Mit Joe Biden „an der Spitze der subtil-brutalsten Kampagne zur Ent-Christianisierung“

26. Jänner 2021 in Prolife


Kardinal Müller im kath.net-Interview über US-Präsident Joe Biden: „Ich kann keinen Abtreibungspolitiker deshalb unterstützen, weil er Sozialwohnungen baut und ich wegen des relativ Guten das absolut Böse in Kauf nehmen müsse“ – Von Petra Lorleberg


Washington DC.-Rom (kath.net/pl) „Wer das klare Bekenntnis zur Heiligkeit jedes Menschenlebens aufgrund politischer Präferenzen mit taktischen Spielen und sophistischen Verschleierungen relativiert, stellt sich offen gegen den katholischen Glauben.“ Das erläutert Kardinal Gerhard Ludwig Müller im kath.net-Exklusiv-Interview über die Abtreibungsbefürwortung des neuen US-Präsidenten Joe Biden, der Mitglied der katholischen Kirche ist. Der emeritierte Präfekt der Glaubenskongregation erläutert weiter: „Nun stehen die USA mit ihrer geballten politischen, medialen und ökonomischen Macht an der Spitze der subtil-brutalsten Kampagne zur Ent-Christianisierung der westlichen Kultur seit 100 Jahren.“

kath.net: Herr Kardinal, die US-amerikanische Bischofskonferenz hat gegenüber der Abtreibungspolitik des neuen US-Präsidenten Joe Biden heftige Kritik geäußert. Andererseits gab es einige wenige US-amerikanische Bischofsstimmen, die die Kritik der Bischofskonferenz an Biden als unklug einstuften. Kardinal Blase Cupich aus Chicago schreibt auf seinem persönlichen Twitterauftritt, dass die US-amerikanische Bischofskonferenz zur Amtseinführung des neuen Präsidenten „eine unüberlegte Erklärung“ abgegeben hätte. Sehen Sie die USCCB-Kritik als berechtigt an oder übertreiben die Bischöfe?

Kardinal Gerhard Müller: Ein katholischer Bischof unterscheidet sich von Machtpolitikern und Ideologen durch den Gehorsam gegenüber dem geoffenbarten Wort Gottes. Er wäre ein falscher Apostel, wenn er um seiner politischen Präferenz willen oder aus Vorliebe für diese oder jene Partei das natürliche Sittengesetz relativiert. Denn dessen Forderungen erkennt jeder Mensch in seinem Gewissen aufgrund seiner Vernunft. Als die politisch-religiösen Machthaber ihrer Zeit den Aposteln die Verkündigung der Lehre Christi unter Androhung von Strafe verbieten wollten, antworteten diese: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ (Apg 5, 29).

Wer das klare Bekenntnis zur Heiligkeit jedes Menschenlebens aufgrund politischer Präferenzen mit taktischen Spielen und sophistischen Verschleierungen relativiert, stellt sich offen gegen den katholischen Glauben. Das II. Vatikanum und alle Päpste bis zu Franziskus haben die absichtliche Tötung eines Kindes vor und nach der Geburt als schwerste Verletzung der Gebote Gottes bezeichnet.

kath.net: Der USCCB-Präsident Erzbischof Gomez erklärt Präsident Joe Biden in seiner klaren Stellungnahme: „Wie Papst Franziskus lehrt, können wir nicht schweigen, wenn beinahe eine Million Menschenleben in unserem Land durch Abtreibung beiseitegeschoben werden.“ Was ist die kirchliche Lehre über Abtreibung?

Kard. Müller: „Gott, der Herr des Lebens, hat nämlich den Menschen die hohe Aufgabe der Erhaltung des Lebens übertragen, die auf eine menschenwürdige Weise erfüllt werden muss. Das Leben ist daher von der Empfängnis an mit höchster Sorgfalt zu schützen. Abtreibung und Tötung des Kindes sind verabscheuungswürdige Verbrechen.“ (II. Vatikanum, Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 51).

kath.net: Präsident Joe Biden präsentierte sich – nicht nur am Tag seiner Amtseinführung – als gläubiger, praktizierender Katholik. Wie glaubwürdig ist das in Ihren Augen angesichts seiner langen Reihe von ProChoice-Aussagen und seines offiziellen Statements zum 38. Jahrestag des Abtreibungsurteils Roe v. Wade (Siehe Link): „In den letzten vier Jahren wurde das Recht auf Abtreibung extrem angegriffen“ sowie der Ankündigung, Abtreibung in den USA und weltweit wieder massiv zu unterstützen, auch finanziell?

Kard. Müller: Es gibt gute Katholiken bis in höchste Stellen im Vatikan, die in blindem Anti-Trump-Affekt alles in Kauf nehmen oder herunterspielen, was jetzt gegen die Christen und alle Menschen guten Willens in den USA losgetreten wird.

