
14. November 2025 in Kommentar
In einer Zeit wachsender Vereinsamung eröffnet der Glaube eine tiefe Dimension geistlicher Nähe: die Intimität mit Gott. - BeneDicta am Freitag von Dorothea Schmidt
Regensburg (kath.net)
Wenn die Tage kürzer und dunkler werden, häufen sich nicht nur die Lichter auf den Straßen, sondern auch die Schatten in vielen Herzen. Studien berichten gerade in dieser Zeit von einer Zunahme oder zumindest einem Zutagetreten psychischer Krisen und einer Angst vor dem Alleinsein an Weihnachten. Ärzte müssen Menschen auffangen, die mit Depressionen ringen – manche werden sogar von Suizidgedanken geplagt.
Einsamkeit kann zu einer Form existenzieller Nacktheit werden. Sie trifft Menschen, wenn geliebte Angehörige sterben, wenn Beziehungen zerbrechen – oder aber, wenn man sich selbst in ein inneres Exil zurückgezogen hat, aus Enttäuschung, Verletzung oder Angst. Einsamkeit kann lähmen, die eigene Bedeutung infrage stellen oder tiefe Verlassenheit hervorrufen. Doch sie ist nicht nur ein Ort der Leere. Für uns Christen kann sie – geistlich betrachtet – auch zu einem Raum der Begegnung mit Gott werden. Die ganze Heilige Schrift bezeugt, dass Einsamkeit kein leerer Raum ist, sondern ein heiliger Ort – ein Raum der Begegnung. Teresa von Ávila sprach von der „inneren Burg“, in deren tiefstem Zimmer Christus selbst auf uns wartet.
Und Gott ruft jeden Menschen beim Namen — persönlich, einladend, zärtlich, ja auch (um unsere Liebe) werbend. Er möchte uns hineinziehen in eine tiefere Beziehung zu Ihm – nicht trotz der Einsamkeit, sondern gerade durch sie hindurch. Dabei ist es unerheblich, ob jemand unfreiwillig einsam ist oder sich bewusst für das Alleinsein entscheidet: Gottes Ruf gilt allen zu jeder Zeit.
Das soll den Schmerz der Einsamen keineswegs relativieren oder nötige Medikationen in Abrede stellen, sondern zusätzlich auf ein verborgenes geistliches Potenzial hinweisen. In der Stille der Einsamkeit offenbart sich eine Wirklichkeit, die im Trubel des Alltags oft verloren geht: die Möglichkeit tiefer Gottesgemeinschaft. Sarah Young schreibt in ihrem Buch „Ich bin bei dir“ vom geistlichen Kampf gegen die Fallen, die überall dort lauern, wo der Mensch nicht Gott zuerst sucht: Selbstmitleid, Verzweiflung, Stolz, falsche Selbstbestimmung. Wer diese Fallen erkennt und meidet, der kann die Einsamkeit nicht nur überstehen, sondern verwandelt erleben.
Jesus hat uns seine bleibende Gegenwart zugesagt – bis ans Ende der Welt. Die Frage ist, ob wir das auch wirklich glauben. Denn manchmal scheint Gott fern, unerreichbar, einfach verborgen. Aber das liegt nicht an seiner Abwesenheit, sondern an der Art seiner Gegenwart. Vielleicht antwortet der Himmel nicht immer so, wie wir es erwarten. Wir drücken Gott oft in menschliche Kategorien und in irdische Vorstellungen. Unsere Vorstellungskraft kann ihn jedoch nicht erfassen – und doch ist er ein Gott, der sich finden lässt, wenn wir bereit sind, Ihm zu begegnen. „Ihr werdet mich suchen und finden, wenn ihr von ganzem Herzen nach mir fragt“, sagt Jeremia (Jer 29,13).
Gott, der ganz Liebe ist, sucht die Liebe seiner Kinder. Er wünscht sich Intimität, Nähe und Herzensgemeinschaft. Nirgendwo wird das deutlicher als im Hohelied der Liebe, wo die Beziehung zwischen Gott und Mensch in Bildern einer leidenschaftlichen Sehnsucht beschrieben wird. Diese intime Beziehung ist kein theologisches Konstrukt – sie ist ein realer Schutzraum gegen psychische Abwärtsspiralen, gegen Selbstmitleid, gegen die Versuchung, aus der Einsamkeit heraus anderen Menschen einen Platz im eigenen Leben zu geben, der allein Gott zusteht — und sie damit womöglich auch zu überfordern. Gott ist nie überfordert.
