Zeitliche und ewige Zukunft

31. Dezember 2025 in Kommentar


Was uns der liberale Alexis de Tocqueville über die Bedeutung des ewigen Lebens für das Diesseits zu sagen hat. Ein Gastkommentar von Martin Grichting


Chur (kath.net)

Gilbert K. Chesterton hat einmal bemerkt: «Mehr als je zuvor glaube ich an den Liberalismus. Aber es gab eine rosige Zeit der Unschuld, in der ich an Liberale glaubte». In der Tat waren nicht alle Liberalen so liberal, wie sie behauptet haben. Gerade wenn es um die katholische Kirche und ihr Glaubensbekenntnis ging, wurden sie nicht selten illiberal. Heute ist das nicht weniger der Fall.

Aber es gibt – wie bei fast allem – Ausnahmen. Eine davon ist der Philosoph und Staatsmann Alexis de Tocqueville (1805‒1859). Aufgrund der religionskritischen französischen Aufklärung verlor er in seiner Jugend den christlichen Glauben. Er war nie stolz darauf, sondern hat ein Leben lang darunter gelitten, über die letzten Fragen im Dunkeln zu tappen. Gleichwohl hat er die Religion, insbesondere die katholische, der er als französischer Adliger naturgemäss angehörte, stets mit höchstem Respekt behandelt. So traurig das spirituelle Drama Tocquevilles ist, es gibt seinen Aussagen und Einsichten über die Religion ein besonderes Gewicht. Denn sie kommen nicht von einem kirchlichen Apologeten.

An der Wende von einem Jahr zum anderen werden wir wie von selbst an die Fragen nach der Bedeutung der Zeit sowie der Zukunft erinnert. Tocqueville hat dazu etwas Bedenkenswertes gesagt, gerade im Zusammenhang mit der Religion. In seinem Hauptwerk «Über die Demokratie in Amerika» schreibt er: «Die Religionen gewöhnen allgemein daran, sich auf die Zukunft einzustellen. Darum sind sie dem Glück in diesem Leben nicht weniger nützlich als der Glückseligkeit im jenseitigen Leben. Darin liegt eines ihrer grössten politischen Merkmale. In dem Grad jedoch, wie das Licht des Glaubens schwindet, verengt sich die Sicht der Menschen, und es ist, als schiene ihnen das Ziel menschlichen Tuns täglich näher gerückt. Haben sie sich einmal daran gewöhnt, sich nicht mehr mit dem Geschehen nach dem Tode zu befassen, so sieht man sie leicht in jene vollständige und rücksichtslose Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft verfallen, die bestimmten Trieben des Menschengeschlechts nur zu sehr entspricht. Sobald sie nicht mehr gewohnt sind, ihre Haupthoffnungen auf weite Sicht zu bauen, treibt es sie natürlicherweise nach sofortiger Verwirklichung ihrer geringsten Wünsche. Und von dem Augenblick an, da sie nicht mehr an ein ewiges Leben glauben, handeln sie so, als hätten sie nur einen einzigen Tag zu leben». (Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, Zürich 1987, Bd. 2, S. 221 f. [= Bd. 2, 2. Teil, 17. Kapitel]).

Diese Sätze, die Tocqueville im Jahr 1840 zu Papier gebracht hat, sind zweifellos pointiert. Er hat sie zu einer Zeit notiert, als in Europa und in den USA noch die grosse Mehrheit der Menschen nicht nur formell die christliche Religion bekannte, sondern an sie glaubte und versuchte, danach zu handeln. Aber schon damals war für Tocqueville, diesen feinen Beobachter der menschlichen Seele, erkennbar, was geschehen würde, falls der Glaube mit seinem Bezug zur Ewigkeit schwinden sollte: Die Sicht des Menschen auf das Weite, auf die Zukunft würde verloren gehen.

