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„Unter seinem Fenster“

17. Oktober 2018 in Chronik, 2 Lesermeinungen
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Wie Pius XII. die Juden Roms rettete - Deutscher General bricht sein Schweigen - Gastbeitrag von Michael Hesemann


Rom (kath.net) Gestern gedachte die römische Gemeinde in Rom in einer Feierstunde in der Synagoge am Tiberufer der dunkelsten Stunde ihrer über zweitausendjährigen Geschichte: In den frühen Morgenstunden des 16. Oktober 1943, vor genau 75 Jahren also, verhaftete die SS 1259 der 8000 Juden Roms, deportierte 1007 von ihnen zwei Tage später nach Auschwitz. Dann endeten die Festnahmen plötzlich. Was war geschehen? Diese Frage wurde lange von Historikern kontrovers diskutiert. Jetzt verschafft die Aussage eines deutschen Wehrmacht-Generals Klarheit.

Am 2. Juni 1943 sprach Papst Pius XII. vor dem Kardinalskollegium über die Schrecken der Schoah, der von den Nazis angeordneten „Endlösung der Judenfrage“, die mit größter Brutalität in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten Osteuropas vonstatten ging. Ihn erreichten täglich „...die zahlreichen Bitten derjenigen, die sich mit angsterfüllten Herzen flehend an uns wenden. Es sind diejenigen, die wegen ihrer Nationalität oder wegen ihrer Rasse von größerem Unheil und schwereren Schmerzen gequält werden und die manchmal sogar, ohne eigenes Verschulden, zur Ausrottung bestimmt sind“, erklärte der Papst. Dennoch verzichtete er auf einen offenen Protest, da er fürchtete, dass dieser Hitlers rasende Wut nur noch mehr entfachen, das Tempo des Mordens beschleunigen könnte: „Jedes Wort, das darüber von Uns an die zuständigen Behörden gerichtet wird, jede öffentliche Anspielung, muss mit allergrößtem Ernst erwogen werden, im eigenen Interesse derjenigen, die leiden, damit ihre Lage nicht noch schwerer und unverträglicher gemacht wird als vorher, auch nicht durch Unachtsamkeit, ohne es zu wollen.“ Stattdessen versuchte er alles Menschenmögliche, Juden vor den Deportationen zu retten, während er im Geheimen mit den Kräften kollaborierte, die Hitlers Sturz planten. Vor eine Bewährungsprobe wurde die päpstliche Politik gestellt, als die Nazis im September 1943 Rom besetzten – und einen Monat später auch dort mit der Deportation der Juden begannen.

Mindestens seit dem 2. Jh. v.Chr. leben Juden in Rom, ihre Gemeinde gilt als die Älteste auf dem europäischen Kontinent. Doch nie in ihrer bewegten 2000jährigen Geschichte schwebten sie in so großer Gefahr wie in den neun Monaten der deutschen Besatzung, zwischen September 1943 und Juni 1944. Dabei wogen sie sich zunächst in trügerischer Sicherheit.

Am 16. September 1943, eine Woche nach der Einnahme Roms durch deutsche Truppen, hatte der Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, die Deportation der geschätzt 56.000 italienischen Juden befohlen, von denen ca. 8000 in Rom lebten. Wahrscheinlich durch einen Kontaktmann in der deutschen Abwehr erfuhr auch der Vatikan von den Plänen, wie aus der Note des Staatssekretariats vom 17. September, „Befürchtete Maßnahmen gegen die Juden Italiens“, hervorgeht. Pius XII. ordnete an, schnell zu handeln. Gleich am nächsten Tag stellte das Staatssekretariat fest: „Die Juden Roms sind alarmiert“. Jenen, die gerade aus Frankreich nach Rom geflüchtet waren, wurde dringendst empfohlen, die Stadt zu verlassen. Die jüdischen Römer aber fühlten sich sicher. Sie hielten es für praktisch ausgeschlossen, dass die Nazis in der Stadt des Papstes zuschlagen würden. So bat, wie die Akten des vatikanischen Staatssekretariates zeigen, gerade einmal eine einzige jüdische Familie am 1. Oktober 1943 um Unterschlupf in einem Nonnenkloster an der Via Garibaldi, ein Gesuch, dem Papst Pius XII. persönlich stattgab.

