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Der Beitrag der Kirche zur Zukunft Europas

6. November 2014 in Aktuelles, 7 Lesermeinungen
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Walter Kardinal Brandmüller: Europa muss die Neugier und den Mut aufbringen, das ‚katholische Experiment’ zu wagen. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „In der dramatischen kulturgeschichtlichen Situation von heute stellt sich in der Tat die Frage, ob dieses krisengeschüttelte Europa nicht doch die Neugier und den Mut aufzubringen vermöchte, das ‚katholische Experiment’ zu wagen“. Der emeritierte Präsident des Päpstlichen Komitees für Geschichtswissenschaften, Walter Kardinal Brandmüller, ist sich sicher: es kann kein Europa ohne eine Idee von Europa geben, und diese „Idee“ kann nicht von ihren christlichen Wurzeln absehen. Eine eigentliche „Revolution“ für den alten Kontinent besteht darin, den Mut zu haben, im Horizont der Wahrheit und auf dem Fundament des natürlichen Sittengesetzes jene neuen Schritte zu tun, die aus einer Krisensituation herauszuführen vermögen. Dieser Weg ist „katholisch“.

Der Kardinal äußerte sich hierzu in einem Vortrag in Nursia (Umbrien) am 25. Oktober 2014 anlässlich des 50. Jahrestages der Ausrufung des heiligen Benedikts von Nursia zum Patron Europas.

******

Seitdem – angestoßen von den großen Europäern und Katholiken Adenauer, De Gasperi und Schumann – der europäische Einigungsprozess in Gang gekommen ist, wurde und werden in Vorträgen und Veröffentlichungen etc. die christlichen Wurzeln Europas beschworen, jenes Europas, das seine in zwei Jahrtausenden gewachsene geistige und kulturelle Identität auf jenes Erbe zurückführt, für das die Namen Athen, Jerusalem und Rom stehen. Von Mekka und Medina ist in diesem Zusammenhang besser nicht die Rede.

Aber dies alles soll uns heute nicht beschäftigen. Unser Blick richtet sich vielmehr in die Zukunft und wir stellen die Frage: Was kann die katholische Kirche – die uns jenes Erbe übermittelt hat und auch heute überliefert – zur Gestaltung des Europa der Zukunft beitragen, damit es menschenwürdig, menschenfreundlich und deswegen auch dem Willen des Schöpfers entsprechend wird.

Dabei vergessen wir nicht, dass die Kirche nicht nur Verkünderin des Evangeliums Christi ist, sondern sich stets auch als Hüterin der natürlichen Geistesgüter, des Wahren, Guten und Schönen, verstanden hat. Die Gnade setzt die Natur voraus.
Darum besteht der Beitrag der Kirche zur Zukunft Europas noch vor der Verkündigung des Evangeliums Christi in der – sagen wir es einmal so – Wiederinstandsetzung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens, menschlicher Gesellschaft.

Die aktuelle soziale Wirklichkeit

Dass dies eine vitale Notwendigkeit ist, ergibt schon ein oberflächlicher Blick auf die gesellschaftliche Realität von heute. Diese lässt in vorindustriellen Zeiten unvorstellbare moralische Verwüstungen erkennen.

Einige Stichworte mögen genannt werden. Da wird Leben und Gesundheit der Bevölkerung durch Produktion und Vertrieb verdorbener Lebensmittel aufs Spiel gesetzt. Bauunternehmer verwenden minderwertiges Material und riskieren damit Gebäudeeinstürze. Finanzmanager verursachen durch bedenkenlose Spekulation ein Chaos der Finanzmärkte. Kinder werden entführt, verstümmelt, getötet, um mit ihren gesunden Organen weltweiten Handel zu treiben. Hinter fragwürdigen biotechnischen Forschungen stecken massive finanzielle Interessen. Hinzu kommt der seit Jahrzehnten bestehende Skandal der Abtreibung, dem in wachsendem Maβe die sogenannte Euthanasie entspricht. Genug damit.

