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'Ich war freigestellt worden für die Seelsorge in der Sowjetunion…'

30. Juli 2015 in Spirituelles, 2 Lesermeinungen
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In der Kirche, wenige Schritte von der Orgel entfernt, sollte ich ab jetzt wohnen: Eine Matratze auf Brettern, ein schmaler Tisch, ein Regal – mehr passte nicht rein. Rückblick auf 25 Jahre als Seelsorger in Russland. Von Bischof Clemens Pickel


Saratow (kath.net) Saratow, den 27.07.2015. Liebe Freunde! In der Nacht vom Samstag zum Sonntag, jetzt, vom 1. auf den 2. August, wird es genau 25 Jahre her sein, …

Ich war freigestellt worden für die Seelsorge in der Sowjetunion und reiste mit zwei Koffern, einer Umhängetasche und einem Halbjahresvisum ins Land ein. Vorher hatte ich einen ganzen Monat Urlaub gemacht, hatte die offenen Grenzen genossen, Papst Johannes Paul II. gesehen und seine Hand im Tumult einer Generalaudienz gestreift. Ich übernachtete in der Villa Lituania, beim früheren Pfarrer von Duschanbe, der jetzt in Rom studierte. Der zweite Golfkrieg stand unmittelbar bevor. Am Nachmittag des 1. August flog ich von Berlin-Schönefeld nach Leningrad (heute: Sankt Petersburg) und von dort über Nacht mit zwei Zwischenstopps zum Tanken über Kazan und Leninabad nach Duschanbe. Die letzte Etappe im Morgengrauen dauerte nur eine halbe Stunde. Bei der Landung in der Hauptstadt der Tadschikischen Sowjetrepublik war die Sonne noch nicht aufgegangen. Aber es war hell und still. Ein ungewohnter, feiner gelblicher Staub lag in der Luft. Pater Hieronymus und Jura holten mich ab und schleppten meine Koffer.

Ich bekam das winzige Zimmer meines Freundes, des ehemaligen Organisten Georg Gsell, der mit seiner Familie nach Wuppertal ausgewandert war. In der Kirche, wenige Schritte von der Orgel (Odessa, 1912) entfernt, sollte ich ab jetzt wohnen: Eine Matratze auf Brettern, ein schmaler Tisch, ein Regal – mehr passte nicht rein. Fenster zum Hof hin. Bei gutem Wetter sah man, über das Weinlaub hinweg, die Berge Tadschikistans. In jenem Zimmer habe ich zwei Monate lang, fast täglich, vor dem Einschlafen überlegt, wie ich es anstellen könne, zumindest ein Jahr von den drei vom Dresdener Bischof zugestandenen auszuhalten, um dann ohne mich zu blamieren, nach Deutschland zurückzukehren. Nein, ich war tagsüber nicht traurig. Noch im August führten wir die Religiösen Kinderwochen ein. Ich begann, mit Tante Zhenja, einer flinken Oma, Kranke in der Stadt zu besuchen. Sie lernte mir, grüne Gurken mit Honig zu essen und russisch zu sprechen. Das war eine Katastrophe! Ich saß vor dem Fernseher um Nachrichten zu schauen, und verstand kein Wort. Es ging mir alles zu schnell.

Regelmäßig war ich am Sonntagnachmittag für die Außenstation eingeteilt: Kurgan-Tjube, 95 km südlich. Und von da ging es dann am Abend zur dritten Messe nach Wachsch, „unweit der afghanischen Grenze“, hieß es immer. Wenn ich so schreibe, fallen mir Geschichten ein, die ein Buch füllen könnten, z.B. von der alten, armen Frau, die freitags zu Hause aufbrach, um Sonntagnachmittag in Kurgan-Tjube zur Messe zu sein. Wir sahen sie selten, hörten sie aber schnarchen, oben auf der Empore. Oder vom Vetter Pius, dem Nachtwächter, der sich schämte, mit mir zu essen, weil er nicht wusste, wie man Besteck in die Hand nimmt! Mir fällt die Katze ein, die während meiner Predigt unter dem Priestersitz einschlief, die Kuh, die an Mariä Himmelfahrt zur Kirchentür hereinschaute, die Hitze, die Autos, die es darauf ankommen ließen und noch, als es schon ganz dunkel war, nur mit Begrenzungslämpchen fuhren. Montags kehrte ich zurück, oft mit dem Linienbus, einem alten rußenden Ikarus, wie es ihn in allen Ostblock-Staaten gab, nur ungepflegter, als ich es gewohnt war. Ich war der einzige Ausländer, schon beim Fahrschein Kaufen in der langen Schlange (bzw. Traube) vor der Kasse.