Diese falsche Sicherheit verstärkte sich, als der SS-Kommandant in Rom, Obersturmbannführer Herbert Kappler, am 26. September die beiden Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde, Ugo Foá und Dante Almansi, in seine Residenz in der Villa Wolkonsky bestellte. Dort teilte er ihnen mit, dass Deportationen geplant seien, bot ihnen aber die Möglichkeit an, sich freizukaufen. Würde es ihnen in den nächsten 24 Stunden gelingen, 50 Kilogramm Gold bei ihm abzuliefern, würden sie unbehelligt bleiben. Doch trotz größter Anstrengungen schafften sie es zunächst nur, 35 kg zu sammeln. Also wandte sich der Oberrabbiner von Rom, Israel Zolli, hilfesuchend an den Papst. Sofort sagte Pius XII. zu, den Juden das Gold zu leihen und gab Anweisung, das Nötige in den Weg zu leiten. Kurz darauf vermerkte Comm. Ing. Bernadino Nogara, Chef des Vatikanischen Schatzamtes, Rabbi Zolli habe ihm mitgeteilt, die päpstliche Hilfeleistung würde nun doch nicht gebraucht; die fehlenden 15 Kilo seien bereits „von katholischen Gemeinden“ zur Verfügung gestellt worden. Als Kappler das Gold entgegennahm, versicherte er den Juden, sie seien jetzt sicher. So blieben sie untätig. Sie schöpften weder Verdacht, als der SS-Kommandant nur einen Tag nach der Goldübergabe die jüdischen Gemeinderäume durchsuchen und die Adresskartei ihrer Mitglieder beschlagnahmen ließ, noch als am 6. Oktober eine Eliteeinheit aus 365 Männern der Waffen-SS unter Kommando des SS-Hauptsturmführers Theodor Dannecker in Rom eintraf. Er war als Adolf Eichmanns „Mann fürs Grobe“ bekannt und bereits in Paris dafür eingesetzt worden, die französischen Juden nach Auschwitz zu deportieren. Das SS-Kommando bezog Quartier in einem Hotel an der Piazza Bernini, um die römische „Judenaktion“ minutiös vorzubereiten.

Das entging nicht der Deutschen Botschaft in Rom, die längst zum Sammelbecken für regimekritische Diplomaten geworden war. Als der deutsche Konsul Eitel Friedrich Möllhausen beim Reichsaußenministerium in Berlin um Aufklärung bat und Bedenken anmeldete, bestätigte Franz von Sonnleithner in einem Fernschreiben vom 9. Oktober im Auftrag von Reichsaußenminister von Ribbentrop, „dass aufgrund einer Führerweisung die 8000 in Rom lebenden Juden“ deportiert werden sollten und „nach Mauthausen (Oberdonau) als Geiseln gebracht“ würden“. Diese Angelegenheit aber sei „der SS zu überlassen.“

DER VERHÄNGNISVOLLE 16. OKTOBER


Als der Morgen des 16. Oktobers 1943 dämmerte, schlug die SS zu. Es war ein Samstag, ein regnerischer Herbsttag, und er sollte als Blut-Schabbat in die Geschichte der jüdischen Gemeinde Roms eingehen. Exakt um 5.30 Uhr drangen die 365 mit Maschinengewehren bewaffneten SS-Männer in die Häuser des Viertels um die römische Synagoge, des ehemaligen jüdischen Ghettos, ein. Mit Hilfe der vorbereiteten Listen durchkämmten sie der Reihe nach die Wohnungen und trieben alle Bewohner, die sie finden konnten, auf die Straße. Die Opfer der Razzia, genau 1259 Personen, wurden zunächst in das Collegio Militare auf dem gegenüberliegenden Lungotevere gebracht.