All diese schon zur Alltäglichkeit gehörenden und darum immer weniger wahrgenommenen Tatsachen sind Indizien für einen in seinen Ausmaβen kaum vorstellbaren Verfall von Humanität und Kultur – von Rückfall in die Barbarei. Kann – und das ist eine beängstigende Frage – kann auf einer solchen Grundlage ein Europa aufgebaut werden, in dem es sich lohnt zu leben? Ein Europa, das wir kommenden Generationen wünschen können?

Das natürliche Sittengesetz

Da nun hat die Stunde der Kirche, der Katholiken, der katholischen Akademiker zumal, geschlagen.

Es geht dabei zuallererst um das natürliche Sittengesetz, als dessen Protagonistin sich die katholische Kirche seit jeher versteht und bewährt. Dieses natürliche Sittengesetz ist nun keineswegs eine katholische Spezialität, eine nur für Katholiken bestehende Norm. Deshalb wendet sich auch die ethische Verkündigung der Päpste „an alle Menschen guten Willens“, denn die hier vorgelegten Normen und Prinzipien ergeben sich nicht erst aus der biblischen Offenbarung, sondern schon aus dem Wesen von Mensch und Welt, aus ihrer Natur. In diesem Verständnis sprechen wir auch von Naturrecht. Dagegen erhebt sich natürlich der energische Protest der rechtspositivistischen Schule, die mit Nachdruck als Recht nur das anerkennen will, was von einer – von wem auch immer – dazu berechtigten gesetzgeberischen Autorität als Recht und Gesetz erklärt worden ist.

Damit ist allerdings einem unkontrollierbaren Rechtsrelativismus freie Bahn eröffnet, an dessen Konsequenzen diese Theorie scheitern muss. Es ist evident, dass ein Parlament über dieselbe Rechtsmaterie Gesetze geben kann, die dem in einem anderen Lande geltenden Recht ganz und gar widersprechen. Und nicht nur das! Im gleichen Land kann der demokratisch gewählte und damit legitimierte Gesetzgeber in einer Legislaturperiode ein Gesetz erlassen, das dasselbe Parlament wieder auβer Kraft setzen bzw. ihm widersprechende Normen erlassen kann. Wie unter solchen Umständen internationale Beziehungen funktionieren können bzw. im eigenen Land Rechtssicherheit herrschen kann, ist schwer erfindlich.


Eine Person, die in einem Land als Gesetzesbrecher gilt, wird im anderen als unbescholtener Bürger angesehen. Es ist nicht ersichtlich, wie das begründet werden kann.

Eklatant wird das Dilemma des Rechtspositivismus am Beispiel etwa der Nürnberger Prozesse. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daβ das nationalsozialistische Gewaltregime auf legale Weise an die Macht gelangt ist. Die von ihm geschaffenen Verfassungsorgane hatten demnach rechtmäβige – auch legislative – Gewalt. Die von ihnen erlassenen Gesetze, die sogenannte rassische Mischehen verboten, zwangsweise Sterilisation sogenannter erbkranker Personen, die Tötung geistig Behinderter anordneten und anderes mehr, waren demnach im Sinne des Rechtspositivismus zweifellos geltendes Recht.

Wären also jene, die solche Gesetze angewandt haben, legitimerweise vor Gericht zu ziehen und zu bestrafen? Oder waren sie unschuldige Opfer von Rachejustiz der Siegermächte?

Kurzum, der rechtspositivistische Ansatz führt in die Irre und ins Chaos.

Was bleibt ist das natürliche, aus der der gesamten Schöpfung innewohnenden metaphysischen Ordnung durch die Vernunft zu erkennende Sittengesetz. Dieses hat die Kirche von ihrem Ursprung an verkündet, die Philosophie und Theologie der Scholastik hatten es entfaltet und begründet. Es ist die allein tragfähige Grundlage individuellen und sozialen sittlichen Lebens.

