„Warum so inkonsequent, Herr Bischof Kohlgraf?“

13. August 2025 in Kommentar


„Wenn Ihnen, Herr Bischof, auch der Atem stockt bei der Kenntnisnahme der todbringenden Argumentationen von Brosius-Gersdorf, so sollte dieser Schock für Sie ein Antrieb sein für …“ . Gastkommentar mit persönlicher Ansprache von Hubert Hecker


Mainz-Karlsruhe (kath.net) Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf hat in der „Allgemeinen Zeitung“ am 26.7.2025 einen Kommentar geschrieben zur Debatte um die Lebensrechts-Positionen von Frauke Brosius-Gersdorf. Auch nach deren Verzichtserklärung für die Kandidatur zum Verfassungsrichteramt bleibt das Thema relevant, weil die Juristin eine nicht unbedeutende Strömung in der deutschen Rechtswissenschaft repräsentiert.

Ihrer Aussage, Herr Bischof, zu der „unumstößlichen Wahrheit“ des Grundgesetzes kann ich zustimmen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar, von Anfang an, für alle Menschen und ohne Abstufungen“.

Aber Ihr allgemeines Bekenntnis läuft leider ins Leere, wenn Sie sich gleichzeitig weigern, auf die aktuellen Angriffe gegen die Menschenwürde zu reagieren. Ausgerechnet eine – inzwischen ehemalige – Kandidatin für das Verfassungsrichteramt bestreitet die Unantastbarkeit der Menschenwürde sowie deren Geltung von Beginn des menschlichen Lebens an. Nach der Meinung von Brosius-Gersdorf wäre die Klasse der ungeborenen Menschen von der Menschenwürde ausgeschlossen, sie wären in ihrem menschlichen Würde-Status nicht den Geborenen gleichgestellt.

Wurde nicht genau deshalb 1949 die Menschenwürdegarantie für alle Menschen gleichermaßen den grundgesetzlichen Grundrechten vorangestellt, um solchen Willkür-Regeln von unterschiedlichen Wert- und Würdeklassen von Menschen für immer einen Riegel vorzuschieben?

Wenn eine Verfassungsrichterkandidatin die für alle gleichgeltende Menschenwürde relativieren will und damit die Fundamente des Grundgesetzes unterminiert, dann sind alle Bürger aufgerufen, dagegen zu protestieren und sich für die Verteidigung unserer Grundwerte einzusetzen.

Angesichts dieser Situation ist es unverständlich und inkonsequent, Herr Bischof, dass Sie sich einer Stellungnahme zu den entsprechenden Aussagen von Brosius-Gersdorf verweigern. Ihre Begründung, sich nicht mit den „komplexen Texten beschäftigt“ zu haben und es anscheinend auch nicht zu wollen, ist nicht nachvollziehbar. Denn die einschlägigen Aussagen der Kandidatin sind auch ohne „verfassungsrechtliche Kenntnisse“ für jeden (juristischen) Laien klar und verständlich: „Es gibt gute Gründe dafür, dass die Menschenwürdegarantie erst ab der Geburt gilt“, schreibt die Juristin auf S. 7 der elfseitigen Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Bundestags vom 10.2.2025. 

Gegen diesen mutmaßlichen Verfassungsbruch der Juristin, den ungeborenen Menschen die Menschenwürde abzusprechen, haben seit einigen Wochen zahlreiche Bürger in Medien, mit Mails und Unterschriften protestiert. Die Bischöfe Oster und Voderholzer qualifizieren in ihrer Stellungnahme vom 9. Juni die juristische Attacke auf die Menschenwürde als „radikalen Angriff auf die Fundamente unserer Verfassung“.

Wenn Ihnen, Herr Bischof, die Verteidigung der „unumstößlichen Wahrheiten“ unserer Verfassung ein ernstes Anliegen ist, wie Sie sagen, dann spricht alles dafür, sich dem Aufruf der Bischofskollegen gegen die Angriffe auf grundgesetzlich garantierte Menschenwürde und Lebensrecht anzuschließen.

Sie dagegen machen das Gegenteil. Sie beschimpfen die Kritiker der Juristin als Ignoranten. Es macht den Eindruck von akademischer Überheblichkeit, wenn Sie denen das Recht auf Kritik absprechen, die nicht „über vertiefte verfassungsrechtliche Kenntnisse“ verfügten. Aber für unsere Demokratie ist es absurd, die normalen Bürger von der Debatte um Menschenwürde und Lebensrecht ausschließen zu wollen.

