30. Juli 2025 in Kommentar
Frucht von Fiducia supplicans ist eine „erhebliche Belastung des ökumenischen Klimas“ zu orthodoxen Kirchen und evangelikalen Christgläubigen. Gastkommentar von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer
Eichstätt (kath.net)
Teil I: Grundlagen, Intention und erste Spannungsfelder
Einleitung
Die Erklärung Fiducia supplicans des römischen Glaubensdikasteriums vom 18. Dezember 2023 hat in kürzester Zeit weltweit intensive Debatten ausgelöst. Dabei geht es nicht nur um die konkrete Frage, ob und wie homosexuelle oder anderweitig „irreguläre“ Paare gesegnet werden können. Vielmehr steht eine tieferliegende kirchentheologische Problematik im Raum: das Spannungsverhältnis zwischen unveränderlicher Lehre und pastoralem Handeln, zwischen sakramentaler Symbolik und seelsorglicher Barmherzigkeit – und letztlich zwischen kirchlicher Identität und innerkirchlicher Dynamik.
Dieser Beitrag analysiert Fiducia supplicans theologisch und kirchenpolitisch, untersucht die Bedeutung der Erklärung für die kirchliche Lehre, Praxis und Pastoral und fragt, ob sie zur Erneuerung oder zur Erosion kirchlicher Glaubwürdigkeit beiträgt.
1. DIE ERKLÄRUNG „FIDUCIA SUPPLICANS“ – INHALT UND ANSPRUCH
1.1 Herkunft und Rechtscharakter
Am 18. Dezember 2023 veröffentlichte das Dikasterium für die Glaubenslehre unter der Leitung von Kardinal Víctor Manuel Fernández und mit ausdrücklicher Zustimmung von Papst Franziskus die Erklärung Fiducia supplicans. Der Text versteht sich als offizielle Verlautbarung – nicht als bloße Stellungnahme. Laut Fernández solle damit ein „Einblick dargelegt werden, der lehrmäßige Aspekte mit pastoralen Aspekten kohärent verbindet.“
Diese Verbindung ist programmatisch: Die Erklärung nimmt für sich in Anspruch, nicht neue Lehre zu formulieren, sondern eine bereits bestehende zu vertiefen – allerdings unter neuen Vorzeichen. Dadurch erhält das Dokument keine dogmatische Unabänderlichkeit, ist jedoch lehramtlich autorisiert und als Ausdruck authentischer Lehre des gegenwärtigen Pontifikats zu verstehen.
1.2 Zielsetzung: Ausweitung des Segensbegriffs
Die zentrale theologische Innovation liegt in der Differenzierung zwischen einem sakramentalen (liturgischen) und einem rein pastoralen Segen. Fernández spricht von einer „Weiterentwicklung“ der bisherigen Praxis: „Die Bedeutung der Segnungen [soll] weiter gefasst und bereichert werden.“
Diese „pastoralen Segnungen“ sollen nach Auffassung der Autoren außerhalb des liturgischen Rahmens stattfinden und keine formale Anerkennung der Lebensform bedeuten. Vielmehr handle es sich um spontane Gebetsgesten, vergleichbar mit der Segnung von Pilgern, Autos oder Häusern – stets als Bitte um Gottes Beistand.
Das Dokument betont, dass liturgische Feiern, die einer Eheschließung ähneln könnten, unbedingt zu vermeiden seien. Die Segnungen dürften nicht „in eine offizielle liturgische und damit allgemein verbindliche Form gegossen werden“, sondern sollten im „Geiste der Spontaneität“ erfolgen – etwa im Rahmen einer Wallfahrt oder im seelsorglichen Alltag.
Diese Unterscheidung scheint formal sauber – wirft jedoch praktisch wie theologisch massive Fragen auf, wie sich im Folgenden zeigen wird.
