Politische Einflussnahme des Moskauer Patriarchats

13. August 2025 in Kommentar


Innerorthodoxe Spannungen als Hindernis für den ökumenischen Dialog mit der katholischen Kirche. Gastbeitrag von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer


Eichstätt (kath.net)
Einleitung
Die Orthodoxie erscheint dem westlichen Blick oft als monolithischer Block: eine traditionsbewusste, liturgisch einheitliche und theologisch kohärente Großkirche, die als „östliches Gegenüber“ der römisch-katholischen Kirche im ökumenischen Gespräch steht. Doch diese Wahrnehmung täuscht. Hinter dem Begriff „orthodoxe Kirche“ verbirgt sich eine Vielzahl autokephaler Kirchen mit je eigener Geschichte, Kultur, theologischer Prägung und zunehmend auch politischer Interessen- und Abhänigkeitslage.

Diese innerorthodoxen Spannungen sind nicht nur ein internes Problem. Sie wirken sich massiv auf die ökumenischen Beziehungen zur katholischen Kirche aus. Besonders sichtbar wird dies in der Rolle des Moskauer Patriarchats, das sich als geistlicher Führer einer neuen „Weltorthodoxie“ inszeniert, faktisch aber geopolitische Interessen des russischen Staates bedient. Der ökumenische Dialog gerät dadurch in eine fundamentale Krise, die nicht theologisch sondern politisch bedingt ist.

1. Die Struktur der Orthodoxie – Vielfalt ohne Zentrum
Die orthodoxe Kirche besteht heute aus neun Patriarchaten (Konstantinopel, Alexandria, Antiochia, Jerusalem, Bulgarien, Moskau, Serbien, Rumänien, Georgien), sechs autokephalen Kirchen, die ihr Oberhaupt selbst bestimmen (Zypern, Griechenland, Polen, Albanien, Slowakei, orthodoxe Kirchen von Amerika), vier autonomen Kirchen bei denen eine andere Kirche Mitspracherecht bei der Bestimmung des Oberhaupts hat (Finnland, Japan, Sinai-Katharinenkloster, Estland); dazu kommen bestimmte umstrittene Autokephalien (z. B. in der Ukraine oder Nordmazedonien). Diese Kirchen erkennen sich „normalerweise“ gegenseitig als gleichwertig aber nicht als gleichrangig an. Ein zentrales Lehramt, wie es der Papst für die katholische Kirche darstellt, existiert nicht. Der Ehrenprimat des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (Ehrenoberhaupt der orthodoxen Kirche) ist rein protokollarischer Natur und wird insbesondere von Moskau immer wieder systematisch in seiner Reichweite bestritten.

Diese Struktur ist im Prinzip synodal und konsensorientiert, und genau das macht sie anfällig für Blockaden. Wo politische oder nationale Interessen dominieren, wird der Konsens zur Illusion. Die Orthodoxie wirkt dann weniger als einheitliche Gemeinschaft denn als „Konföderation nationalkirchlicher Eigeninteressen“.

2. Innerorthodoxe Konflikte – verstärkt sichtbar seit der ukrainischen Autokephalie
Ein Paradebeispiel für diese Spannungen ist die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine, die 2018 vom Ökumenischen Patriarchat anerkannt wurde. Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) reagierte mit einem drastischen Bruch: Sie kappte die eucharistische Gemeinschaft mit Konstantinopel und mit jenen Kirchen (Alexandria, Athen/Griechenland, Zypern), die die ukrainische Kirche anerkannten.

Dieses Ereignis war nicht bloß ein administrativer Disput, es bedeutete eine tiefe Spaltung im orthodoxen Weltgefüge. Es entstanden parallele Hierarchien in der Ukraine und in Afrika. Die kanonische Ordnung, die territoriale Exklusivität der Jurisdiktion vorsieht, wurde und wird jetzt zunehmend unterlaufen.

Infolge dieser Konflikte ist eine gemeinsame Stimme der Orthodoxie kaum mehr möglich, weder in liturgischer Einheit noch in theologischen Stellungnahmen. Die Orthodoxie zersplittert sichtbar. Und das sollte Rom endlich zur Kenntnis nehmen und sich in seinen notwendigen Entscheidungen bzgl. ihrer Ostkirchen nicht immer ängstlich von irgendwelchen Stimmen und Bedenken der Orthodoxie behindern lassen. Viel zu lange war der Einfluss des Moskauer Patriarchates in Rom, hinsichtlich der griechisch-katholischen Kirchen, zu wirkmächtig.