Es war nicht anders zu erwarten, als dass die Kirche, indem sie dieses Sittengesetz verkündet, seitens der verschiedenen philosophischen Systeme der Neuzeit erbitterten Widerstand erfahren hat – dies wird auch in Zukunft so bleiben.
Dennoch ist daran festzuhalten: So wie die menschliche Natur Raum und Zeit übergreifend eine und dieselbe ist, so muss sich das sittliche Handeln des Menschen an ebenso Raum und Zeit übergreifenden Prinzipien und Normen orientieren, die sich aus der Person-Natur des Menschen ergeben, wenn anders individuelles wie soziales Leben gelingen soll.

Hierzu bemerkt Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Veritatis splendor“ (Nr. 96): „Nur im Gehorsam gegenüber den universalen sittlichen Normen findet der Mensch volle Bestätigung der Einzigartigkeit seiner Person und die Möglichkeit sittlichen Wachstums … Diese Normen bilden in der Tat das unerschütterliche Fundament und die zuverlässige Gewähr für ein gerechtes und friedliches menschliches Zusammenleben und damit für eine echte Demokratie“ (Nr. 96).

„Nur eine Moral, die Normen anerkennt, die immer und für alle ohne Ausnahme gelten, kann darum das Fundament für das gesellschaftliche Zusammenleben sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene gewährleisten“ (Nr. 97).

Es handelt sich hierbei um ein Prinzipien- und Normengefüge, das – noch einmal sei’s gesagt - vor jeder Gesetzgebung existiert, weil es in der Ordnung des Seins selbst wurzelt, und an dem jede Gesetzgebung Maβ nehmen muss, wenn sie denn den Anspruch erheben will, gerecht zu sein. Schon Gratian meint: „Ius dictum quia iustum“: Recht ist etwas, weil es gerecht ist – und nicht umgekehrt: „gerecht ist etwas, weil es Recht ist.“

Die Wahrheit

Ist der Hinweis auf die grundlegende Bedeutung des Naturrechts für Europas Zukunft der erste Beitrag, den die Kirche dafür zu leisten vermag, so besteht der zweite darin, der Gesellschaft von heute begreiflich zu machen, was Wahrheit für sie bedeutet.

Dass mit der Nennung dieses Begriffs ein Sturm des Widerspruchs ausgelöst wird, nehmen wir einmal gelassen hin. Pilatus hat viele alte und modernste Nachfolger gefunden – und der Definitionen von Wahrheit ist kein Ende.

Aber: jene – sagen wir einmal wahrheitsfeindlichen philosophischen Denkrichtungen – von Systemen kann wohl nicht die Rede sein – die sich vor allem seit dem späteren 17. Jahrhundert zu Wort gemeldet haben, müssen sich doch fragen lassen, welche gesellschaftlichen, kulturellen, politischen Früchte ihre Wahrheitsvergessenheit gebracht hat.

Da sind einmal die Utilitaristen wie Thomas Hobbes, John Stewart Mill oder Auguste Comte, für die das entscheidende Kriterium für menschliches Handeln dessen Nützlichkeit bzw. der Erfolg ist. Ein klassisches Beispiel für den angewandten Utilitarismus ist der Hohepriester Kaiphas, der den Todesbeschluss über Jesus damit begründet, es sei besser, dass ein einziger sterbe als dass das ganze Volk Schaden leide. Ob die gegen ihn vorgebrachten Anklagen wahr sind, spielt für den Utilitaristen keine Rolle.

Der Pragmatismus – ein typisch amerikanisches Gewächs des 19. Jahrhunderts – lehrte sodann, Wahrheit habe keine Eigenbedeutung, sondern ergebe sich aus der Nützlichkeit eines Gedankens für die Bewältigung praktischer Aufgaben. Kriterium für die Wahrheit ist die Machbarkeit. Hierfür ist Pontius Pilatus zu zitieren, der, um Ruhe und Ordnung in Jerusalem besorgt, dem Pöbel nachgibt, den Publikumsliebling Barabbas frei und Jesus kreuzigen lässt. Auch ihm stellt sich die Wahrheitsfrage nicht.