Und Er weiß, was Einsamkeit bedeutet. Er sah bereits im Garten Eden, dass es „nicht gut ist, dass der Mensch allein sei“ (Gen 2,18). Jesus selbst hat Einsamkeit am eigenen Leib erfahren – in Gethsemane, am Kreuz, haben (fast) alle Freunde ihn verlassen. Trotzdem blieb er verbunden mit dem himmlischen Vater. Dies ist der Weg, den Jesus uns vorlebt. Und dies ist eine Einladung an uns, ihm auch darin nachzufolgen – gerade in der Einsamkeit.
Dabei ist die Begegnung mit Gott nicht immer spektakulär wie im brennenden Dornbusch bei Mose. Manchmal ist es ein stilles Wort eines Fremden, der genau das sagt, was die eigene Seele hören muss. Manchmal ein Bibelvers, der uns mitten ins Herz trifft, oder ein Frieden überflutet uns, der alle Umstände übersteigt. Es kann in der Stille des Gebets geschehen, im Dienst am Nächsten oder mitten im Alltag. Plötzlich spürt das Herz: Er ist hier. Er war gar nie weg. Selbst, wenn wir meinen, nicht beten zu können oder schlecht zu beten und Gott gerade nicht hören zu können, Gottes Liebe fließe immer in die Ihn suchende Seele hinein, schreiben Thomas Acklin und Boniface Hicks in ihrem Buch „Personal Prayer“.
Doch Voraussetzung für eine solche Erfahrung ist echte Offenheit. Wer sich innerlich für Gottes Gegenwart öffnet – und sich nicht in Aktionismus verliert oder zwischenmenschliche Ersatzlösungen sucht –, der wird erleben, dass Gott treu ist. Die Braut im Hohelied zeigt es uns: Auch wenn sie den Geliebten nicht findet, gibt sie die Suche nicht auf. „Selbst wenn ich alle Straßen durchstreifen muss – ich will Ihn finden.“ Neben der Entscheidung, sich der Gegenwart Gottes auszusetzen, braucht es dafür auch Vertrauen – ein kindliches, schlichtes Vertrauen, das auch aus der Überzeugung resultiert, dass der Mensch ohne Gott nichts ist und nichts kann.
Gott hat sich in Jesus Christus sichtbar gemacht. Heute offenbart sich derselbe Jesus durch den Heiligen Geist – den Tröster, den Parakleten, den zur Seite Gerufenen. Paulus sagt es mit Klarheit: „Der Geist selbst bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ (Röm 8,16). Das ist die tiefste Wahrheit gegen jede Einsamkeit: Du bist nicht allein. Du bist Kind Gottes. Und dein Vater verlässt dich niemals. Er verurteilt nicht, auch nicht deine tiefsten Abgründe. Er liebt und Er bleibt. Der Hebräerbrief erinnert uns daran: „Wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen.“ (Hebr 4,15)
Seine Liebe ist so groß, dass er uns sogar dann noch sucht, wenn wir geistlich eingeschlafen, lau geworden sind. Dann spricht Gott uns dasselbe zu, was der Bräutigam im Hohelied der innerlich schlafenden Braut zuruft: „Wenn du mich aus den Augen verlierst, folge meinen Spuren – dorthin, wo ich meine Liebenden hinführe. Komm mit deinen Lasten und Sorgen… Ja, du bist meine liebste Gefährtin. Was für eine Freude du mir bereitest.“ (vgl. The Passion Translation) Neben dem Hohelied der Liebe können auch die Psalmen, die Evangelien, die Paulusbriefe oder andere Stellen der Heiligen Schrift in der lectio divina, in Meditation oder Kontemplation zu heiligen Räumen der Begegnung werden. Es gibt keine Technik für die Intimität mit Gott. Es braucht nur ein Herz, das Ihn sucht.
Der Kirchenvater Augustinus formulierte es so: „In interiore homine habitat veritas – im Innersten des Menschen wohnt die Wahrheit.“ Diese Wahrheit ist oft eine leise, verletzliche, sehnsuchtsvolle. Aber sie ist auch die Tür zur Freiheit. Denn wer lernt, mit Gott allein zu sein, kann auch mit anderen wieder wahrhaftig sein, kann frei und tief verbunden mit anderen leben. Wer die Gegenwart Gottes in der Stille erfahren hat, wird nicht mehr so leicht von der Leere überwältigt, sondern beginnt zu begreifen, was es heißt, wirklich mit Gott zu leben: In der Gewissheit, bedingungslos geliebt zu sein. So kann Einsamkeit zum Übungsraum werden – ein heiliger Ort, in dem sich entscheidet, ob wir unser Leben von Menschen abhängig machen (und damit andere von uns) oder in Gott gründen, dessen Verheißung ewig gilt: Selbst wenn uns alle verlassen, „der Herr nimmt mich auf.“ (Ps 27,10) „Kann denn eine Mutter ihr Kind vergessen? Selbst wenn sie es täte – ich vergesse dich nicht.“ (Jes 49,15)
© 2025 www.kath.net