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„O Virgo virginum“ – Die Jungfrau der Jungfrauen und das göttliche Staunenvor 5 Stunden in Kommentar, keine Lesermeinung Druckansicht | Artikel versenden | Tippfehler melden
„Der Advent kommt an seinem geheimnisvollsten Punkt an“ - Über die Zusatz-Antiphon in der englischen Sarum-Tradition. Von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer
Eichstätt (kath.net) „O Virgo virginum“ – Die Jungfrau der Jungfrauen und das göttliche Staunen. Mit dieser Antiphon wird der Zyklus der sieben O-Antiphonen – in der englischen Sarum-Tradition – zu einer Achtzahl, die in Maria ihren Höhepunkt und ihre Schwelle zur Inkarnation findet.
„O Virgo virginum“ ist damit die Krone des marianischen Advents:
der Moment, in dem die Kirche nicht nur ruft: Komm, Herr Jesus,
sondern zugleich mit Maria bekennt:
Göttlich ist dieses Mysterium, das ihr schaut.
23.12.: „O Virgo virginum“ – Die Jungfrau der Jungfrauen und das göttliche Staunen
O Virgo virginum, quomodo fiet istud?
Quia nec primam similem visa es, nec habere sequentem.
Filiae Ierusalem, quid me admiramini?
Divinum est mysterium hoc quod cernitis
„O Jungfrau der Jungfrauen, wie soll das geschehen?
Denn weder hat man eine gesehen, die dir vorausginge,
noch wird eine nach dir kommen.
Ihr Töchter Jerusalems, warum wundert ihr euch über mich?
Göttlich ist dieses Mysterium, das ihr schaut.“
1. Der Advent kommt an seinem geheimnisvollsten Punkt an
Meine Lieben, mit O Virgo virginum betreten wir den zartesten, verborgensten und zugleich kühnsten Augenblick des Advents. Hier sprechen nicht Propheten, nicht Könige, nicht Engel – hier spricht Maria selbst, die „Jungfrau der Jungfrauen“.
Diese Antiphon gibt uns nicht ein weiteres messianisches Attribut Christi, sondern öffnet uns den innersten Raum, in dem diese Attribute Fleisch werden: den Leib einer jungen Frau aus Nazareth.
In der römischen Liturgie endet der Advent mit „O Emmanuel“. In der englischen Sarum-Tradition aber legt die Kirche noch eine Krönung darüber: die Betrachtung Mariens als Tor zwischen Erwartung und Erfüllung, als die Schwelle, an der morgen das Wort Fleisch wird.
So wird diese Antiphon zu einem geistlichen Fenster, durch das wir – ganz leise – die Geburt schon ahnen.
2. „O Jungfrau der Jungfrauen“ – Einzigkeit ohne Triumph
„O Virgo virginum, quomodo fiet istud?“
„O Jungfrau der Jungfrauen, wie soll das geschehen?“
Dieser Anruf nimmt die Fragen des Engels und Marias in Lk 1 auf – „Wie soll das geschehen?“
Im Munde der Kirche ist diese Frage eine Mischung aus Ehrfurcht und Staunen.
Dann folgt der erstaunliche Satz: „Weder hat man eine gesehen, die dir vorausginge; noch wird eine nach dir kommen.“ Damit wird keine Distanz aufgebaut, sondern die Einzigkeit der Inkarnation ausgedrückt:
• Maria ist nicht die „größte unter vielen“,
• sondern die einmalige Erwählte,
• die Stelle der Welt, an der Gott nur einmal auf diese Weise menschlich wird.
Die Väter sprachen von ihr als porta clausa (Hes 44,2): dem Tor, das Gott für sich selbst geöffnet und für immer ausgezeichnet hat, nicht zur Ausgrenzung, sondern zur Singularität der Gnade.
Adventlich heißt das: Wir schauen auf Maria nicht als Ausnahme, die uns fern wäre, sondern als das Urbild dessen, was Gott im Advent mit uns allen tun will: Er will in uns Wohnung nehmen. 
3. Ein Gespräch im Hohelied – Maria inmitten der Töchter Jerusalems
Der zweite Teil beginnt mit einer Frage: „Filiae Ierusalem, quid me admiramini?“ – „Ihr Töchter Jerusalems, warum wundert ihr euch über mich?“
Hier geschieht ein Wechsel in die Sprache des Hohenliedes. Die „Töchter Jerusalems“ sind dort die Zeuginnen der Liebe zwischen Bräutigam und Braut; sie stehen staunend am Rand eines Geschehens, das sie berührt und zugleich übersteigt.
