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Brauchen Staat und Kirche mehr Distanz?

6. September 2013 in Deutschland, 4 Lesermeinungen
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ARD-Film „Koalition der Frommen“ beleuchtet das Verhältnis - Alexander Kissler: Kirche würde von mehr Distanz zum Staat profitieren. Die „Versippung“ beider Bereiche führe dazu, dass die Kirche „Beißhemmungen“ gegenüber der Politik habe


München (kath.net/www.idea.de)
Wie viel Religion verträgt der Rechtsstaat? Braucht er eine stärkere Distanz zu den Kirchen, und sind kirchliche Vorrechte noch zeitgemäß? Mit diesen Fragen befasste sich der Film „Koalition der Frommen“, der am 4. September in der ARD ausgestrahlt wurde. Wie es in dem Beitrag von Tilman Jens (Frankfurt am Main) hieß, verlören die beiden Volkskirchen immer mehr an Bedeutung. Sie seien nur noch zwei spirituelle Anbieter unter vielen: „Und die Talfahrt ist nicht gestoppt.“ Viele Probleme schienen hausgemacht. Als Beispiele werden genannt: die Selbstgerechtigkeit mancher Würdenträger, die Ungleichbehandlung von Mann und Frau, der schleppende Fortgang der Ökumene und der sexuelle Missbrauch in den Reihen der Kirchen. Die kirchlichen Privilegien blieben jedoch unangetastet. Dies kritisiert der jüdische Historiker und Publizist Michael Wolffsohn (München) in dem Film: „Es ist mehr und mehr eine Posse geworden, wenn bei moralisch akzentuierten Veranstaltungen die Würdenträger der religiösen Gemeinschaften ganz vorne sitzen.“ Damit werde ihnen von der Platzierung ein Gewicht beigemessen, das sie inhaltlich nicht mehr hätten und vorlebten: „Und wenn du nicht vorlebst, kannst du nicht Vorbild sein.“ Der frühere rheinland-pfälzische und thüringische Ministerpräsident Bernhard Vogel (CDU) verweist darauf, dass die Kirchen nach wie vor eine „ungeheuer mitgliederstarke Organisation“ seien. Der Staat solle deshalb auf sie Rücksicht nehmen.


„Beißhemmung“ der Kirchen

Der Publizist Alexander Kissler (Berlin) vertritt die Ansicht, dass die Kirche von mehr Distanz zum Staat profitieren würde. Die „Versippung“ beider Bereiche führe dazu, dass die Kirche „Beißhemmungen“ gegenüber der Politik habe: „Sie kann nicht beispielsweise Missstände auf dem Wohnungsmarkt mit der gebotenen Deutlichkeit kritisieren, wenn sie selber dort mitmischt.“ Wie es in dem Beitrag weiter heißt, gebe es im Sozialstaat zwar Einschnitte zuhauf. Aber „an der Alimentierung der Kirchen wagt keine Partei – ob nun schwarz, rot oder grün – ernsthaft zu rütteln“. Kritisiert wird auch die „Sonderstellung“ der kirchlichen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie. Sie würden zwar fast vollständig von der öffentlichen Hand finanziert: „Aber so manches Gesetz unseres Rechtsstaates ist hinter Kirchenmauern außer Kraft gesetzt.“

Atheistin kritisiert Sonderrechte für Kirchen

Die SPD-Finanzexpertin und Atheistin Ingrid Matthäus-Meier beklagt, dass für 1,2 Millionen Beschäftigte in kirchlichen Einrichtungen nicht das Betriebsverfassungsgesetz gelte und sie deshalb kein Streikrecht hätten. Wenn etwa ein Mitarbeiter im Pflegebereich aus der Kirche austrete, habe diese das Recht, eine Kündigung auszusprechen: „Das findet oft genug statt.“ Darauf entgegnet die Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Ellen Ueberschär (Fulda), dass auch jede Partei nur Leute einstelle, die eine Nähe zu ihrer weltanschaulichen Überzeugung hätten. Dieses Recht müsse man auch kirchlichen Institutionen zugestehen. Dagegen wendet Matthäus-Meier ein: „Der Arzt hat die Aufgabe zu heilen und nicht zu verkündigen. Eine Pflegerin hat die alten Leute zu pflegen und nicht zu missionieren.“

Streit um Beschneidung: Juden danken Kirchen

Der Film geht ferner darauf ein, dass Juden, Christen und Muslime gemeinsam für religiöse Interessen eintreten. Als Beispiel wird der Streit um die Beschneidung von jüdischen und muslimischen Jungen genannt. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Dieter Graumann (Frankfurt am Main), dankt den Kirchen, dass sie sich an die Seite der Juden gestellt hätten. Der Beitrag erinnert ferner daran, dass Muslime sich über eine Papst-Karikatur im Satire-Magazin „Titanic“ empört hätten und deutsche Bischöfe nach Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen Muslime zur Seite gesprungen seien: „Denn wenn es um das so genannte religiöse Gefühl geht, sind sich Imame, Rabbiner und Kardinäle rasch einig.“

„Seilschaft“ frommer Juden, Christen und Muslime

Nach Worten der deutsch-türkischen Rechtsanwältin Seyran Ates (Berlin) gibt es nicht nur „eine Koalition der Frommen, sondern auch eine Seilschaft der Frommen“. Sie verbündeten sich, wenn sie das Gefühl hätten, dass ihre Auslegung von Religion infrage gestellt werde. Kirchentags-Generalsekretärin Ueberschär sprach von einer Koalition derer, „denen überhaupt noch etwas heilig ist“. Wem nichts mehr heilig sei, „ist am Ende das Menschenleben auch nicht mehr heilig“. Juden, Christen und Muslime verfolgten das gemeinsame Ziel, Religion in der Öffentlichkeit zu leben und nicht an den Rand gedrängt zu werden.

Schweigen von Schneider und Zollitsch

Der EKD-Ratsvorsitzende, Nikolaus Schneider (Berlin), hatte es abgelehnt, sich für den Film interviewen zu lassen. Der Vorsitzende der (katholischen) Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch (Freiburg), verzichtete ebenfalls. Er hatte ein Interview an die Bedingung geknüpft, dass „dies auf Augenhöhe mit der EKD gelingt“. Dazu hieß es im Film, beim Schweigen zu streitbaren Themen sei die Ökumene bereits weit fortgeschritten.

FILM in der ARD-Videothek


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