Noch radikaler ist der Relativismus, der mit Nachdruck verkündet, dass es eine absolute, umfassende Wahrheit und damit auch allgemein gültige sittliche Normen überhaupt nicht gibt, ja nicht geben kann, da alles Erkennen von jeweils sich verändernden individuellen oder kulturell-historischen Umständen abhängig ist. Wer allerdings dennoch den Anspruch erhebt, Wahrheit erkannt zu haben, verfällt damit eo ipso dem Verdammungsurteil und der harten Intoleranz der Relativisten, die damit freilich ihren eigenen Relativismus ad absurdum führen, indem sie ihn solchermaßen absolut setzen.

Die Feststellung, dass die groβen politisch-kulturellen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie auch die eingangs skizzierten Verfallserscheinungen der Gegenwart ihre Ursachen auch – vielleicht sogar vorzüglich – in jener weitverbreiteten Geisteshaltung haben, für die Wahrheit keine Rolle spielt, dürfte nicht verfehlt sein.

Es muss also mit Nachdruck darum gehen, die Bedeutung der Wahrheit für unser Denken und Handeln neu zu entdecken. Nicht „ was nützt es“ oder „ist es machbar“ müssen die entscheidenden Fragen lauten, sondern: „ist es wahr“, „steht es im Einklang mit der Wahrheit“. Allein diese Frage in Bezug auf das kirchliche Leben zu stellen wäre ein erster Beitrag zu dem, was Benedikt XVI. „Entweltlichung“ nennt.

Die Beantwortung dieser Frage setzt die Existenz und die Erkennbarkeit einer übersubjektiven Wahrheit zwingend voraus. Ohne sie ist Kommunikation unter Personen bzw. Gemeinschaften unmöglich. Ohne sie kommt es zur Atomisierung der Gesellschaft, in der dann die einzelnen „Atome“ d. h. Personen neben oder gegeneinander stehen, woraus sich dann das bellum omnium contra omnes und das homo homini lupus des Thomas Hobbes ergeben muss.

Die genannten Denkströmungen des Utilitarismus und Pragmatismus sind aber nicht nur wegen ihrer praktischen zerstörerischen Konsequenzen abzulehnen, sie sind mehr noch aufgrund ihrer inneren Widersprüche als unhaltbar zu bezeichnen.
Die von keinem bezweifelte Wirklichkeit der Vernunft wäre ohne die Existenz und Erkennbarkeit von Wahrheit absurd. Wozu gäbe es dann überhaupt Vernunft? Nur um darzutun, dass Wahrheit nicht existiert? Ohne Wahrheit ist Vernunft gegenstandslos und damit sinnlos.

In ähnlicher Weise setzt die Tatsache, dass es das Auge, das Ohr gibt, die Existenz von Form und Farbe bzw. von Tönen und Geräuschen voraus, wenn Auge und Ohr nicht eine sinnlose Caprice der Evolution sein sollen. In ähnlicher Weise führt sich auch der Relativismus selbst ad absurdum. Wenn also jeder eine eigene individuelle Wahrheit hat, ist es unausweichlich, dass zahllose solcher Wahrheiten aufeinander stoβen, sich widersprechen. Da es aber im Sinne des Relativismus kein allgemein verbindliches Kriterium für Wahr und Falsch bzw. Gut und Böse gibt, ist entweder totale Lähmung oder Chaos die Folge. Der Relativismus – und dafür gäbe es auch noch andere Gründe – erweist sich als Irrweg des Denkens.