Denn die Religion, unser christlicher Glaube, leitet uns an, unser Leben auf die Ewigkeit hin zu leben. Es ist unsere Berufung als Christen. Diese Berufung zur ewigen Gemeinschaft mit Gott hat aber auch für den diesseitigen Alltag eine grosse Tragweite. Denn wenn man die Sichtweise, die über den Tag hinaus geht, verliert, ist man geneigt, zuletzt so zu leben und zu handeln, als hätte man nur noch heute zu leben. Schon der Apostel Paulus hat diese Lebensphilosophie beschrieben. Menschen, die sie teilten, lebten nach dem Motto: «Lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot» (1 Kor 15,32). Man sagt im gleichen Sinn auch: «Nach mir die Sintflut». Wer so denkt, ist nicht gerne bereit, sich hinzugeben, sei es für die Gemeinschaft, für die Gesellschaft, für die Politik oder für eine lange und schwierige Ausbildung. Wer so denkt, ist auch nicht gerne bereit, sich lebenslang zu binden, sei es in der Ehe, als Priester oder als Ordensfrau bzw. Ordensmann. Wer sein Leben nicht auf die ewige Zukunft ausrichtet, wird Mühe haben, sie auf die zeitliche Zukunft hin auszurichten. Denn diese Sichtweise auf das Leben verlangt zuerst einmal immer das Opfer von Freiheit, Selbstbestimmung sowie Unabhängigkeit. Nicht zuletzt deshalb werden auch immer weniger Kinder geboren. Denn es zählt allzu sehr das hier und heute, der sofortige Genuss. Es fehlt die Kraft, sich zu binden, etwas auf lange Sicht zu investieren. Es fehlt die Fähigkeit, in die Zukunft zu schauen und im Vertrauen auf Gottes Beistand etwas auf Langfristigkeit Angelegtes zu planen und anzustreben. Weil man nicht unmittelbar ernten kann, sät man nicht mehr. Und das ist nicht fruchtbar.

Wenn wir auf unsere westlichen Gesellschaften schauen, die den christlichen Glauben zu einem grossen Teil verloren haben, erkennen wir leicht, dass viele Menschen nur noch für das hier und heute leben und dass sie alles und sofort wollen. Und sie reagieren allergisch, wenn sie daran gehindert werden, diesem Drang nachzuleben. Die christliche Religion, die sie aus ihrer Selbstbezogenheit befreien würde, empfinden sie deshalb als Einengung bei der unmittelbaren Befriedigung ihrer Wünsche.

Wenn wir demgegenüber den christlichen Glauben annehmen und leben, hilft er uns, über den Tag hinaus zu schauen, auf Gottes Ewigkeit. Wir wissen dann, dass es nicht nur das hier und heute gibt, sondern dass wir berufen sind, einmal in Christus für immer zu leben. Und das gibt uns die Kraft und die Zuversicht, uns im hier und heute zu schenken, uns hinzugeben, uns zu binden, Verantwortung zu übernehmen, auf lange Sicht zu planen, mit Gottes Beistand zu rechnen, mutig etwas Langfristiges in Angriff zu nehmen, den Egoismus, das Schielen auf den unmittelbaren und sofortigen Genuss zu zügeln, der «Alles-und-sofort-Mentalität» zu widerstehen, «die bestimmten Trieben des Menschengeschlechts nur zu sehr entspricht», wie es Tocqueville formuliert.

Der Theologe Romano Guardini hat das, worum es Tocqueville geht, auf seine Art und Weise formuliert. In der Schrift «Das Ende der Neuzeit» betont er, dass es Kräfte im Menschen gibt, die an sich «natürlich» sind, die also schon ohne Religion und ohne Gnade zum Menschsein gehören. Die Fähigkeit zur Hingabe, etwa im Sinne der Ehe, und die Opferbereitschaft, die es braucht, um Kinder zu bejahen und sie zu erziehen, gehören dazu. Das ist an sich mit der Natur des Menschen gegeben. Aber, so sagt Guardini: Diese Werte, die an sich evident sind, treten nur ins Bewusstsein und werden nur lebbar unter der «Überwölbung» des Glaubens. Anders gesagt: Wir erreichen das, was an sich natürlich ist, nicht, wenn es nicht vom Glauben und von der Gnade Gottes getragen ist. Denn der Mensch ist erbsündlich vorbelastet. Paulus sagt das so: «Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will» (Röm 7,19). Auch dazu gibt es ein passendes Wort von Chesterton: In einem Kohlkopf dränge alles dahin, einen guten Kohlkopf hervorzubringen. In einem Menschen dränge jedoch nicht alles dahin, das hervorzubringen, was man einen guten Menschen nenne.

Seien wir vor dem Hintergrund solcher Gedanken Gott dankbar für unser Christsein. Es bietet uns nicht nur die Perspektive der Ewigkeit jenseits aller Zeit. Sondern es hilft uns auch diesseitig, in der Zeit, das tatsächlich zu erreichen, was an sich natürlich ist.

Vom Autor ist zuletzt erschienen: Religion des Bürgers statt Zivilreligion. Zur Vereinbarkeit von Pluralismus und Glaube im Anschluss an Tocqueville (Schwabe, Basel 2024).


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