Gleichwohl wäre es sehr nützlich, wenn Sie als ehemaliger Hochschullehrer und derzeitiger Honorarprofessor an der Uni Mainz sich in den einschlägigen Text der Juristin einarbeiten würden: die 60 Seiten der Auftragsstudie von Seiten der Ampelkoalition zur „reproduktiven Selbstbestimmung“ vom Frühjahr 2024. Dem Text ist der Charakter von interessengeleiteter Auftragsarbeit mit dem Ziel der Abtreibungsrechtfertigung auf die Stirn geschrieben. Aus dieser Vorgabe resultieren Widersprüche, Ungereimtheiten, Trugschlüsse und Fehlgewichtungen der juristischen Argumentation.

Nach dem Studium dieser Schrift könnten Sie, Herr Bischof, fundiert über die verfassungsrechtlich und moralisch defizitären Ansätze der links-liberalen SPD-Kandidatin aufklären. Letztlich geht es dabei um die ethische Frage zu Leben und Tod der ungeborenen Kinder. Dazu haben Sie als Bischof die Pflicht, den Katholiken Ihres Bistums in dieser moralischen Gewissensfrage Grundkenntnisse und Orientierung zu vermitteln.

Angesichts dieser dringlichen Aufgaben ist es keine Option, im Zusammenhang mit der Verfassungsrichterwahl die Debatte über Menschenwürde und Lebensrecht als unpassenden Kulturkampf abzutun und damit auszusitzen, wie das einer Ihrer Nachbarbischöfe propagiert.

Sie, Herr Bischof, schreiben zustimmungsfähig weiter: „Das Lebensrecht des Ungeborenen (…) von Anfang an und ohne Abstufungen zählen für mich zu den zentralen Botschaften, an denen ich festhalte.“

Auch bei diesem Punkt sind Sie zu einer Stellungnahme herausgefordert, denn die Position von Brosius-Gersdorf läuft auf das Gegenteil hinaus: Das Ungeborene soll in der Frühphase seiner Entwicklung kein volles Lebensrecht zu beanspruchen haben, sondern auf ein ganz „geringes Schutzniveau abgestuft“ werden. Der „gute Grund“ dafür sei der Umstand, dass der Embryo „in existentieller Abhängigkeit“ stehe zum Körper der schwangeren Frau – eine Willkür-Argument gegen den Sinn des Grundrechts auf Leben. Denn das Lebensrecht gilt genauso wie die Menschenwürde für alle Menschen unabhängig von allen Lebensbedingungen und -umständen. 

Man fragt sich: Sollte das ungeborene Kind aufgrund seiner Kleinheit, Schwachheit und Abhängigkeit nicht gerade eine besondere Schutzwürdigkeit, Fürsorge und Verantwortung der Mutter beanspruchen können? Kann das (volle) Lebensrecht überhaupt abgestuft werden auf ein halbes Recht oder noch geringeres Schutzniveau? 

Bei dem nächsten Argumentationsschritt wird der wahre Grund offenbar, warum die Juristin unbedingt das Lebens- und Schutzrecht des Ungeborenen auf ein schwaches Lebensrecht und niedriges Schutzniveau absenken will: Sie möchte dem Persönlichkeits- und Selbstbestimmungsrecht der erwachsenen Schwangeren ein „starkes Gewicht“ zusprechen – ebenfalls ein willkürliches Ansinnen. Dadurch soll bei dem verfassungsrechtlichen Abwägungsprozess zwischen den Rechten der Schwangeren und denen des Embryos das ungeborene Kind in jedem Fall den Kürzeren ziehen, was es mit dem Leben zu bezahlen hat.

Die argumentative Ausgangsthese vom geringen Lebensrecht läuft auf das Ergebnis hinaus: kein Lebensrecht. In dieser Hinsicht haben die Kritiker Recht mit ihrer These: Brosius-Gersdorf bestreitet das (faktische) Lebensrecht von Ungeboren! 

Hinter ihrem vielfach vorgebrachten „hochkomplexen Abwägungsverfahren“ verbirgt die Juristin eine zynische Logik: Das Freiheitsrecht der belastbaren erwachsenen Frau, die abtreiben will, weil für sie „eine Mutterschaft zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar ist“, sei vorrangig und höher zu gewichten als das fundamentale Lebensrecht des schwachen, schutzbedürftigen ungeborenen Kindes. 

Wenn Ihnen, Herr Bischof, auch der Atem stockt bei der Kenntnisnahme der todbringenden Positionen und Argumentationen von Brosius-Gersdorf, so sollte dieser Schock für Sie ein Antrieb sein für eine neue Verlautbarung Ihrerseits mit einigen kritischen Klarstellungen. 

Archivfoto Bischof Kohlgraf (c) Bistum Mainz


© 2025 www.kath.net