Noch während der Aktion, gegen 6.30 Uhr, informierte eine Freundin die römische Prinzessin Enza Pignatelli-Aragona über die Verhaftungen, die wiederum sofort den Papst unterrichten wollte. Das erwies sich als schwierig, denn in Rom war noch Sperrstunde. Schließlich bat sie einen jungen Mitarbeiter der deutschen Botschaft, Karl Gustav Wollenweber, sie in seinem Dienstwagen in den Vatikan zu fahren. Dort wurde sie sofort zu Pius XII. vorgelassen, der gerade in seiner Privatkapelle die Morgenmesse beendet hatte. Bewegt lauschte er den Schilderungen der Prinzessin, wobei er immer wieder betonte, die SS habe doch versprochen, die Juden Roms zu verschonen. Dann handelte er, „sehr erregt und mit Tränen in den Augen“, wie sie sich später erinnerte. In ihrer Gegenwart rief er Kardinalstaatssekretär Maglione an, verlangte, den deutschen Vatikanbotschafter Ernst von Weizsäcker sofort in den Vatikan zu bestellen. Der Inhalt der folgenden Unterredung ist dokumentiert, da Maglione gleich danach ein schriftliches Protokoll anfertigte. Es widerlegt eindrucksvoll die nach dem Krieg von Weizsäcker verbreitete Version, er habe vergeblich versucht, den Papst zu einem Protest zu bewegen. Tatsächlich nämlich drohte Maglione im Namen des Papstes ein öffentliches „Wort des Missfallens“ an, „wenn die Dinge weitergehen sollten“. Von Weizsäcker dagegen warnte vor den „Konsequenzen, die ein Schritt des Heiligen Stuhls provozieren könnte. Die Direktiven kommen von höchster Stelle.“ Was er damit meinte, war auch im Vatikan Dank eines Kontaktes zur deutschen Abwehr längst bekannt: Adolf Hitler hatte dem Obersten SS-Kommandanten in Italien, General Karl Wolff, gerade persönlich den Befehl erteilt, den Vatikan zu besetzen und Pius XII. „zu seiner Sicherheit“ nach Deutschland oder Liechtenstein zu bringen.

„Sollte sich der Heilige Stuhl dennoch (zu einem Protest) gezwungen sehen, würde er sich, was die Konsequenzen anbelangt, der göttlichen Vorsehung anvertrauen“, schmetterte Kardinal Maglione die subtile Drohung ab. Von Weizsäcker versprach, alles ihm Mögliche zu tun, um die Deportation zu stoppen. In einem weiteren Gespräch bekniete er auch den Papstvertrauten und Unterstaatssekretär Giovanni Battista Montini (den späteren Papst Paul VI.), auf keinen Fall öffentlich zu protestieren. Eine Äußerung des Papstes würde „nur bewirken, dass die Abtransporte erst recht durchgeführt werden.“ Er kenne die Reaktion der eigenen Leute nur zu gut, versicherte der deutsche Botschafter.

Pius XII. wusste nur zu gut, wie zutreffend diese Warnung war. Als der Erzbischof von Utrecht, de Jong, gegen die Deportation der holländischen Juden protestierte, folgte die Vergeltung der Nazis umgehend: Jetzt wurden auch Katholiken jüdischer Abstammung in die Todeslager verfrachtet, sogar die Klöster durchsucht. Edith Stein war das prominenteste Opfer dieser Racheaktion, die auch den Papst damals überzeugte, dass ein öffentlicher Protest kein Weg war, um das Morden der Nazis zu stoppen.

Doch an diesem 16. Oktober verließ sich Pius XII. nicht auf die vatikanische Diplomatie. Wahrscheinlich ahnte er, dass von Weizsäcker nur nach Berlin berichtete, was man dort hören wollte. Sein Widerstand, dessen er sich später rühmte, war so subtil, dass er wenig bewirkte und kaum Spuren hinterließ; allenfalls beschwichtigte er die Nazis, um eine Eskalation zu vermeiden. So schickte der Papst seinen Neffen, Prinz Carlo Pacelli, zu dem österreichischen Bischof Alois Hudal, dem Rektor der deutschen Nationalstiftung Santa Maria dell‘Anima. Hudal hatte sich schon früh um einen Dialog zwischen der Kirche und dem Nationalsozialismus bemüht und war deshalb im Vatikan zur persona non grata geworden. Doch jetzt nutzte man seine guten Kontakte zu den deutschen Besatzern, speziell zum Römischen Stadtkommandanten, Generalmajor Rainer Stahel. Im Beisein Pacellis diktierte Hudal einen Brief an Stahel, in dem er ausdrücklich vor einem Protest des Papstes warnte. Bei meinen Recherchen im Archiv der Anima gelang es mir im September 2011, eine mit der Inventarnummer 373 katalogisierte Aktennotiz des Bischofs ausfindig zu machen, die sowohl den Text dieses Briefes wie die Antwort des Generals enthielt:

