Die aufgehende Sonne der Gerechtigkeit: über Hoffnung, Armut und das Kommen des Herrn

16. November 2025 in Aktuelles


Zur Heilig-Jahr-Feier der Armen: Biblische Hoffnung und konkrete Nähe. Die Armen im Herzen des Evangeliums: Ein Leitwort des Heiligen Jahres. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) In seiner Predigt zur heiligen Messe in der Petersbasilika am 33. Sonntag im Jahreskreis im Rahmen der Heilig-Jahr-Feier der Armen hat Papst Leo XIV. die biblische und geistliche Perspektive der letzten Sonntage des Kirchenjahres entfaltet. Ohne rhetorische Zuspitzung, dafür in theologischer Klarheit, stellte der Papst das Kommen Gottes in den Mittelpunkt: jenes Kommen, das in der Heiligen Schrift als „Tag des Herrn“ bezeichnet wird und zugleich Gericht, Heil und endgültige Offenbarung der göttlichen Treue bedeutet.

Ausgehend von der ersten Lesung interpretierte der Papst die Prophetie des Maleachi als Hinweis auf eine neue, von Gott gewirkte Zeit: „In der ersten Lesung sieht der Prophet Maleachi im Kommen des ‚Tags des Herrn‘ eine neue Zeit anbrechen. Sie wird als die Zeit Gottes beschrieben, in der die Hoffnungen der Armen und Demütigen - als ginge eine Sonne der Gerechtigkeit auf - eine letzte und endgültige Antwort vom Herrn erhalten und das Werk der Bösen und ihre Ungerechtigkeit, die vor allem zu Lasten der Wehrlosen und Armen geht, ausgerottet und wie Stroh verbrannt wird“. Damit wird der Horizont klar: Das Ende der Zeiten erscheint nicht als zerstörerischer Abbruch, sondern als göttliches Aufleuchten, das die Armen in ihre Würde zurückruft und die Ungerechtigkeit beendet.

Diese „Sonne der Gerechtigkeit“ ist für den Papst die christologische Mitte: „Diese aufgehende Sonne der Gerechtigkeit ist, wie wir wissen, Jesus selbst. Denn der Tag des Herrn ist nicht nur der letzte Tag der Geschichte, sondern das Reich, das im nahenden Sohn Gottes zu jedem Menschen kommt“. Der Papst legte das Evangelium des Sonntags als Ankündigung dieses Kommens Christi aus: „Im Evangelium kündigt Jesus in der für seine Zeit typischen apokalyptischen Sprache dieses Reich an und lässt es anbrechen: Er selbst ist nämlich die Herrschaft Gottes, die in den dramatischen Ereignissen der Geschichte erscheint und sich Raum verschafft“. Daraus ergibt sich für die Jünger nicht Furcht, sondern Bestärkung. Der Papst zitiert die Zusage Jesu: „Sie brauchen den Jünger also nicht zu erschrecken, sondern sollten ihn noch ausdauernder in seinem Zeugnis machen und ihm bewusstwerden lassen, dass die Verheißung Jesu immer lebendig und zuverlässig ist: ‚Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden‘ (Lk 21,18)“. Die Kirche bleibt nach der bekannten Formel aus Lumen gentium eine pilgernde Kirche: „Auch heute noch schreitet die Kirche ‚zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt‘ (Lumen Gentium, 8)“

Diese Spannung zwischen Anfechtung und Trost, zwischen geschichtlicher Kontingenz und göttlicher Treue wird von Leo XIV. als Grundmotiv des kirchlichen Daseins aufgegriffen: „Dort, wo alle menschlichen Hoffnungen erschöpft zu sein scheinen, wird die einzige Gewissheit noch fester, die sicherer ist als Himmel und Erde, nämlich dass es der Herr nicht zulassen wird, dass uns auch nur ein einziges Haar gekrümmt wird“.

Von hier aus richtet Leo XIV. den Blick auf die Armen und Leidenden der Gegenwart. Die Heilige Schrift wird als einheitlicher Zeuge der Nähe Gottes zu den Geringsten gelesen: „Die gesamte Heilige Schrift ist von diesem roten Faden durchzogen, der von einem Gott erzählt, der immer auf der Seite der Geringsten steht, auf der Seite der Waisen, der Fremden und der Witwen (vgl. Dtn 10,17–19)“. In der Inkarnation erreicht diese göttliche Parteinahme ihren Höhepunkt: „In Jesus, seinem Sohn, erreicht die Nähe und Liebe Gottes ihren Höhepunkt: Deshalb wird die Gegenwart und das Wort Christi zum Jubel und zum Jubeljahr für die Ärmsten, denn er ist gekommen, um den Armen die frohe Botschaft zu verkünden und das Gnadenjahr des Herrn auszurufen (vgl. Lk 4,18–19)“.

Aus dieser Perspektive deutet Leo XIV. die Heilig-Jahr-Feier der Armen: „An diesem Gnadenjahr nehmen auch wir gerade heute in besonderer Weise teil, da wir an diesem Welttag die Heilig-Jahr-Feier der Armen begehen.“ Auf eindringliche Weise wandte sich der Papst direkt an die armen und leidenden Menschen: „Die ganze Kirche jubelt und freut sich, und vor allem euch, liebe Brüder und Schwestern, möchte ich mit Nachdruck die unverbrüchlichen Worte Jesu, unseres Herrn, weitergeben: ‚Dilexi te – ich [habe] dir meine Liebe zugewandt‘ (Offb 3,9)“. Diese göttliche Zuwendung wird vom Papst als Fundament kirchlicher Sendung gedeutet: „Ja, angesichts unserer Niedrigkeit und Armut sieht Gott wie kein anderer auf uns und liebt uns mit ewiger Liebe. Und seine Kirche will auch heute, vielleicht gerade in dieser unserer von alter und neuer Armut verwundeten Zeit, die ‚Mutter der Armen [sein, ein] Ort der Annahme und der Gerechtigkeit‘ (Apostolische Exhortation Dilexi te, 39)“.

