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Glaube und Diskriminierung: Zustände wie im alten Rom?

12. Jänner 2018 in Kommentar, keine Lesermeinung
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Eine freie Gesellschaft muss zurückhaltend sein, wenn sie merkt, dass sie religiöse Menschen in Gefahr bringt, gegen ihr Gewissen handeln zu müssen. Gastkommentar von Generalvikar Markus Grichting/Neue Zürcher Zeitung


Zürich (kath.net/NZZ) Hebamme oder Gynäkologe zu werden, ist in der Schweiz für Betroffene ein Spiessrutenlauf, wenn sie sich weigern, an Abtreibungen mitzuwirken. Christliche Bäcker, die sich weigerten, für eine gleichgeschlechtliche Eheschliessung eine «Hochzeitstorte» zu backen, sind in westlichen Ländern im Namen der Nichtdiskriminierung verurteilt worden. Ebenfalls wurden schon Gläubige bestraft, die in ihrem Bed and Breakfast keine gleichgeschlechtlichen Paare aufgenommen hatten. Wirtschaftsfreiheit zählte da nicht mehr.

Ähnliche Probleme stellten sich den Christen schon im alten Rom. Zwar heisst es im Brief an Diognet aus dem 3. Jahrhundert, dass die Christen «weder durch Heimat noch durch Sprache und Sitten von den übrigen Menschen verschieden» seien und sich «der Landessitte in Kleidung, Nahrung und in der sonstigen Lebensart» fügten. Es galt aber auch: «Sie heiraten wie alle andern und zeugen Kinder, setzen aber die Geborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, aber kein gemeinsames Lager.» Aufgrund solcher Überzeugungen und ihres Glaubens an den einen Gott wurden die Christen marginalisiert und konnten bestimmte Berufe nicht ausüben.

Wenn der Staat Verhaltensweisen erlaubte, die sich den Christen verboten, entschieden sie sich für den Rückzug. In einem Katalog für Taufbewerber aus dem frühen 3. Jahrhundert, in der «Traditio apostolica», heisst es: «Wenn einer Bildhauer ist oder Maler, muss man ihn darüber belehren, keine Götzenbilder anzufertigen. Entweder hört er damit auf, oder er wird zurückgewiesen.» Auch Berufe wie Gladiator, Sänger und Darsteller von Gottheiten waren unvereinbar mit dem Empfang der Taufe, ebenso öffentliche Ämter, wenn sie zur Götzenverehrung verpflichteten. Der Bischof Johannes Chrysostomus begründete dies so: «Führe mir nicht die Gesetze an, die von denen erlassen sind, die draussen sind. Gott wird dich an jenem Tag nicht nach diesen Gesetzen richten, sondern nach denen, die er selbst erlassen hat.»


Religion darf kein Vorwand dafür sein, gegen das für alle geltende Recht zu verstossen.

Diese mit ihrer Glaubensüberzeugung verbundene Marginalisierung haben die Christen gleichmütig ertragen. Auf die Barrikaden gingen sie erst, als der römische Staat von ihnen verlangte, Dinge zu tun, die sie nicht tun durften: Götzenopfer vollziehen und den Kaiser als gottähnliches Wesen verehren. Dafür sind Tausende im Römischen Reich in den Tod gegangen, freilich im Wissen darum, dass das Blut der Christen der Same der Christenheit ist, wie Tertullian festgestellt hat. Und man wird sagen dürfen: Dieses Blut war auch der Same der Gewissens- und der Religionsfreiheit. Solchen Widerstand von Christen hat es auch in späteren Jahrhunderten gegeben. Es waren gerade Christen – nicht nur Katholiken –, welche dem Stalinismus und dem Nationalsozialismus Widerstand bis in den Tod geleistet haben.

Vladimír Palko, der von 2002 bis 2006 als slowakischer Innenminister amtierte, hat schon mit dem Titel seines Werks «Die Löwen kommen» auf die Zustände im Römischen Reich angespielt. Er vertritt, untermauert von zahlreichen Beispielen, die These, dass die Christen heute in den westlichen Demokratien wieder dort angekommen seien, wo sie im Römerreich gestanden hätten: am Übergang von der Diskriminierung zur Verfolgung in der Arena. Freilich besteht der zivilisatorische Fortschritt darin, dass heute nicht mehr Blut fliesst, sondern nur noch Druckerschwärze. Abgeschnitten wird nicht mehr der Kopf, nur noch die Ehre.

Freilich besteht der zivilisatorische Fortschritt darin, dass heute nicht mehr Blut fliesst, sondern nur noch Druckerschwärze.

Es fragt sich allerdings, ob das für westliche Demokratien und die darauf beruhenden offenen Gesellschaften ausreicht. Auf den Spuren Tocquevilles hat John Stuart Mill einen «Schutz gegen die Tyrannei des vorherrschenden Meinens und Empfindens» gefordert. Es gebe eine «Grenze für die rechtmässige Einmischung öffentlicher Meinung in die persönliche Unabhängigkeit», betont er in «On Liberty». Und diese Grenze zu finden, sei für eine gute Verfassung der menschlichen Angelegenheiten «ebenso unerlässlich wie Schutz gegen politische Willkür».

Christen müssen also bereit sein, für ihre Überzeugung Nachteile in Kauf zu nehmen. Eine freie Gesellschaft muss ihrerseits zurückhaltend sein, wenn sie merkt, dass sie religiöse Menschen in Gefahr bringt, gegen ihr Gewissen und ihre Überzeugungen handeln zu müssen. Hier ein Gleichgewicht zu finden, wird nie leicht sein. Religion darf kein Vorwand dafür sein, gegen das für alle geltende Recht zu verstossen. Aber es muss auf der anderen Seite für die freie Gesellschaft auch gelten, was Mill gefordert hat: «Der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, ist der: sich selbst zu schützen.» Alles, was darüber hinausgeht, ist «soziale Tyrannei». Und diese ist «fürchterlicher als viele andere Arten politischer Bedrückung». Wenn eine freie Gesellschaft gegenüber dieser Gefahr nicht mehr sensibel ist, droht sie sich selbst abzuschaffen.

Martin Grichting ist Generalvikar des Bistums Chur.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) erschienen.

Symbolbild: Mobbing



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