Nun stehen die USA mit ihrer geballten politischen, medialen und ökonomischen Macht an der Spitze der subtil-brutalsten Kampagne zur Ent-Christianisierung der westlichen Kultur seit 100 Jahren. Dass Leben von Millionen Kindern, die jetzt der weltweit organisierten Abtreibungkampagne unter dem Euphemismus „Recht auf reproduktive Gesundheit“ zum Opfer fallen werden, spielen sie herunter mit dem Hinweis auf Trumps charakterliche Schwächen.

Mir hat ein sonst sehr geschätzter Mitbruder vorgehalten, dass ich doch nicht alles an der Abtreibung festmachen dürfe. Denn mit der Abwahl von Trump sei doch die viel größere Gefahr gebannt, dass dieser Verrückte auf den Atomknopf gedrückt hätte. Nach meiner Überzeugung aber steht die Individual- und Sozialethik über der Politik. Die Grenze ist überschritten, wo Glaube und Moral mit dem politischen Kalkül verrechnet werden. Ich kann keinen Abtreibungspolitiker deshalb unterstützen, weil er Sozialwohnungen baut und ich wegen des relativ Guten das absolut Böse in Kauf nehmen müsste.

kath.net: Es gibt in den USA Bischöfe, die öffentlich davon sprechen, dass Biden wegen seinen öffentlichen Statements und Handlungen bezüglich Abtreibung nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehe, beispielsweise der Erzbischof von Denver, Samuel J. Aquila, und der Alterzbischof von Philadelphia, Charles Chaput. Chaput tritt dafür ein, dass Biden derzeit keine Kommunion erhalten solle (Siehe Link). Demgegenüber sagte Kardinal Wilton D. Gregory, Erzbischof von Washington DC., er werde nicht von der Praxis abweichen, dass Biden weiterhin die Kommunion erhalten werde (Siehe Link). Wie werten Sie dies?

Kard. Müller: Es hat sich die absurde Meinung auch bei Katholiken eingeschlichen, dass der Glaube Privatsache sei und man im öffentlichen Leben etwas in sich Böses zulassen, billigen und fördern könne.

Im konkreten praktischen Handeln wird es den Christen in einem Parlament oder einer Regierung vielleicht nicht immer gelingen, das natürliche Sittengesetz in allen Punkten durchzusetzen. Aber sie dürfen sich niemals aktiv oder passiv am Bösen beteiligen. Zumindest müssen sie dagegen protestieren – und soweit sie können – dagegen Widerstand leisten, auch wenn sie dafür diskriminiert werden.

Wer als Christ sich gegen den Mainstream der LGBT-Propaganda, die Abtreibung, den legalisierten Drogenkonsum, die Auflösung der männlichen oder weiblichen Sexualität erklärt, wird bekanntlich als „rechts“ oder sogar als „Nazi“ beschimpft, obwohl doch gerade die Nationalsozialisten mit ihrer biologistisch-sozialdarwinistischen Ideologie in offenstem Widerspruch zum christlichen Menschenbild standen.

Die Geistesverwandten (die andere mit Nazi-Vergleichen verunglimpfen, aber sich zugleich über Nazi-Vergleiche empören) finden eher dort zusammen, wo man gegen den Gott rebelliert, der den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat – als Mann und Frau.

kath.net: Können sich die US-amerikanischen Bischöfe grundsätzlich darauf verlassen, dass Papst Franziskus ihr prolife-Engagement in vollem Umfang unterstützt und es allerhöchstens in der Frage des Feingefühls im Umgang mit einem amtierenden Präsidenten zu Unstimmigkeiten kommen könnte?

Kard. Müller: Der Heilige Vater hat es an deutlichsten Worten gegen die Abtreibung als vorsätzlichen Mord niemals fehlen lassen und wurde deshalb übelst von denen beschimpft, die sich sonst so gern auf ihn berufen und den Gegensatz zum vorherigen Papst Benedikt XVI. nicht laut genug hervorheben können. Ich hoffe, dass niemand auf die perverse Idee kommt, die Abtreibung und Euthanasie mit dem Einlass von Einwanderern und Migranten an der Grenze zu Mexiko aufzurechnen und so Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit „Schweigen“ in Kauf zu nehmen.

kath.net: Können und sollten sich US-amerikanische Katholiken angesichts der Pro-Abtreibungs-Positionen des neuen Präsidenten einfach gutwillig auf seine Aufrufe zu „Einheit“ und Heilung der Wunden einlassen?