„Herrn Generalmajor Stahel, Deutsches Kommando Rom:
Ich darf hier eine sehr dringende Mitteilung anschließen. Eben berichtet mir eine hohe Vatikanische Stelle aus der unmittelbaren Umgebung des Heiligen Vaters, dass heute morgens die Verhaftungen von Juden italienischer Staatsangehörigkeit begonnen haben. Im Interesse des friedlichen Einvernehmens zwischen Vatikan und deutschem Militärkommando, bitte ich vielmals eine Ordre zu geben, dass in Rom und Umgebung diese Verhaftungen sofort eingestellt werden. Das deutsche Ansehen im Ausland fordert eine solche Massnahme und auch die Gefahr, dass der Papst öffentlich dagegen Stellung nehmen wird… (weshalb) diese Judenverfolgungen zu einem weiteren Dissens zwischen Vatikan und Reich führen würden.“

Diesen Brief überbrachte ein weiterer enger Vertrauter des Papstes, der mit dem General bereits persönlich bekannt war: Pater Pankratius Pfeiffer, der Generalobere der Salvatorianer. Pater Pfeiffer, der bei den Verfolgten des NS-Regimes nur als der „Engel von Rom“ bekannt war, versuchte schließlich noch in einem persönlichen Gespräch, Stahel davon zu überzeugen, dass die Deportationen gestoppt werden müssten.
Und tatsächlich: Noch am selben Tag um genau 12.00 Uhr gab SS-Reichsführer Heinrich Himmler Befehl, die Verhaftungen der Juden „mit Rücksicht auf den besonderen Charakter Roms sofort einzustellen“.

Doch was war geschehen? Hatte tatsächlich die päpstliche Intervention Erfolg gehabt, wie es die Verteidiger Pius XII. seitdem behaupten? Oder haben Pius-Gegner wie John Cornwell oder der deutsche Sozialpädagoge Klaus Kühlwein recht, wenn sie behaupten, die Razzia sei ohnehin bereits abgeschlossen gewesen, die SS habe aufgegeben, als sie statt der zuvor ermittelten 8000 nur 1259 Juden aufspüren konnte (auch wenn die SS nicht gerade für ihre Nachlässigkeit bekannt war).

Einen ersten Hinweis gab Lt. Dr. Nikolaus Kunkel , der damals als junger Ordonnanzoffizier bei Generalmajor Stahel diente, im November 2000 in einem Interview mit der KNA. Danach schickte General Stahel seinen Adjutanten zunächst mit einem versiegelten Brief zu Ernst von Weizsäcker; wahrscheinlich dem Hudal-Brief, der nachweisbar noch am selben Tag an das Außenamt in der Berliner Wilhelmstrasse telegrafiert wurde; Ribbentrop leitete ihn am 23. Oktober an den Organisator der „Endlösung“, Adolf Eichmann, im Reichssicherheitshauptamt weiter. In seinem Begleitbrief, so Kunkel, bat Stahel den Botschafter, sich in Berlin für einen Stopp der „Judenaktion“ einzusetzen. Von Weizsäcker ließ Kunkel in seinem Vorzimmer warten. Als er zurückkehrte, hatte er den Brief wieder in der Hand. „Bitte geben Sie ihn dem General zurück“, erklärte er dem Adjutanten, „ich bedaure, dass ich in dieser Angelegenheit leider nicht nützlich sein kann.“ Als Kunkel davon berichtete, verlangte der Generalmajor von seinem Vorzimmer im Hotel Flora an der Via Veneto eine Direktverbindung mit Heinrich Himmler. Der Inhalt des Gespräches mit dem Reichsführer blieb lange ein Geheimnis. Nur eines war sicher: es schadete Stahels Karriere. Nur zwei Wochen später wurde er trotz gesundheitlicher Probleme am 30. Oktober mit sofortiger Wirkung an die Ostfront versetzt. Bei der Verteidigung Warschaus geriet er in russische Gefangenschaft. Nach russischen Quellen verstarb er 1952 in einem Gefängnis in Vladimir östlich von Moskau, nach anderen Berichten 1955 im Kriegsgefangenenlager von Woikowo.