3. Das Moskauer Patriarchat als geopolitischer Akteur
Seit den 2000er Jahren hat sich das Moskauer Patriarchat eng an die politische Agenda des Kremls gebunden. Präsident Wladimir Putin stilisiert die Orthodoxie als ideologisches Rückgrat einer „russischen Zivilisation“, die gegen einen angeblich dekadenten Westen verteidigt werden müsse. Patriarch Kyrill I. bezeichnete Putins Präsidentschaft gar als „Wunder Gottes“, er verglich ihn mit dem hl. Wladimir, was einer „politischen Seligsprechung“ gleichkommt.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine wurde von Kyrill nicht nur gerechtfertigt, sondern als „metaphysischer Kampf“ gegen Säkularismus und westliche Werte verklärt. Zentral ist dabei das Konzept der „Heiligen Rus“, eine imaginierte geistlich-kulturelle Einheit von Russland, Belarus und Ukraine. Die territoriale Rückführung dieser Einheit ist erklärtes Ziel, auch kirchenpolitisch. Die Autokephalie der ukrainischen Kirche gilt aus Moskauer Sicht daher als ketzerischer Akt der Spaltung.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche (ROK) bedient sich gezielter finanzieller Einflussnahme, um ihre Position international auszubauen. Kirchenbauprojekte, Stipendien für Priesterausbildung oder humanitäre Programme werden über staatsnahe Organisationen wie z.B. die „Russische Welt“-Stiftung („Russki Mir“, ein geostrategisches Werkzeug zur Einflussnahme) realisiert. Beispiele: In Serbien unterstützt Moskau nationalistische und antieuropäische Gruppen. Die orthodoxe Kirche von Antiochien verweigert – wohl aus Dankbarkeit für russische Hilfe – bis heute die Anerkennung der ukrainischen Kirche. Und in Afrika wurden Dutzende Gemeinden durch materielle Unterstützung (Priestergehälter etc.) zur Abkehr vom Patriarchat von Alexandria bewegt. Ein besonders provokantes Beispiel war 2021 die Errichtung eines „Exarchats für Afrika“ durch das Moskauer Patriarchat – als Reaktion auf die Anerkennung der ukrainischen Kirche durch das Patriarchat von Alexandria. Diese Maßnahme widerspricht fundamental der orthodoxen Ekklesiologie, die eine Doppelstruktur auf demselben Territorium (theoretisch) strikt ablehnt.

4. Auswirkungen auf den ökumenischen Dialog
Die katholische Kirche steht heute nicht „der Orthodoxie“ gegenüber, sondern einer zersplitterten kirchlichen Landschaft. Während Konstantinopel im ökumenischen Dialog heute konstruktiv und ehrlich agiert, etwa durch die Ravenna-Erklärung von 2007, die einen universalen Primat grundsätzlich anerkennt, verweigerte Moskau damals die Teilnahme aufgrund der Präsenz ukrainischer Delegierter und wegen der angeblichen Bestrebung Konstantinopels, zu einem kleinen Vatikan zu werden. Faktum ist aber: Wenn es irgendwo diese Tendenz in der Orthodoxie gibt, dann wohl eher im Moskauer Patriarchat.

Die „Gemeinsame Internationale Kommission für den theologischen Dialog“ hat unter den innerorthodoxen Spannungen schwer gelitten. Bereits beim Balamand-Dokument (1993), das eine Entspannung mit den unierten Kirchen suchte, agierte Moskau destruktiv. Seit 2016 nimmt die ROK de facto nicht mehr an der Kommissionsarbeit teil. Damit fehlt der einflussreichste Akteur, und die theologischen Gespräche zum Verhältnis von Primat und Synodalität gehen nur langsam voran.

Statt sich am multilateralen theologischen Prozess zu beteiligen, sucht Moskau gezielt bilaterale, medienwirksame Formate für sich, wie das Treffen von Papst Franziskus und Patriarch Kyrill in Havanna (2016). Inhaltlich blieben solche Begegnungen vage; - es war nicht einmal ein gemeinsames „Vaterunser“ mit Patriarch Kyrill möglich. Der Hauptzweck dieser Aktion war eine politische Selbstdarstellung. Lange war dabei einer der maßgeblichen Strippenzieher der Außenamtschef der ROK Metropolit Hilarion Alfejev.