Wir hatten manchmal Gäste. War doch die Sowjetunion dabei, sich zu öffnen und – was sie selbst noch nicht wusste – zu zerfallen. So lernte ich Leute von „Kirche in Not“ kennen, und Norbert Laubstein aus Berlin. Pfarrer Rachwalski aus Leipzig kam, um erstmals einen Exerzitienkurs für die (alle deutschsprachigen) Priester Mittelasiens zu begleiten. Drei Erfurter Studenten kamen über die Berge zu uns in den Talkessel der Stadt, die so groß wie Leipzig war, und wo Fotoapparate und Thermometer noch Seltenheitswert hatten. Wenn draußen über 40 Grad im Schatten waren, wurde es im Radio nie zugegeben, „damit die Leute nicht in Panik geraten würden“, so erklärten es mir die einfachen Leute. Man könne es aber sehen: „Wenn alle auf der Straßen langsam laufen, dann sind über 40 Grad“. Mir fallen auch die drei oder vier Telefongespräche nach Deutschland ein, die ich im Laufe des Jahres geführt hatte. Man musste drei Tage vorher zur Post das Gespräch anmelden. Die gewünschte Minutenzahl war anzugeben. Und bezahlt wurde im Voraus. Dann konnte es vorkommen, dass die Leitung nachts gegeben wurde: „Hallo, sie haben nach Deutschland bestellt? Bleiben sie dran!“ Dann ging’s los. Von einer Telefonistin zur anderen wurde durchgeschaltet. Es dauerte einmal fast 30 Minuten, bis die Leitung stand. Statt nach bezahlten sieben Minuten, konnte das Gespräch auch schon nach fünf Minuten zusammenbrechen. Das war’s dann.

Kinder und Jugendliche kamen gern zur Kirche. Als junger Kaplan aus Deutschland hatte ich eine Menge Ideen, was man mit ihnen alles machen könne. Und es gab Ordensschwestern in der Gemeinde, nicht nur in ziviler Kleidung, sondern auch in Zivilberufen. - Ein letzter Hauch von Untergrundkirche. In der Gemeinde waren sie ehrenamtlich tätig. Duschanbe hatte doch wohl die erste Kirche in der UdSSR, in der der Priester am Altar mit dem Gesicht zur Gemeinde hin zelebrierte, also ohne zumindest kleinen Hochaltar an der Wand. „Aus Duschanbe kommen Sie? Das ist doch da, wo die Kirche keinen Altar hat“, meinte einmal eine alte, tiefgläubige Großmutter in Kasachstan zu mir. Es gab Dinge, die ich den Leuten lernen konnte. Und ich lernte von den Leuten.


Im Oktober 1990 und zu Weihnachten noch einmal, flog ich zum Helfen nach Sibirien. Die Flugzeuge, die nicht nach Moskau flogen, waren deutlich älter: Mit einer Tu-154 ging es über Alma Ata nach Novosibirsk. Ich lernte Tomsk kennen, wo gerade die alte katholische Kirche an die neugegründete Gemeinde zurückgegeben worden war. Links vorn saßen die Deutschen, rechts die Polen, hinten die Russen. Damit es keinen Streit gab, war die Messe in Lateinisch. Das kam auch mir entgegen, denn obwohl ich nie ein großer Lateiner war, fiel es mir leichter als die russische Liturgiesprache. Eines Tages wurde ich mitten im Choral-Gesang des Glorias („Ehre sei Gott in der Höhe“) stutzig. Da war die ganze Gemeinde unbemerkt vom Gloria ins Credo (Glaubensbekenntnis) gerutscht. „Halt!“ rief ich, „nochmal von vorn.“

Oh, ich habe selbst nicht vorhergesehen, worauf ich mich mit dem heutigen Brief eingelassen habe. So komme ich nicht vorwärts! Ich dachte nur, dass doch 25 Jahre ein Datum seien…! Kurz vor Mitternacht hole ich heute eine Jugendliche vom Bahnhof ab, die zu Exerzitien anreist. Um es nicht zu verschlafen, habe ich mich hingesetzt, und zu schreiben begonnen.