2. KIRCHLICHE LEHRE UND PASTORALE TRADITION – BRUCH ODER KONTINUITÄT?
2.1 Die bestehende Lehre
Die kirchliche Lehre zur Homosexualität ist unzweideutig. Der Katechismus (KKK 2357) formuliert unter Berufung auf Schrift und Tradition: „Homosexuelle Handlungen sind in sich ungeordnet […]. Sie verstoßen gegen das natürliche Gesetz.“
Papst Johannes Paul II. unterstrich in seiner Enzyklika Veritatis Splendor (1993), dass es moralische Akte gebe, „die von sich aus und in sich selbst, unabhängig von den Umständen, immer schwerwiegend unrecht sind.“
Auf dieser Linie steht auch das „Responsum ad dubium“ von 2021, in dem die damalige Glaubenskongregation ausdrücklich festhielt: „Die Kirche hat keine Vollmacht, Verbindungen zwischen Personen gleichen Geschlechts zu segnen.“
2.2 Der Widerspruch durch Fiducia supplicans
Gegenüber dieser klaren Linie versucht Fiducia supplicans, zwischen dem Segen für Personen und der Bewertung ihrer Beziehung zu unterscheiden: „Der Segen gilt den Menschen, nicht ihrer Verbindung.“
Doch diese Differenzierung ist sehr problematisch – nicht zuletzt deshalb, weil sie in der seelsorglichen Praxis kaum vermittelbar ist. Der Kirchenrechtler Sebastian Cüppers konstatiert zu Recht, dass nicht vorausgesetzt werden könne, dass auf Seiten des Segnenden und der Gesegneten „das gleiche Verständnis dieser Amtshandlung herrscht.“
Deutlich wird diese Problematik etwa in der Stellungnahme der polnischen Bischofskonferenz, die festhält: „Dies gilt insbesondere für Personen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen. Auf die Frage, ob die Kirche befugt ist, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften den Segen zu erteilen, lautet die Antwort: Nein.“
Auch die britische Klerusbruderschaft erklärt: „Wir sehen keine Situation, in der eine solche Segnung eines Paares klar und angemessen abgegrenzt werden könnte von einer Art Billigung.“
2.3 Symbolischer Bruch mit der Tradition
Zahlreiche Stimmen aus Theologie und Bischofskonferenzen sehen in Fiducia supplicans einen Bruch mit der bisherigen Lehre – zumindest auf symbolischer Ebene.
Kardinal Robert Sarah warnt: „Die Wahrheit ist überall dieselbe, in Europa wie in Afrika. […] Die Kirche liegt im Sterben.“
Guido Horst meint: „Mit dem Segen wird eine Beziehung aufgewertet, die die Kirche offiziell für sündhaft hält.“
Noch schärfer äußern sich die Bischöfe Kameruns, die die Praxis homosexueller Partnerschaften als einen „Bruch mit dem Erbe der Vorfahren“ bezeichnen – und als Ausdruck eines kulturellen und zivilisatorischen Niedergangs.
3. DIE PASTORALE ABSICHT – UND IHRE UNBEABSICHTIGTEN (ODER EINKALKULIERTEN) FOLGEN
3.1 Die erklärte Intention: Ermutigung und Begleitung
Kardinal Fernández betont, die Erklärung solle niemanden ausschließen, sondern Menschen auf ihrem Weg begleiten. Ziel sei ein pastoraler Raum, in dem sich alle – auch in irregulären Situationen – der Zuwendung Gottes vergewissern können: „Der Segen soll kein Urteil darstellen, sondern ein Zeichen der Ermutigung für alle, die sich nach Gott ausstrecken.“
Papst Franziskus verweist immer wieder auf das biblische Bild Jesu, der niemanden zurückweist: „Jesus hat niemanden weggeschickt, der ihn um seinen Segen gebeten hat.“
3.2 Realität: Der pastorale Bruch
Doch auch wenn die Intention edel erscheint, ist die Wirkung ambivalent – oder gar kontraproduktiv.
Ein Kommentator formuliert treffend: „Die gute Absicht heiligt nicht die bösen Folgen.“
In der Praxis wird kaum jemand zwischen einem „Segen für Menschen“ und einem „Segen für Beziehungen“ differenzieren können. Diese Sorge äußert auch der Kölner Kirchenrechtler Cüppers. Die Deutsche Bischofskonferenz und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) gehen sogar deutlich über das römische Dokument hinaus: Sie sehen liturgieähnliche Segnungsfeiern ausdrücklich vor – mit Musik, Symbolik, Öffentlichkeit. Die Verwechslungsgefahr mit dem Ehesakrament wird damit nicht nur in Kauf genommen, sondern bewusst erzeugt.
3.3 Das Risiko der pastoralen Beliebigkeit
Die Folge ist eine Verwässerung sakramentaler Unterscheidungskraft. Die Segenshandlung wird zur „Gefälligkeitspastoral“ – politisierbar, medial inszenierbar, innerkirchlich spaltend.