Im Weiteren analysierte der Papst die verschiedenen Formen der Armut: materielle Not, moralische Orientierungslosigkeit, spirituelle Leere. Gemeinsam sei ihnen ein existentielles „Drama der Einsamkeit“: „Was all diese Formen der Armut gemeinsam haben, ist das Drama der Einsamkeit. Sie stellt uns vor die Herausforderung, Armut ganzheitlich zu betrachten… es ist eine Kultur der Aufmerksamkeit, die wir entwickeln müssen, gerade um die Mauer der Einsamkeit zu durchbrechen“. Deshalb rief er zu einer Haltung alltäglicher Achtsamkeit auf, die bereits „in der Familie vermittelt“ werde und „an den Orten konkret zu leben“ sei, „wo wir arbeiten und studieren, in den verschiedenen Gemeinschaften, in der digitalen Welt, überall, indem wir bis an die Ränder vordringen und Zeugen der Zärtlichkeit Gottes werden“.

Vor dem Hintergrund weltweiter Konflikte sprach der Papst über die Erfahrung globaler Ohnmacht. Diese beschrieb er als trügerisch: „Heute scheinen vor allem die Kriegssituationen, die es leider in verschiedenen Regionen der Welt gibt, zu bestätigen, dass wir uns in einem Zustand der Ohnmacht befinden. Doch die Globalisierung der Ohnmacht entspringt einer Lüge, nämlich dem Glauben, dass dies schon immer so gewesen ist und sich nicht ändern kann“. Demgegenüber bekräftigte er die Hoffnung des Evangeliums: „Das Evangelium sagt uns hingegen, dass der Herr gerade in Zeiten geschichtlicher Umwälzungen kommt, um uns zu retten“. Die Kirche müsse daher sichtbar machen, was sie verkündet: „Und wir, die christliche Gemeinschaft, müssen heute, inmitten der Armen, ein lebendiges Zeichen dieses Heils sein“.

Die Armut „stellt für die Christen eine Herausforderung dar, aber auch für alle, die in der Gesellschaft Verantwortung tragen. Ich fordere daher die Staats- und Regierungschefs auf, auf den Schrei der Ärmsten zu hören. Es kann keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben. Daran erinnern uns die Armen auf vielfältige Weise: mit ihrer Migration ebenso wie mit ihrem Schrei, der so oft vom Mythos des Wohlstands und des Fortschritts erstickt wird, der nicht alle berücksichtigt, ja viele Geschöpfe vergisst und sie ihrem Schicksal überlässt“.

Den Mitarbeitern der Hilfsorganisationen, den vielen freiwilligen Helfern und all jenen, die sich für die Linderung der Not der Ärmsten einsetzen, „spreche ich meinen Dank aus und ermutige ich sie zugleich, mehr und mehr zu einem kritischen Gewissen in der Gesellschaft zu werden. Ihr wisst sehr gut, dass die Frage der Armen zum Wesentlichen unseres Glaubens zurückführt, dass sie für uns das Fleisch Christi sind und nicht nur eine soziologische Kategorie (vgl. Dilexi te, 110). ‚Wie eine Mutter begleitet die Kirche [deshalb] alle, die unterwegs sind. Wo die Welt Bedrohungen sieht, sieht sie Kinder; wo Mauern errichtet werden, baut sie Brücken’ (ebd., 75)“.

Leo XIV. schloss seine Betrachtungen: „Lassen wir uns bei dieser Heilig-Jahr-Feier der Armen vom Zeugnis der heiligen Männer und Frauen inspirieren, die Christus durch ihr Wirken für die Ärmsten gedient haben und ihm auf dem Weg der Niedrigkeit und der Entäußerung nachgefolgt sind. Insbesondere möchte ich die Gestalt des heiligen Benedikt Joseph Labre hervorheben: Sein Leben als ‚Vagabund Gottes’ weist die Merkmale auf, die ihn zum Patron aller obdachlosen Armen machen. Möge die Jungfrau Maria, die uns im Magnificat beständig an Gottes Entscheidungen erinnert und denen eine Stimme verleiht, die keine Stimme haben, uns helfen, in die neue Logik des Reiches Gottes hineinzufinden, damit die Liebe Gottes, die annimmt, vergibt, Wunden verbindet, tröstet und heilt, in unserem Christenleben immer präsent ist“.

So verbindet die Predigt des Papstes in charakteristischer Weise biblische Eschatologie, christologische Mitte und konkrete Zuwendung zu den Armen. Die Hoffnung des „Tages des Herrn“ wird nicht vertröstend, sondern als göttliche Gegenwart interpretiert, die bereits jetzt wirkt, die Armen erhebt und die Kirche zur Solidarität ruft. Damit stellt Papst Leo XIV. die Armen erneut in das Zentrum des Heiligen Jahres und betont, dass die Kirche ihre Identität gerade dort findet, wo sie - im Sinne Jesu - den Geringsten nahe ist.

 


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