Ein kleines Erdbeben habe ich dort in Tadschikistan erlebt, und dann – im übertragenen Sinne – ein großes: Pater Joseph Werth SJ, der Pfarrer in Marx, wurde zum Bischof für Sibirien ernannt. Noch bevor davon gesprochen werden durfte, lud er mich zum Weißen Sonntag 1991 nach Marx ein, damit ich mir seine Gemeinde anschaue. Eigentlich wollte ich mich „anschauen“, scheint mir, ob ich passe, als Nachfolger, wenn er nach Sibirien geht. Und so kam es! Einige Tage nach meiner Rückkehr vom Besuch bei den Wolgadeutschen, brachte man mir aufgeregt die „Izvestia“ (sowjetische Tageszeitung), worin zu lesen war, dass der Papst zwei Bischöfe für Russland und einen für Mittelasien ernannt hätte. Alle freuten sich. Nur ich nicht. Hatte ich Pater Joseph doch beim Abschied in Marx versprochen, dass ich kommen würde, „falls er weg müsse“. Lange konnte ich es keinem sagen, dass ich gehe. Noch auf manchen Fotos von Pater Josephs Bischofsweihe am 16. Juni 1991 in der Moskauer Sankt Ludwigskirche kann man sehen, wie traurig ich war, meine Wahlheimat Duschanbe aufgeben zu müssen. Von Moskau flog ich nach Saratow – Marx. Wenige Monate später begann in Tadschikistan ein Bürgerkrieg. Ich flog damals noch einmal hin, um einer Schwester vielleicht lebensnotwendige Medikamente gegen Hepatitis zu bringen. Auf dem Weg vom Flughafen zur Kirche, für den ich den Fußweg zwischen Garagen und Schuppen wählte, riefen zwei Männer hinter mir „Stoj!“ (Halt!). Ich hörte ein Geräusch, dass ich nur aus Filmen kannte: Einer der beiden entsicherte sein Gewehr. Weil ich Ausländer war, ließen sie mich gehen.

Am Tag meiner Einführung als Pfarrer in Marx, wurden 154 Jugendliche und Erwachsene gefirmt, von beiden Bischöfen Russlands: Thaddäus Kondrusewicz, der Ortsbischof, war aus Moskau angereist. Joseph Werth, nun Bischof des asiatischen Teils Russlands, half mir die ersten Schritte an der Wolga zu machen, bevor er nach Sibirien ging. Dann war ich zum ersten Mal allein als Priester. Die größte Herausforderung waren die Beichten junger Leute in russischer Sprache. (Ich selber flog zum Beichten nach Moskau, anfangs für 2,50 DM. Aber es gab keine Flugscheine. Man musste exakt 30 Tage vorher kaufen. Davor gab es noch keine, später schon keine Plätze mehr. Nur, wer ein Telegramm hatte, kam noch kurzfristig mit, denn „Telegramm“ hieß: Todesfall in der Familie.) Einmal ließ ich mir ein Telegramm aus Deutschland schicken, worin stand, dass unser neuer Lada-Niva mit einem Transport von Berlin bis Moskau gebracht war und wir ihn abholen könnten. Das Telegramm war in Deutsch geschrieben. Ich reichte den Schnipsel eineinhalb Stunden vor Abflug durchs Fensterchen an der Kasse und bekam mein Ticket.