Kard. Müller: Versöhnung ist das, was uns Gott durch Jesus Christus geschenkt hat. Gerade für Christen in der Politik soll dies auch ein Richtmaß ihres Sprechens und Handelns sein. Aber eine ideologische Spaltung der Gesellschaft wird nicht dadurch überwunden, dass eine Seite die andere an den Rand drängt, kriminalisiert und vernichtet, so dass am Ende alle Institutionen von den Medien bis zu den internationalen Konzernen nur noch von den Vertreten des kapital-sozialistischen Mainstreams beherrscht werden.

In den USA werden wie jetzt in Spanien ohne Zweifel die katholischen Schulen, Krankenhäuser und andere mit öffentlichem Geld unterstützten gemeinnützigen Institutionen genötigt werden zu unmoralischem Verhalten oder bei Zuwiderhandlung geschlossen. Spätestens jetzt muss es auch der Naivste merken, ob das Gerede von der Versöhnung in der Gesellschaft ernst gemeint oder nur ein Propaganda-Trick war.

Gerade diejenigen, die so lauthals davon reden, sollten sich kritisch nach ihrem Beitrag zur Spaltung fragen. Die Devise „Willst du nicht mein Bruder sein, dann schlag ich dir den Schädel ein“ ist nicht der richtige Weg zur Aussöhnung und zum wechselseitigen Respekt.

kath.net: Wäre eine so heftige Gegenreaktion gegen die Abtreibungspolitik im deutschen Sprachraum denkbar, in Österreich, Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz?

Kard. Müller: Wir haben seit dem 18. Jahrhundert mit dem Absolutismus auch im katholischen Frankreich, Österreich und Bayern die unselige Tradition des Staatskirchentums (Gallikanismus, Febronianismus, Josephinismus).

Die Kirche definiert sich nicht mehr von ihrer göttliche Mission am Heil aller Menschen her, sondern vom Dienst, den sie im Rahmen des Gemeinwohls in Abhängigkeit vom Staat der Gesellschaft leisten darf. Nur einmal im Kulturkampf gegen den preußischen Staatsabsolutismus und gegen die totalitäre Ideologien wurde Widerstand geleistet im Namen ihrer höheren Sendung (Pius XI., Enzyklika Mit brennender Sorge).

Seitdem ordnet man sich öffentlich weitgehend dem innerweltlichen Staatszielen unter (die sog. Systemrelevanz) und setzt sich nur im privaten Kreis mit der aggressiven Dechristianisierung der Gesellschaft auseinander. Ein Bischof in Mitteleuropa steht heute vor der Wahl, mit Konformität zu überleben oder von Ignoranten als Fundamentalist gebrandmarkt zu werden..

kath.net: Während in den USA die absolut zahlreiche Teilnahme katholischer Bischöfe bsp. am weltgrößten Prolife-Ereignis, dem March for Life, fast schon Gewohnheit ist, lassen sich in Deutschland die wenigen mutigen Bischöfe, die zum Marsch für das Leben kommen, an einer Hand abzählen.

Kard. Müller: Mir steht es nicht zu, das Verhalten einzelner Bischöfe zu bewerten. Mich hat immer Clemens August von Galen beeindruckt, der am 18. Oktober 1933 zum Bischof von Münster geweiht wurde. Sein Wappenspruch lautete: Nec laudibus- nec timore. Nicht Menschenlob, nicht Menschenfurcht soll uns bewegen.

kath.net: In Polen wiederum sind die Bischöfe ausgesprochen markant prolife. Schätzen Sie ihre Bemühungen?

Kard. Müller: Die Polen haben mehr als alle anderen europäischen Völker seit 200 Jahren für die rechtsstaatliche Demokratie und den katholischen Glauben gelitten und gekämpft.

Dennoch sind bösartige Vorurteile gegen dieses Land im Umlauf. Auch in Kirchenkreisen werden diese Gemeinplätze und Stereotypen unkritisch übernommen. Den Einsatz polnischer Bischöfe, Priester und Laien ordnet man einem traditionalistischen Grundgefühl einer Nation zu, die nach der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur und Fremdherrschaft noch nicht so reif sei für die Demokratie.

Ausgerechnet kommen aus Deutschland und Österreich die Angebote auf Nachhilfe-Unterricht in Sachen Demokratie und im Umgang mit einer säkularisierten Gesellschaft. Wir sollten wohlüberlegt solidarischer sein mit unseren katholischen Brüdern und Schwestern. Wir könnten Wichtiges voneinander lernen und gemeinsam Gutes bewirken für die katholische Kirche in der Welt von heute.

Archivfoto Kardinal Müller im Presseraum des Vatikans (c) Michael Hesemann

kath.net-Buchtipp:

Wahrheit - Die DNA der Kirche
Von Lohmann Martin; Müller Gerhard Kardinal
Hardcover, 344 Seiten;
2020 Fe-Medienverlag
ISBN 978-3-86357-277-8
Preis Österreich: 20.40 EUR


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