Doch dann löste ein Historiker des Vatikans das Rätsel. Pater Peter Gumpel, S.J., der Geschichte an der Päpstlichen Universität Gregoriana lehrte, leitete jahrzehntelang als Relator (Untersuchungsrichter) den Seligsprechungsprozess Pius XII., dessen „Heroischer Tugendgrad“ im Dezember 2009 von Papst Benedikt XVI. bestätigt wurde. Im Verlauf seiner Ermittlungen gelang es ihm, einen Kronzeugen für diese Episode ausfindig zu machen.

Dietrich Beelitz, später zum Generalmajor befördert, diente damals als Oberst im Generalstab von Generalfeldmarschall Albert Kesselring, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Italien. Als solcher war er Zeuge, als sich Stahel nach Erhalt seines Versetzungsbefehls verabschiedete. Beelitz lebte nach dem Krieg ziemlich zurückgezogen, dachte nie daran, seine Erinnerungen aufzuschreiben und lehnte Interviews von Historikern und Journalisten prinzipiell ab. Doch als Pater Gumpel ihn kontaktierte, war er zu einem vertraulichen Gespräch am Telefon bereit. Dabei erinnerte sich Beelitz noch sehr genau an den letzten Besuch Stahels im Hauptquartier Kesselrings. Er war ziemlich erstaunt gewesen über die plötzliche Versetzung des römischen Stadtkommandanten und fragte ihn damals nach dem Grund. „Das war eine Rachemaßnahme von Heinrich Himmler“, erwiderte Stahel. Der Reichsführer SS fühlte sich von ihm hinters Licht geführt.

„In scharfen Worten“, so Stahel, habe er Himmler auf die Gefahren hingewiesen, die durch die Deportation der Juden drohte. Schließlich sei er für die Versorgung der Truppen verantwortlich, die im Süden Italiens gegen die anrückenden Alliierten kämpften. Bei Tag seien Lebensmitteltransporte fast unmöglich, weil die angloamerikanische Luftwaffe regelmäßig seine Lastwagen angriff, bei Nacht störten die Partisanen den Nachschub. Noch wären das wenige; doch wenn die Verfolgung der Juden fortgesetzt würde, wenn wohlmöglich der Papst protestierte, könne es schnell in Rom zu einem Aufstand gegen die Deutschen kommen, würden die Partisanen unkontrollierten Zulauf bekommen. Die Versorgung der Truppen wäre dann unmöglich, die Südfront verloren. Wenn er, Himmler, dafür die militärische Verantwortung übernehmen wolle, dann solle er das nur tun, drohte Stahel dem Reichsführer. Himmler, der von militärischen Fragen sehr wenig verstand, ließ sich davon beeindrucken und gab sofort den Befehl an die SS, die Judenaktion von Rom abzubrechen. Erst als er erfuhr, dass in Rom alles andere als ein Aufstand drohte und dass der General nur auf eine direkte Intervention des Papstes reagiert hatte, rächte er sich an Stahel und bewirkte dessen Versetzung an die Ostfront.