Guido Horst mahnt: „Die Segnung wird zu einem pastoralen Event, das von Pressure Groups politisch aufgeladen wird.“
Wer enthaltsam lebt, gilt bald als naiv. Wer an der kirchlichen Lehre festhält, wird moralisch delegitimiert. Seelsorger, die sich verweigern, stehen unter Druck.
Letztendlich kann gesagt werden:
„Verlierer ist die Pastoral.“
Die Kirche riskiert, ihre Fähigkeit zur geistlichen Unterscheidung zu verlieren – und das ausgerechnet im Namen von „Barmherzigkeit“.
Teil II: Kirchliche Spaltung, ökumenische Verwerfungen und pastorale Konsequenzen
4. GLOBALE REZEPTION – EINE GESPALTENE KIRCHE
Die Erklärung Fiducia supplicans sollte Versöhnung und Inklusion signalisieren. Stattdessen hat sie eine globale Polarisierung ausgelöst. Die Spannungen verlaufen nicht nur entlang theologischer Überzeugungen, sondern auch entlang kultureller, geografischer und kirchensoziologischer Grenzen.
4.1 Zustimmung in liberalen Regionen
In Teilen Westeuropas, insbesondere in Deutschland, Österreich, Belgien und der Schweiz, wurde Fiducia supplicans als Signal eines pastoralen Aufbruchs begrüßt. Hier wurde das Dokument in den Kontext des „Synodalen Weges“ gestellt und als Bestätigung bestehender Reformbemühungen verstanden. In deutschen Bistümern entstanden unmittelbar nach Veröffentlichung Materialien und Praxisformate für Segnungen homosexueller Paare – teils in offener Abweichung von den römischen Rahmenbedingungen.
Die Handreichung „Segen für alle“ (2025), herausgegeben von DBK und ZdK, geht deutlich über den Text der römischen Erklärung hinaus. Dort heißt es, die Feier solle die Liebe des Paares würdigen und „den Glauben an Gottes bejahende Gegenwart“ in ihrer Beziehung sichtbar machen. Damit wird der von Rom intendierte Unterschied zwischen personaler Ermutigung und relationaler Anerkennung weitgehend aufgehoben.
4.2 Ablehnung in der Weltkirche
Dem gegenüber steht eine überwältigende Ablehnung weiter Teile der Weltkirche:
• Die afrikanischen Bischofskonferenzen (z. B. Kamerun, Kongo, Sambia, Namibia) erklärten, Fiducia supplicans widerspreche den theologischen, kulturellen und anthropologischen Überzeugungen ihrer Ortskirchen. Die kamerunischen Bischöfe verurteilten die Erklärung als „Verfälschung der menschlichen Anthropologie“ und als Zeichen eines „zivilisatorischen Zerfalls“.
• Die polnische Bischofskonferenz bekräftigte, dass Segnungen von gleichgeschlechtlichen Paaren „praktisch unmöglich“ seien, ohne Verwirrung oder Skandal zu stiften. Nur enthaltsame Einzelpersonen könnten gesegnet werden.
• Die ungarische und ukrainische Kirche bestehen auf der Unvereinbarkeit solcher Segnungen mit der kirchlichen Ehe- und Sexualmoral.
• Die Bischofskonferenz von Haiti untersagte die Umsetzung des Dokuments vollständig und warnte vor Missbrauch.
Es ist auffällig, dass in vielen dieser Kirchen die Loyalität zur römischen Lehre traditionell stark ist – und doch äußerten sich viele Bischöfe mit offener Verwunderung über das Vorgehen des Vatikans.
5. DER ÖKUMENISCHE SCHADEN – RÜCKSCHRITT IM DIALOG
5.1 Orthodoxe, orientalische und mit Rom unierte Ostkirchen: Distanz statt Dialog
Besonders deutlich wurde der Bruch in den Reaktionen der orthodoxen und orientalischen Kirchen, die sich klar von Fiducia supplicans distanzierten.
Die koptisch-orthodoxe Kirche (Patriarchat von Alexandria) unterbrach nach der Veröffentlichung alle offiziellen theologischen Gespräche mit Rom. Begründung: Die Erklärung widerspreche der gemeinsamen Glaubensbasis.
Auch die russisch-orthodoxe Kirche äußerte sich scharf: Das biblisch-theologische Komitee des Moskauer Patriarchats bezeichnete das Dokument als „Verzicht auf das moralische Ideal des Evangeliums“ und als „Kapitulation vor westlichen liberalen Forderungen“. Der priesterliche Segen, so die Orthodoxie, sei immer zustimmende Handlung, nie bloß formale Bitte.