Nun aber gibt es in der Tat die unmittelbare Erfahrung von Wahrheit, die sich an der Wirklichkeit bewährt. Die Wahrheit einer medizinischen Theorie erweist sich, indem ihre Anwendung zur Heilung führt. Wenn es – ein anderes Beispiel – möglich ist, durch mathematisch-physikalische Berechnungen Astronauten auf einem bestimmten Planquadrat der Mondoberfläche landen zu lassen, dann doch nur deswegen, weil die dem Unternehmen zu Grunde liegenden physikalischen Gesetze und die darauf beruhenden Berechnungen wahr sind. Es ist ein überwältigendes intellektuelles Erlebnis, wenn man die adaequatio intellectus et rei so mit Händen greifen kann wie in einem solchen Fall!

Davon abgesehen, dass weder die menschliche Vernunft noch der Kosmos aus sich selber erklärbar sind, sondern nur als geschaffene Wirklichkeit, ist dabei am erstaunlichsten die nahtlose Übereinstimmung, das Ineinandergreifen, das Aufeinanderbezogensein von Denken und Sein, von Wahrheit und Wirklichkeit. Das aber verweist zwingend auf eine alles Denken und Sein überragende und umgreifende Instanz – auf den Creator Spiritus.

Die Transzendenz Gottes

War bisher von der vitalen Bedeutung einer Wiederentdeckung des natürlichen Sittengesetzes und der Wahrheit für die Zukunft Europas – und der Welt – die Rede gewesen, so stellt der eben genannte Hinweis auf den Schöpfer von Welt und Mensch das schlechthin entscheidende Thema „Gott“.

Ebenso wenig wie menschliches Leben ohne das natürliche Sittengesetz und die Verankerung in der Wahrheit gelingen kann, können die Existenz von Welt und Mensch ohne Gott gedacht werden. Es geht also darum, der europäischen Gesellschaft von heute und morgen ihren wesentlichen Transzendenzbezug bewusst zu machen.

Ein Individuum, eine Gesellschaft, die dieses wesentliche Bezogensein auf Transzendenz entweder nicht erkennt oder gar bewusst leugnet, verschlieβt sich selbst die entscheidende Dimension menschlicher Existenz. Dass damit ein grundsätzlicher Verzicht auf das Wahre, Gute, Schöne und Heilige verbunden wäre, wird klar, wenn man bedenkt, dass die Quelle für alles endliche verum, bonum, pulchrum und sacrum der unendliche und ewige Schöpfer allen Seins ist.

Der letztlich entscheidende Beitrag der Kirche für die Zukunft Europas besteht also darin, den Zugang zur Transzendenz offen zu halten.

Die Methode: „Humanum“

Nun mag sich mancher darüber wundern, dass bei einer Erörterung über den Beitrag der Kirche zur Zukunft Europas bislang mit keinem Wort vom christlichen Glauben, von Offenbarung und Evangelium die Rede war, wo doch die Neuevangelisierung unseres Kontinents das groβe Anliegen der Kirche ist.

Dass wir damit keine Unterlassung begangen haben, sagt uns Papst Benedikt XVI., indem er von einem „Vorhof der Heiden“ spricht und damit auf jenen Platz vor dem eigentlichen Tempel zu Jerusalem anspielt, den auch Nichtjuden betreten durften.

Noch vor aller Verkündigung des Evangeliums versteht sich die Kirche nämlich auch als Anwalt des Menschen, des Humanum. Darum sieht sie ihre Aufgabe auch in der Reparatur der humanen Fundamente. Damit bewegt sie sich im vorreligiösen Raum und vermag deshalb jeden unvoreingenommenen für vernünftige Argumentation offenen Partner anzusprechen. So können die Voraussetzungen für die Verkündigung und die Aufnahme des Evangeliums geschaffen werden. Indem sie also das natürliche Sittengesetz, die Bedeutung von Wahrheit und die Gottbezogenheit von Welt und Mensch erneut ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rufen sucht, bereitet sie den durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts ausgetrockneten und vergifteten Boden für die Aussaat des Evangeliums vor.