Da Generalmajor Beelitz keine Öffentlichkeit wünschte, versprach ihm Pater Gumpel, seine Aussage zeitlebens vertraulich zu behandeln. Erst nach seinem Tod 2002 stand einer Veröffentlichung nichts mehr im Wege. So fand das Interview Eingang in die 2004 gedruckte Positio; doch erst im September 2010 erlaubte Pater Gumpel mir die Publikation. Das ein Jahr später im Archiv der Anima entdeckte Hudal-Memorandum bestätigt Beelitz‘ Aussage. In ihm nämlich zitiert der Bischof „aus der Antwort des Generals vom 17. Oktober, telefonisch: ‚Habe die Sache an die hiesige Gestapo und an Himmler unmittelbar sofort weitergeleitet. Himmler gab Ordre, dass mit Rücksicht auf den besonderen Charakter Roms diese Verhaftungen sofort einzustellen sind.“ Zudem erwähnt er einen „eigenhändigen“ Brief Generalmajor Stahels vom gleichen Tag mit dem Wortlaut: „Bezüglich Ihrer Bemerkungen, dass in Rom und Umgebung Verhaftungen von Juden stattgefunden haben, kann ich Ihnen mitteilen, dass ich persönlich als Militärkommandant damit nichts zu tun habe. Es handelt sich dabei um eine reine Polizeiaktion, auf die ich keinerlei Einfluss habe, da meine Aufgaben auf rein militärischem Gebiet liegen. Trotzdem habe ich selbstverständlich Ihre Bedenken den zuständigen Stellen umgehend zur Kenntnis gebracht.“

Tatsächlich endeten also die Verhaftungen der römischen Juden auf Befehl Himmlers. Zudem wurden 252 der bereits Festgenommenen aus den unterschiedlichsten Gründen wieder freigelassen. Doch für 1007 Juden kam jede Hilfe zu spät. Sie wurden nicht, wie es ursprünglich hieß (und man auch im Vatikan glaubte) in das Arbeitslager Mauthausen gebracht, sondern nach Auschwitz. Auch das war eine Vergeltungsmaßnahme – dieses Mal von Adolf Eichmann. So heißt es in den Akten seines Prozesses in Jerusalem in der Anklageschrift: „Als der Papst persönlich zugunsten der Juden Roms intervenierte... und Eichmann gebeten wurde, sie in italienische Arbeitslager zu bringen, statt sie zu deportieren, wurde diese Bitte abgeschlagen – die Juden wurden nach Auschwitz geschickt.“

Wie wenig man das im Vatikan erahnen konnte, beweist die umfangreiche Korrespondenz der folgenden Wochen, die bereits von dem Jesuitenpater und Historiker Pierre Blet et al. 1975 (im 9. Band der „Actes et Documents du Saint Siege relatifs a la Seconde Guerre Mondiale, S. 512 ff.) veröffentlicht wurde. Zunächst bemühte sich das vatikanische Staatssekretariat, so viele der bereits Festgenommenen wie möglich freizubekommen, dann, ihnen zumindest Hilfsgüter und Kleidung für den Winter zukommen zu lassen. So hielt Msgr. Montini, der spätere Papst Paul VI., damals der zweite Mann des vatikanischen Staatssekretariats, "Ex Aud SS.mi", also nach seiner Audienz bei Pius XII. am 18. Oktober, die Worte des Papstes fest: "Tun Sie alles, was Sie können!" Noch einmal versucht er sein Glück durch eine "Demarche zugunsten der arrestierten Juden", wie das nächste Dokument in der Sammlung belegt. Erst jetzt erfuhr er, dass der Zug mit den Deportierten bereits die Ewige Stadt verlassen hatte. Am 23. Oktober wurde Botschafter von Weizsäcker erneut in den Vatikan bestellt und dieses Mal von Pius XII. persönlich empfangen. Auf die Bitte des Papstes, sich für die römischen Juden einzusetzen, erwiderte dieser zynisch: „wenn Sie etwas wegen der Deportation dieser Juden machen wollen, dann machen Sie es bald.“ Noch am 3. November und am 29. Dezember 1943 forderte Kardinal Orsenigo den deutschen Botschafter dringend auf, „Informationen über die deportierten Juden“ zu beschaffen, die man wohl noch immer für „Geiseln in Mauthausen“ hielt, leider beide Male ohne Erfolg. Am 20. Januar 1940 versucht Msgr. Montini schließlich, das Gerücht (!) zu überprüfen, die römischen Juden seien „in ein Konzentrationslager in Polen“ gebracht worden. Am 8. Februar 1940 bittet das vatikanische Staatssekretariat dann die Mission Catholique Suisse, Ermittlungen über ihr Schicksal anzustellen. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten von ihnen längst in Auschwitz ermordet worden.