Die englische Antiphon legt diese Rolle der Kirche in den Mund: Die „Töchter Jerusalems“ – das sind wir.
Wir sind die Staunenden, die vor diesem Mysterium stehen:
• der Mädchenkörper, der Gott trägt;
• die Jungfräulichkeit, die Frucht bringt;
• die Unschuld, die den Unendlichen umarmt.
Und Maria antwortet gleichsam: Wundert euch nicht über mich – sondern über das Göttliche, das in mir geschieht.
Der Fokus verschiebt sich von der Person Mariens auf das Mysterium der Inkarnation.
Sie bleibt nicht bei sich stehen – sie verweist uns auf den, den sie trägt.
4. „Divinum est mysterium hoc“ – Das göttliche Mysterium, das man sieht
Die Antiphon endet in einer schlichten, fast schwebenden Feststellung:
„Divinum est mysterium hoc quod cernitis.“
„Göttlich ist dieses Mysterium, das ihr schaut.“
Hier wird die Quintessenz der Inkarnation ausgesprochen:
• Gott wird sichtbar,
• Gott wird tastbar,
• Gott wird hörbar,
• Gott wird geboren.
Und Maria sagt: Ihr schaut etwas Göttliches.
Das ist Advent: Nicht ein inneres Erwärmen,
nicht bloße Erwartung,
nicht nur Vorbereitung –
Sondern das Erwachen der Einsicht:
Gott kommt in mein Sichtfeld.
Gott tritt ein in meine Welt.
Gott wird konkret.
In der patristischen Tradition galt diese Antiphon deshalb als mystagogischer Höhepunkt:
Sie führt die Gläubigen von der Messias-Hoffnung zur Inkarnationsschau.
5. Maria als Ort des Übergangs – zwischen Erwartung und Erfüllung
Warum steht diese Antiphon im Sarum-Ritus der englischen Tradition am 23. Dezember?
Weil Maria genau dort steht: zwischen der Erwartung der Welt und der Erfüllung in Christus.
Die Kirche schaut am 23. Dezember sozusagen in Mariens Herz und hört: „Es ist göttlich, was geschieht.“
Sie ist die Brücke:
• zwischen Alten Bund und Neuen Bund,
• zwischen Verheißung und Erfüllung,
• zwischen Himmel und Erde,
• zwischen Gott und Mensch.
Deshalb ruft die Sarum-Tradition am Ende des Advents nicht Christus allein an, sondern betrachtet noch einmal die, in der Christus schon Wohnung genommen hat.
Maria ist so etwas wie das erste „Weihnachten“, der Ort, an dem Gott Menschsein bereits beginnt.
6. VERO CRAS – „Wahrlich: morgen!“ – Der adventliche Herzschlag
Die englische Tradition fügt „O Virgo virginum“ den sieben römischen O-Antiphonen hinzu und verändert damit die berühmte Rückwärtslesung der Anfangsbuchstaben:
• V –Virgo virginum
• E – Emmanuel
• R – Rex gentium
• O – Oriens
• C – Clavis David
• R – Radix Iesse
• A – Adonai
• S – Sapientia
Nicht ERO CRAS - „Ich werde morgen da sein“, wie im römischen Brauch, sondern VERO CRAS – „Wahrlich: morgen!“
Das ist die Antwort der Kirche.
Der Glaube gewinnt hier Stimme:
Nicht nur Gott verspricht,
sondern auch der Beter bekennt:
Ja, morgen erfüllt sich, was wir hoffen.
Morgen wird er geboren.
Morgen ist Weihnachten.
„O Virgo virginum“ ist also der Herzschlag dieser Gewissheit:
die letzte Falte der Nacht,
bevor der Morgen anbricht.
7. Gebet: Vor der Mutter des Herrn stehen
Zum Schluss dürfen wir die Antiphon in ein stilles Gebet übersetzen:
O Jungfrau der Jungfrauen,
Mutter des kommenden Herrn,
du einmalige,
du ganz von Gott erfüllte:
wir stehen wie die Töchter Jerusalems
staunend vor dir.
Nicht über dich allein staunen wir,
sondern über das göttliche Mysterium,
das in dir geschah und geschieht:
dass Gott Fleisch wird
in einem menschlichen Herzen.
Lehre uns,
in uns Raum zu schaffen für ihn,
leise, hörend,
bereit, dass Gottes Wort in uns Wohnung finde.
O Virgo virginum,
du Schwelle zwischen Advent und Weihnachten,
zeige uns den,
der morgen kommt –
Christus, das göttliche Licht im Fleisch.
Amen.
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