Die Kraft der Vernunft, die Kraft der Argumentation

Nun stellt sich freilich die Frage, ob denn einem solchen Bestreben überhaupt noch Erfolg beschieden sein kann.

Sicher ist, dass das Maβ des kirchlichen Einflusses auf die sich selbst als säkular verstehende Gesellschaft zunächst von der Zahl der Gläubigen und ihrem sozialen und politischen Gewicht bestimmt wird. Die Kirche hat nur so viel Einfluss und Macht wie die Gesellschaft ihr einzuräumen bereit ist. Was aber auch heiβt – und das sei in Parenthese eingefügt – dass sich die negativen Erscheinungen in Europas jüngerer Geschichte keineswegs aus der Realisierung christlicher Maximen ergeben haben, sondern vielmehr aus der Abkehr von ihnen. Nun ist auch zu bedenken, dass den Christen von heute und morgen ganz anders als im späten 19. Jahrhundert und in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg kein politischer Arm mehr zur Verfügung steht, wie ihn die christlichen Parteien der Vergangenheit geboten hatten. Hinzu kommt, dass die Medien, die die Öffentliche Meinung bestimmen, mit verschwindenden Ausnahmen in Händen sind, die gewiss nicht bereit sind, dem Auftrag der Kirche zu dienen.

Was, also, hat die Kirche, haben die Katholiken überhaupt noch an Chancen, den beschriebenen Beitrag zur Zukunft Europas zu leisten?

Es bleibt ihnen nur die Macht des Arguments. Und dieses Argument – sehen wir einmal von anderem ab – ist eine Frage, dazu noch eine utopische Frage:

Wie könnte dieses Europa aussehen, welche Art von Gesellschaft könnte entstehen, welche Kultur würde geschaffen, wenn das Europa von morgen wenigstens zunächst in seinen denkenden Schichten sich entschlösse, der Gestaltung des zusammenwachsenden Kontinents die Magna Charta des katholischen Verständnisses von Mensch und Welt zu Grunde zu legen?

Das würde nichts anderes bedeuten, als dass das Naturrecht im klassischen Verständnis, der Dekalog des Alten und die Bergpredigt des Neuen Testaments den Maβstab abgeben würden, an dem die Normen für das private wie für das gesellschaftliche Leben sich bewähren müssten. Keine Frage, dass eine solche Gesellschaft bei weitem humaner wäre als jene, in der die Macht des Stärkeren dem schrankenlosen Egoismus des Individuums Bahn zu brechen vermag, in der der Schwächere keine Chance hat, und in der Geld, Macht und Genuss als höchste Lebensziele gelten.

Wenn nun andererseits der Unantastbarkeit der Person, der Verantwortung des Einzelnen für das Ganze, der Ehrfurcht vor dem Schöpfer und den Geschöpfen, der Würde von Ehe und Familie gleichsam „Verfassungsrang“ zuerkannt würde, dann würde das zweifellos nicht das Paradies auf Erden zur Folge haben. Wohl aber könnte auf dieser Basis bei aller Bruchstückhaftigkeit irdischer Realisierung eine weit menschenfreundlichere Gesellschaft entstehen als jene, in der wir heute leben. Eine Utopie gleich jener von Kants „Ewigem Frieden“? Wie aber an der marxschen Utopie von der klassenlosen Gesellschaft zu sehen ist, entfalten Utopien ihre – im Falle von Marx weltzerstörende – Kraft. Warum sollte nicht auch die Utopie eines christlichen Europas ihre gestaltende, aufbauende Dynamik erweisen?

Inzwischen kann Europa auf ein Jahrhundert der Katastrophen zurückblicken. Sie waren als letzte Konsequenzen aus der nationalsozialistischen und der marxistischen Ideologie erwachsen, deren menschenfeindlicher Irrtum sich solchermaβen drastisch erwiesen hat.