Bei starkem Regen auf der Rückfahrt von Moskau nach Marx brannte die Sicherung vom Scheibenwischer des neuen Autos durch. Als ich endlich müde war, fuhr mein Beifahrer weiter, der immer was von Verwandten in Wolgograd, direkt am Weg, murmelte. „Das sind 800 km weiter“, erklärte ich ihm. In Geographie kannte ich mich aus. Wir hatten auch so schon 1.000 km zu fahren. Und Benzin war überall knapp. Mitten in der Nacht wurde ich am Beifahrersitz wach und nahm einen Wegweiser nur halb wahr. Ein paar Minuten später bat ich anzuhalten, übernahm wieder das Steuer und kehrte erst einmal um. Wir hatten „versehentlich“ den Abzweig nach Osten verpasst und befanden uns schnurstracks auf dem Weg nach Wolgograd.

Weihnachten mit 300 Kindern in der kleinen Kirche, und die Erwachsenen bei -22 Grad draußen vor den Fenstern; 52 Außenstationen im Umkreis Tausender von Kilometern; die Fahrten dorthin, und die Leute, die da auf uns warteten; der Kirchbau und eine zweieinhalbjährige Gerichtsverhandlung, bei der jemand sein Geschäft mit uns zu machen versuchte; die jungen, fröhlichen Ordensschwestern; die erschütternden Erzählungen derer, die verschleppt, verhört, verhöhnt wurden, deren Eltern „abgeholt“ und umgebracht wurden, und die mit nicht nachahmbarer Intonation aus dem Philipperbrief zitierten: „Unsere Heimat ist im Himmel“ … Alles ist Grund zum Innehalten, Erinnern und Danken. Ich habe wirklich sehr viel zu danken, wenn ich auf die vergangenen 25 Jahre zurückschaue. Mein „Deutsches Büro“ - die Eltern zu Hause, kann ich dabei nicht übersehen, und viele andere, die Hilfswerke, die Bistümer Dresden-Meißen und Osnabrück. Ohne den Rückhalt aus Deutschland wäre vieles nicht möglich gewesen.

Es hat sich viel verändert. Die katholischen Deutschen – Grund meiner Entscheidung für die Sowjetunion - die Jahrzehnte lang auf Priester gewartet hatten, sind gestorben oder ausgewandert. Aber gerade am Anfang der 90-iger suchten viele Menschen, wollten glauben, wollten beten und baten um Hilfe. Zwar wuchs die Zahl der Priester und Ordensleute, die aus dem Ausland zu Hilfe kamen. Sie wurden aber auch müde und kehrten irgendwann wieder heim, viele. Müde von den physischen Belastungen der Diaspora, von der ganz anderen Einsamkeit, als sie sie gewohnt waren, von einer oft schamlosen Unehrlichkeit im öffentlichen Leben, von den ständig steigenden Preisen und dem angewiesen-Sein auf Spenden. Massive und anhaltende Vorwürfe machten uns die Seelsorge jahrelang schwer, weil auch Russen zur katholischen Kirche kamen. Es scheint hier in wichtigen Fragen nicht üblich, um Verzeihung zu bitten. „Und warum sind Sie noch nicht müde?“ wurde ich manchmal gefragt. „Wunderbare Menschen“ waren mein Argument, aber manchmal – besonders in letzter Zeit – widersprach ich. Auch ich sei müde, mitunter sehr. Ohne depressiven Beigeschmack, würde ich das gern – wie man auf Neudeutsch sagt – so stehen lassen.