Doch so hoch auch der Preis war, zumindest wurden durch die Intervention an die 6500 römische Juden gerettet. Da trotzdem die Gefahr bestand, dass die SS erneut zuschlug, ordnete Pius XII. an, sie in römischen Klöstern, päpstlichen Universitäten, religiösen Instituten und auf dem Vatikangelände zu verstecken. So berichtete Israel Zolli, der Oberrabbiner von Rom: „Der Heilige Vater sandte ein Handschreiben an die Äbte und Bischöfe, in dem er sie anwies, die Klausur in den Klöstern und Konventen aufzugeben, damit sie Zufluchtstätten für die Juden werden konnten.“ Das bestätigt ein handschriftlicher Eintrag in der Chronik des Augustinerinnenklosters SS. Quattri Coronati in Rom vom 1. November 1943: „In dieser schlimmen Situation wünschte der Heilige Vater, seine Söhne, auch die Juden, zu retten und wies an, dass die Konvente den Verfolgten Zuflucht und Gastfreundschaft gewähren, und auch die Klausurklöster sollten diesem Wunsch des Papstes folgen.“ Laut dem Zeitzeugen und israelischen Holocaust-Forscher Michael Tagliacozzo (1975) erhielten 4238 Juden in 155 römischen Klöstern Asyl, während 477 von ihnen auf vatikanischem Territorium versteckt wurden. Für rund 3000 Flüchtlinge, darunter viele Juden, wurde zudem die päpstliche Sommerresidenz Castel Gandolfo geöffnet. Während dort die meisten Schutzsuchenden auf Treppen und Steinböden schliefen, stellte man die wenigen Betten Kranken zur Verfügung. In rund 40 Fällen brachten schwangere Frauen ihre Kinder im Schlafzimmer des Papstes zur Welt; sie bedankten sich nicht selten, indem sie ihre Söhne „Eugenio“ oder „Pio“ nannten. In keinem von den Nazis besetzten Land Europas überlebte ein so hoher Prozentsatz an Juden wie in Italien, in keiner Stadt waren es so viele wie in Rom – Dank Pius XII. und seiner klugen Initiative.

Michael Hesemann, Historiker und Autor von 44 Büchern zu Themen der Kirchengeschichte, forscht seit 2008 in den Archiven des Vatikans. Für seine Entdeckung von 3000 Dokumenten zum Völkermord an den Armeniern 1915/16 wurde er von der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Republik Armenien 2016 mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. In seinem jüngsten Buch, „Der Papst und der Holocaust“, wertet er erstmals die Dokumente des Vatikans zur Judenverfolgung der Nazis aus.

Pius XII. und die Juden - Mit Zeitzeugenberichten von italienisch-jüdischen Holocaustüberlebenden!



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Lesermeinungen

 goegy 17. Oktober 2018 
 

Dank wiederholten gemeinsamen Sommerferien am selben Ort am Comersee, hatte sich meine Familie mit jüdischen Gästen aus Mailand und Turin befreundet.

Zur Zeit als das Hochhutsche "Stellvertreter" Machwerk in den Medien eine geradezu penetrante Aufmerksamkeit erhielt - teilweise bis hinunter nach Italien - wehrten sich jene entschieden gegen diese an den Haaren herbeigezogene Interpretation der Geschehnisse. Teilweise waren diese Familien oder deren Verwandte selbst direkte Zeitzeugen gewesen.

Eine gemischt protestantische und kommunistische Allianz setzte alles daran, das bislang geradezu heiligenähnliche Bild Pacellis zu zerstören. Jüdische Theatermacher, welche die Wahrheit aus direkten Quellen kannten, weigerten sich, das Stück aufzuführen. Die deutschen Presse aber unterschlug - besonders die linkslastige - jede objektive Gegendarstellung aus authentischen Quellen.
Pius XII musste kaputt gemacht werden. Daran war man aus unterschiedlichen Gründen interessiert!


13
 
 Eliah 17. Oktober 2018 
 

Die Wahrheit

Auch diese Enthüllung wird wohl diejenigen nicht beeinflussen, die Hochhuths Haßtiraden über den angeblichen "satanischen Feigling" Pius XII. nachplappern. Aber die Wahrheit ist schließlich nicht abhängig davon, daß sie von einer Mehrheit der Menschen erkannt wird.


18
 

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