Die ukrainisch-griechisch-katholische Kirche, obwohl uniert mit Rom, erklärte, dass das Dokument keine Anwendung in ihrem Liturgie-Bereich finden könne, da im byzantinischen Ritus ein Segen stets auch eine geistliche Zustimmung darstelle.
Diese Entwicklungen markieren eine erhebliche Belastung des ökumenischen Klimas, das sich in den letzten Jahrzehnten – insbesondere unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. – schrittweise verbessert hatte. Ein gemeinsames sakramentales und anthropologisches Fundament scheint wieder in größere Ferne zu rücken.
5.2 Evangelikale und protestantische Gemeinschaften
Auch auf evangelikaler Seite (besonders in Afrika, Asien und den USA) wird das Dokument kritisch bewertet. Zahlreiche protestantische Partnerkgemeinschaften der katholischen Kirche – z. B. im Kontext des Lutherischen Weltbundes – beklagen eine unklare Hermeneutik, die zwischen Gnade und Wahrheit nicht mehr unterscheidbar sei.
Statt Brücken zu bauen, hat Fiducia supplicans in vielen Freikirchen und protestantischen Gemeinschaften den Eindruck einer moralischen Erosion des Katholizismus bestätigt – was bereits bestehende ökumenische Missverständnisse vertieft.
6. PASTORAL IN DER KRISE – ZWISCHEN BELIEBIGKEIT UND LOYALITÄTSDRUCK
6.1 Missverständnisse und mediale Fehlwahrnehmung
In der Öffentlichkeit blieb von Fiducia supplicans oft nur der Eindruck zurück: „Papst erlaubt die Segnung homosexueller Paare“. Die theologische Differenzierung zwischen liturgischem und nicht-liturgischem Rahmen wurde medial kaum vermittelt.
Dieser Eindruck verfestigt sich auch innerkirchlich. Für viele Gläubige – gerade solche mit geringer kirchlicher Sozialisation – verschwimmen die Linien zwischen offizieller Eheschließung und symbolischer Segnung. Pastoraltheologen wie Eberhard Schockenhoff haben schon vor Jahren vor der Gefahr einer „pastoralen Autonomie ohne dogmatische Rückbindung“ gewarnt.
6.2 Druck auf Seelsorger und Bischöfe
In vielen Diözesen stehen Priester unter massivem Erwartungsdruck. Wer sich mit Verweis auf die kirchliche Lehre einer Segnungsbitte verweigert, gilt schnell als hartherzig oder rückständig. Gleichzeitig fehlt es an klaren römischen Leitlinien zur Auslegung des Dokuments.
Die Folge: Ein wachsender pastoraler Flickenteppich, in dem die „Einheit in der Vielfalt“ zur Uneinigkeit im Unklaren wird.
SCHLUSSFAZIT: DER SEGEN WIRD ZUR NAGELPROBE DER KIRCHLICHEN IDENTITÄT
Fiducia supplicans wollte pastorale Räume öffnen – und hat dabei theologische Grenzen überschritten. Der Versuch, Barmherzigkeit ohne normative Verankerung zu praktizieren, führt nicht zur Erneuerung, sondern zur Erosion.
Die Erklärung hat die Kirche nicht versöhnt, sondern gespalten:
• Theologisch: durch eine unklare Trennung zwischen Segen und Anerkennung.
• Pastoral: durch Überforderung der Seelsorger.
• Kirchlich: durch Auseinanderfallen der Ortskirchen in römische, synodale und kulturelle Modelle.
• Ökumenisch: durch massive Irritationen der christlichen Partnerkirchen, insbesondere der Orthodoxie.
Der Segen ist in der Bibel nie bloße freundliche Geste, sondern eine Bestätigung des göttlichen Willens. Wenn die Kirche aufhört, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden, verliert sie ihre Stimme in der Welt.
Der Weg in die Zukunft kann nur über Klarheit, Treue zur Lehre und pastorale Ehrlichkeit führen. Alles andere ist – wie Papst Benedikt XVI. warnte – das stille Gift des Relativismus, das langsam die Glaubensgestalt der Kirche zersetzt.
Über den Autor: Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer (Link) ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, Ostkirchenkunde und ostkirchlicher Liturgie. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig, Konsultor der Ostkirchenkongregation in Rom, Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt und veröffentlicht regelmäßig zu Fragen der Ostkirchen-Theologie, der Liturgie der Ostkirchen und des Frühen Mönchtums.
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