Inzwischen bin ich viel länger Bischof in Russland als ich hier Pfarrer war. Jene Veränderung in meinem Leben hatte etwas Trauriges an sich, muss ich zugeben und vielleicht auch ein wenig erklären. Ich wollte nie Bischof werden. Es brauchte ein paar Wochen, bis ich es innerlich annehmen konnte. Ehrlich gesagt, fühle ich mich auch heute, mehr als 17 Jahre nach der Weihe, noch nicht als Bischof, und ich bin froh, dass ich weiterhin (auch) Priester bin. Aber ich habe nicht mehr „meine“ Gemeinde, die – zumindest hier bei uns – so etwas wie eine Familie ist. Hausbesuche, Beichten, gemeinsames Beten, erzählen, erziehen, Kranke besuchen, … Das fällt im Bischofsleben ziemlich unter den Tisch, ob man will oder nicht. Schade! (Ich sage das auch, um ein wenig Mitleid mit den Bischöfen zu wecken.) Ein Vorteil ist es hingegen, dass Reisen im Bistum, aber auch mal nach Rom, zu den Pflichten gehören. Das ist ein Privileg: überall auf der Welt Menschen begegnen zu dürfen, die an Christus und sein Evangelium glauben, die sich Mühe geben, menschliche Menschen, gute Christen, zu sein. Ich bin schon drei Päpsten im Vatikan begegnet, aber auch einer gelähmten Mutter eines ständig betrunkenen Sohnes, der sich nicht darum kümmerte, dass sie seit Monaten in schmutziger Bettwäsche auf einem Sofa in einem Kaukasus-Dorf lag. Ich kenne unsere Pfarrgemeinden im Bistum. Es sind 25 Städte, in denen Priester wohnen – auf einer Fläche, die vier Mal größer als Deutschland ist. Grob gerechnet würde das bedeuten: Stellen Sie sich ganz Deutschland vor, mit nur sechs Pfarrgemeinden, … So kann man dann in etwa ahnen, wie weit die Pfarrgemeinden bei uns auseinander liegen. (Natürlich, Deutschland hat andere Zahlen, andere Strukturen. Aber einfach so, um die Entfernungen ein wenig deutlich zu machen, die Mühen, das Alleinsein, das Benzingeld u.v.m. Auch die Frage, was denn dann die Leute machen, die irgendwo dazwischen wohnen, wenn es Hunderte Kilometer von einer Pfarrei zur anderen sind, lohnt sich gestellt zu werden. Ohne Auto, ohne Kirchennachrichten, …)

Nun ist es soweit, die Jugendliche vom Bahnhof abzuholen. 27.07.2015, 23:00. Fortsetzung folgt.


Dienstag, 28. Juli, wieder spät abends. So vieles habe ich ausgelassen, gestern beim Schreiben! Und heute kann das nicht anders werden.

Wie ich die Sprache gelernt habe (nach 6 motivationslosen Jahren Russisch in der sozialistischen Schule), war interessant. 1991 saß ich vor jeder Messe mit Kindern auf einer Bank vor unserem Bethaus in Marx und las ihnen schon mal probehalber das Evangelium vor. Die Kinder zeigten mir, wo ich die Betonungsstriche setzen sollte. Erst viel später begann ich zu begreifen, dass jene Kinder selbst nicht wussten, wie man diese ganzen religiösen Wörter liest. Der christliche Wortschatz war total weg! „Von Gott zu reden, ist gefährlich“, hieß das Buch eines Untergrundpriesters. „10 Jahre Sibirien“ oder Schlimmeres konnte man dafür bekommen. Das Übersetzen des sogenannten Weltkatechismus (Katechismus der katholischen Kirche) ins Russische hat fast 10 Jahre, bis 2001 gedauert. Man zog die religiöse Sprache des 19. Jahrhunderts heran, als man noch christliche Gedanken in Russisch äußern durfte. Diese veraltete Sprache hatte sich bei Theologen im Exil (Frankreich) über die Zeit der Sowjetunion hinüber retten können. Gleichzeitig bat man moderne Natur- und Sprachwissenschaftlicher in Moskau um ihre Übersetzung. Aus beidem wurde unser Katechismus, die Grundlage der heutigen Sprache katholischer Kirche in Russland.

Auch, weil ich zuhören durfte, konnte ich lernen. Täglich war abends Katechese in einem der Dörfer, 30 bis 50 km von Marx entfernt. Die Schwestern unterrichteten. Ich hospitierte. Ohne Hilfsmaterialien und Technik, verstanden sie es, Groß und Klein erzählend zu fesseln und zu bewegen. Ich habe viele echte Bekehrungen vom Unglauben zum Glauben erlebt, letztlich in der Beichte, als einziger Priester im Umkreis von Tausenden Kilometern.

