondern sie mich. Dass mir Zeiträuber nicht nur die Zeit stehlen, sondern mich nervös, aggressiv, ungeduldig und unglücklich machen. Wo ist unser Gottvertrauen abgeblieben, überlegte ich, das uns vor dem freien Fall der Seele in die Tiefen von Angst und Verwirrung geschützt hatte? Und was haben wir uns im Tausch dafür eingehandelt? Hat der Anthropologe Constantin von Barloewen Recht damit, dass wir als homo oeconomicus, der nur noch nach den Gesetzen des Marktes lebt, unsere humane Identität verlieren?

Sind wir nicht auch wahre Leichtgewichte geworden, die keinen Anker mehr haben und dahintreiben wie Pusteblumen im Wind, hin und her geweht von den Lifestyle- und Denkmoden aus den Medienfabriken? Wir wurden zu Menschen, die nur noch im Augenblick leben. Der Bezug zum Gestern und Morgen, zum Großen und Ganzen, blieb irgendwie auf der Strecke. Ist dabei nicht auch eine Art allgemeiner Agonie entstanden? Wie Betäubte, wie Schlafwandler taumeln wir durch den Wahnsinn unseres Alltags, müde, ausgelaugt, kaputt. Kraftlos geworden, haben wir im Zug der Lemminge unser Schicksal in die falschen Hände gelegt. Wer noch Energie hat, pumpt sie in die Karriere oder in irgendeinen billigen Zeitvertreib, der ein bisschen Lustgewinn verspricht. Gleichen wir in unserer Überforderung nicht Gefangenen in einer gläsernen Kugel? Wir sehen, was los ist, aber es kommt nicht mehr an uns heran.

Eine Gesellschaft am Limit. Es ist kein Zufall, dass synchron zu Beschleunigung und Überlastung weltweit Krankheiten zunehmen, die unverkennbar mit Zeitdruck und Reizüberflutung zusammenhängen. Ob Burn-out, Depression oder Bluthochdruck. Jeder fünfte Arbeitnehmer leidet permanent unter Angst und Anspannung, fand das Karlsruher Institut für Sozialhygiene heraus. Nach einer DGB-Studie schlucken 46 Prozent der jungen Beschäftigten Medikamente, um für den Job fit zu bleiben. Die chronische Daueranspannung führt zu Schwindelgefühlen, Hörsturz und Tinitus, Magen-Darm-Geschwüren und schlimmstenfalls zum Herzinfarkt. Schon in wenigen Jahren werden nach ernst zu nehmenden Untersuchungen 30 Prozent der Bevölkerung in den westlichen Ländern so hohe seelische Schäden aufweisen, dass sie Behandlung brauchen.

Das größte Leid trägt die nachfolgende Generation. Die Stress-Gesellschaft frisst ihre Kinder: Laut Kinderreport Deutschland, erstellt vom Deutschen Kinderhilfswerk, wird eine wachsende Zahl der etwa 4,5 Millionen Kinder im Alter zwischen acht und zwölf Jahren immer öfter krank. Ein Drittel nimmt häufig Medikamente ein. Kinderärzte beobachten eine erhebliche Zunahme von Konzentrationsverlust und Hyperaktivität. Rund 20 Prozent der Erstklässler seien sprachgestört. Pausenlose Übermüdung und Verhaltensstörungen sind inzwischen genauso der Normalfall wie der Gebrauch psychoaktiver Substanzen. Zappeligkeit und „seelische Verwahrlosung“ nähmen dramatisch zu, so der Spiegel. Durch den Verlust an Familienbeziehungen könnten sich Identität und Persönlichkeit des Menschen nicht entwickeln, die vor allem an das Urbedürfnis nach Kontakt und Bindung gebunden sind.