In der dramatischen kulturgeschichtlichen Situation von heute stellt sich in der Tat die Frage, ob dieses krisengeschüttelte Europa nicht doch die Neugier und den Mut aufzubringen vermöchte, das „katholische Experiment“ zu wagen.

Die Frage ist ein Appell an alle, deren Bildung und gesellschaftliche Stellung ihnen Einfluss auf die Formung eines öffentlichen Bewusstseins ermöglicht, das sich der christlichen Botschaft wenigstens nicht verschlieβt. Das würde bedeuten, dass jeder einzelne von uns in seinem Lebensbereich für dieses Ziel bewusst und beharrlich eintritt.

kath.net dankt Seiner Eminenz für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Predigt von Kardinal Brandmüller im Stift Heiligenkreuz am 3. Juni 2012



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Lesermeinungen

 Herbert Klupp 7. November 2014 
 

So gut

Es tut so gut, diese Ausführungen zu lesen. Danke, Kardinal Brandmüller ! Jetzt wären die (deutschen, europäischen) Bischöfe "dran". In großen Katechesen der Öffentlichkeit überhaupt wieder neu darlegen, was "katholisch" überhaupt heißt. (Das religiöse Unwissen ist nämlich astronomisch groß geworden). Und danach ausführen, warum ein katholisches Europa ins Heil führt, ein unchristliches Europa aber in den (islamischen?) Untergang.


0
 
 queenie 6. November 2014 
 

Daueraufgabe

Die Gedanken sind Daueraufgabe und Programm für
alle kirchlichen Kirchen und gesellschaftlichen Gruppierungen.
Alle sind dafür zu gewinnen.


2
 
 placeat tibi 6. November 2014 
 

Kardinal Brandmüllers Worte- immer eine Wohltat!

"Warum sollte nicht auch die Utopie eines christlichen Europas ihre gestaltende, aufbauende Dynamik erweisen? "

Um davon auch nur zu träumen, müßten erstmal kirchliche Apparate überwunden werden, die eher destruktive "weltliche" Dynamiken sukzessive in die Kirche tragen und trugen.


5
 
 Habsburger 6. November 2014 

Kardinal Brandmüller!

Einer, der uns Hoffnung gibt in dieser trostlosen Zeit.


8
 
 Mysterium Ineffabile 6. November 2014 

Ja,

dieser Vortrag ist kein Vortrag. Das ist bedeutend mehr. Das sind Worte von einem, der aus dem Urgestein des Christentums heraus spricht.


12
 
 Cyprianus 6. November 2014 

Moral - Wahrheit - Transzendenz

Herausragender Vortrag von Kardinal Brandmüller. Dieser Mann ist ein echter Fels der Wahrheit. Er hat die „Weite der Vernunft“, er hat seine Freude am „Spiel“ der Erkenntnis, aber auch an der definitiven Entscheidung.

Ungefähr in der Mitte des Vortrags bringt er ein verblüffend einfaches und einleuchtendes Argument gegen den Wahrheitsrelativismus vor:

„Die von keinem bezweifelte Wirklichkeit der Vernunft wäre ohne die Existenz und Erkennbarkeit von Wahrheit absurd. Wozu gäbe es dann überhaupt Vernunft? Nur um darzutun, dass Wahrheit nicht existiert? Ohne Wahrheit ist Vernunft gegenstandslos und damit sinnlos.
In ähnlicher Weise setzt die Tatsache, dass es das Auge, das Ohr gibt, die Existenz von Form und Farbe bzw. von Tönen und Geräuschen voraus, wenn Auge und Ohr nicht eine sinnlose Caprice der Evolution sein sollen.“


Die unten angefügte Predigt im Stift Heiligenkreuz halte ich persönlich für einen Maßstab für sämtliche Prediger des Evangeliums.


11
 
 Backhome 6. November 2014 
 

Hervorragend !

Danke Eminenz! Besser kann man es nicht sagen! Aber wird man es auch hören (wollen)?


12
 

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