Von Anfang an habe ich Briefe geschrieben, Rundbriefe an Freunde und Verwandte. Erst mit meiner Schreibmaschine, dann am Computer. Seit Juli 2009 setze ich, inzwischen fast täglich, eine kleine Notiz über das Leben hier ins Internet, um Freunde zu informieren (und „bei der Stange zu halten“). Manchmal tut es mir leid, dass das alles irgendwie einseitig bleibt. Die meisten scheinen auf das angewiesen zu sein, was geschrieben ist. Lesen zwischen den Zeilen erfordert Kenntnisse, Weisheit, … ist eine Kunst. Und außerdem gibt es noch das, was ich auch zwischen den Zeilen nicht sage, Ängste, Freuden, Gebet, …

„Was wollen Sie unseren Lesern zum Schluss noch sagen?“, fragen Journalisten oft stereotyp. Irgendwo muss ja auch ich zum Ende kommen. Ich habe diesen kleinen Brief gestern zu schreiben begonnen, weil ich wirklich etwas sagen wollte: Ich bin Gott und vielen Menschen von Herzen dankbar, einigen ganz besonders, dass ich diesen Weg geführt und begleitet wurde und ihn schon 25 Jahre gehen darf.

Übrigens: Als ich meinem Regens im Priesterseminar Mitte der 90-iger einmal sagte, dass ich vielleicht später als Priester in die Mission gehen möchte (ich dachte an Tansania), antwortete der mir messerscharf: „Sie werden Priester in der DDR, oder sie werden überhaupt nicht Priester.“ (So hatte man damals Angst, dass die jungen Leute alle nur raus wollten.) Ich ging mit kalten Händen aus seinem Zimmer. – Erst nach der Priesterweihe meldete sich der Herr wieder zu diesem Thema. Und er präzisierte: Nicht um Tansania gehe es, sondern um die UdSSR.

Ich möchte also DANKE sagen. Und ich möchte auch bitten, für unsere kleine Kirche und mich. Vor 25 Jahren war es einfacher hier. Wir sind eine „Mini-Struktur“, auch wenn sich das Ganze kirchenrechtlich gesehen „Diözese“ nennt. Wir sind und bleiben angewiesen auf Hilfe, Verständnis, Interesse, Gebet, auf Freundschaft, die tiefer ist als Partnerschaft zwischen Institutionen. Ich bin Priester, um Menschen zu helfen, Gott mit „Du“ anzusprechen und bei ihm zu Hause zu sein, auch wenn er schweigt. Und nochmal „übrigens“: Ich bin hier in Russland Priester geworden, drei Jahre nach meiner Priesterweihe. (Wem das zu paradox klingt, der muss es vielleicht nochmal lesen.)

Natürlich werde ich mich am Samstag an den Beginn vor 25 Jahren erinnern. Es wird während eines Exerzitienkurses für Jugendliche sein, die es ernsthaft erwägen, ihr Leben Gott in die Hände zu legen. So etwas gibt es, heute, hier… Ach, schade, aber irgendwo muss ich Schluss machen.

Der Herr möge jedem von uns seinen Weg zeigen, Stück für Stück;
und er möge uns beschützen, ziehen, schieben und manchmal ausruhen lassen;
er sei der Frieden und die Freude auf dem Grund unserer Herzen!

Ihr Clemens Pickel

kath.net-Buchtipp:
Mit Herz & Seele
Ermutigende Gedanken eines deutschen Bischofs in Russland
Von Clemens Pickel
Hardcover
128 Seiten; zahlr. Farbabb.;
2014 St. Benno
ISBN 978-3-7462-4026-8
Preis 9.95 EUR

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Bischof Clemens Pickel: Mit Herz & Seele - Ermutigende Gedanken eines deutschen Bischofs in Russland


Foto Bischof Pickel © Clemens Pickel


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Lesermeinungen

 Paddel 31. Juli 2015 

Lesenswert!


0
 
 follower 31. Juli 2015 

Die frohe Botschaft

ist in diesem Brief in die Praxis umgesetzt. N eben den vielen schlechten Nachrichten, die uns täglich begegnen, ist dieser Bericht etwas so Positives. Ich bete für Sie Herr Bischof Pickel und danke Ihnen.


5
 

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