Die vielen Hoffnungen und Illusionen, die das Maschine Age anfangs auslöste, sind einer zunehmenden Skepsis gewichen, die Euphorie einer Angst vor einem „Zeitalter des digitalen Imperialismus“, wie der Internet-Experte Ibrahim Evsan es ausdrückt. Schwärmten die Techno-Utopien bis vor Kurzem noch von der Demokratisierung der Bildung, einer neuen Transparenz der Politik und den Innovationen für die Wirtschaft, die das digitale Zeitalter bewirke, bewegt Beobachter heute die Sorge, dass algorithmische Supermächte wie die NSA, Google oder Facebook mit den Datenfluten das Leben der Menschen quantifizieren und unter ihre Kontrolle bringen könnten. „Computer und Netzwerke sind mehr als reine Werkzeuge, sie sind selbst wie Lebewesen“, beschwört der Medientheoretiker Douglas Rushkoff, „es sind also die digitalen Technologien selbst, die unsere Welt gestalten werden – sowohl mit als auch ohne unser ausdrückliches Mitwirken.“

Ruskoff fügt hinzu: „Wir erschaffen gerade gemeinsam eine Blaupause, einen Entwurf unserer kollektiven Zukunft.“ Gerade deshalb „zählt der jetzige Moment“. Es gehe darum, Programm oder programmiert zu werden: „Wir müssen endlich anfangen darüber zu diskutieren, was die Digitalisierung für die Zukunft des Denkens bedeutet.“

Noch immer glaube er an viele der Hoffnungen, so Jaron Lanier, die sich mit der neuen Technologie verbinden. Gleichzeitig habe er jedoch Sorge, weil die digitale Revolution zu einem „fast metaphysischem Projekt“ überhöht werde – „und das, nachdem so viele Götter versagt haben“. „Die Kirchen leeren sich und Facebook füllt sich“, sagt der koreanische Philosoph Byung-Chul Han, „es ist eine neue Kirche entstanden“, aber eine, „die keinen Sinn stiften kann.“ Tatsächlich haben viele Seiten der neu entstandenen Realitäten mit ihren Erlösungsfantasien eine kryptoreligiöse Komponente, wenn nicht gar die Erscheinungsformen einer neuen Religion, einer neuen Gottheit. Die Skepsis beruht nicht zuletzt auf den Erfahrungen mit totalitären Systemen, die in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts den Weltball in eine brennende Kugel verwandelten.
*
Als Sozialist war Orwell schockiert über die Tendenzen, die sich in den 1930er-Jahren nicht nur in Nazi-Deutschland, sondern auch in kommunistischen Organisationen und den neuen sozialistischen Staaten abzeichneten. In Nineteen Eighty-Four beschreibt er ein System, dessen Ziel es ist, in einem gigantischen Gedankengefängnis die Gleichschaltung aller Bürger zum Zweck ihrer besseren Nutzbarmachung zu betreiben. Es ist eine Gesellschaft von umfassender Manipulation, der sich niemand entziehen kann. „Im Wachen und im Schlafen, bei der Arbeit oder beim Essen“, heißt es im Buch, „im Haus oder außer Haus, im Bad oder im Bett – es gab kein Entrinnen. Nichts gehörte einem außer den paar Kubikzentimeter im eigenen Schädel.“ In einer vergangenen Zeit habe es noch „ein Eigenleben“ gegeben, mit Liebe und Freundschaft, „heutzutage gab es Angst, Hass und Leid, aber keine starken und wertvollen Gefühle, keine tiefen und echten Schmerzen.“ Die Gesellschaft wird regiert von einer kaum in Erscheinung tretenden zentralen Lenkungsinstanz: „Irgendwo saßen ganz anonym die leitenden Hirne, die den ganzen Betrieb koordinierten und die politischen Richtlinien festlegten.“ Aber „das Schrecklichste war“, hält der Autor fest, „dass einfach alles wahr oder falsch sein konnte.“

kath.net-Buchtipp
Welt auf der Kippe
Zu viel, zu laut, zu hohl - macht Schluss mit dem Wahnsinn
Von Peter Seewald; Jakob J. Seewald
Illustriert von Katharina Bitzl
Taschenbuch, 272 Seiten
2015 Ludwig, München
ISBN 978-3-453-28074-8
Preis 19.60 EUR

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Foto oben © Ludwig Verlag


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