5. Fazit: Orthodoxe Uneinigkeit als strukturelles Hindernis der Ökumene
Die katholische Kirche sucht verbindliche, institutionelle Dialogformate. Doch ihr ökumenischer Partner ist gespalten. Während Konstantinopel und andere Kirchen (z. B. Griechenland, Rumänien) zum Dialog bereit sind, blockiert Moskau jeden Fortschritt, wenn er den eigenen geopolitischen Narrativen widerspricht.

Für das Moskauer Patriarchat ist die Ökumene kein Weg zur kirchlichen Einheit, sondern eine Bühne zur geopolitischen Selbstdarstellung. Die katholische Kirche wurde und wird dabei nicht selten unter Druck gesetzt, ihre Beziehungen zu Kiew oder Konstantinopel zu relativieren – zugunsten eines „strategischen Dialogs“ mit Moskau.

Der ökumenische Dialog muss differenzierter werden. Gespräche mit jenen orthodoxen Kirchen, die zur Zusammenarbeit bereit sind, sollten intensiviert werden, gerade auch im Sinne des gelebten Dialogs von unten, etwa durch theologischen Austausch, Bildungsprojekte und gemeinsame Sozialinitiativen.

6. Historische Einordnung und theologische Kritik 
Die Haltung des Moskauer Patriarchats im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist nicht nur theologisch problematisch, sondern stellt aus kirchengeschichtlicher Perspektive einen tiefen Bruch mit der spirituellen Tradition der Orthodoxie dar. Der Krieg wird nicht nur mit Waffen geführt, sondern auch mit religiöser Rhetorik, und das Moskauer Patriarchat spielt dabei eine aktive, ja tragende Rolle. 

Dies ist eine besorgniserregende Instrumentalisierung von Theologie für politische Zwecke (vgl. dazu Andriy Mykhaleyko):

1. Ein „heiliger Krieg“ gegen den Westen?
Die Rhetorik von Patriarch Kyrill I., der den Krieg als „metaphysischen Kampf“ gegen westliche Werte wie „Homosexualität“ und „Säkularismus“ darstellt, ist aus kirchenhistorischer Sicht eine gefährliche Neuaufladung der byzantinischen Symphonia-Lehre in autoritärer, imperialer Lesart. Kyrills Rede vom Schutz einer „Heiligen Rus“ offenbart einen eklatanten Missbrauch theologischer Kategorien zur Rechtfertigung territorialer Aggression.

2. Zerstörung kirchlicher Einheit durch imperiale Ambitionen
Das Moskauer Patriarchat versteht sich seit langem nicht mehr nur als nationale Kirche, sondern als Träger eines imperialen/politischen Sendungsbewusstseins. Die aggressive Reaktion auf die Autokephalie der Orthodoxen Kirche der Ukraine zeigt, dass Moskau seine geistliche Autorität nicht durch synodale Konsultation, sondern durch geopolitische Macht zu behaupten versucht. Der Bruch der eucharistischen Gemeinschaft mit anderen orthodoxen Kirchen ist ein beispielloser Rückfall in ein ekklesiologisches Machtdenken.

3. Rückkehr in eine sakralisierte Geopolitik
Historisch betrachtet steht die aktuelle Politik des Moskauer Patriarchats in der Tradition der russischen Staatskirche unter den Zaren. Die Vorstellung Moskaus als „Drittem Rom“ wird heute in neuer Form wiederbelebt – mit tragischen Konsequenzen. Anstelle einer dienenden, versöhnenden Kirche erleben wir eine ideologisch aufgeladene Institution, die als „geistlicher Arm“ des Kremls agiert.

4. Spirituelle Deformation und ethische Sprachlosigkeit
Das Schweigen, die Verharmlosung oder die Befürwortung des Angriffskrieges durch die russisch-orthodoxe Hierarchie ist ein Zeichen moralischer Bankrotterklärung. Eine Kirche, die sich ethisch nicht mehr klar gegen Unrecht positioniert, verliert ihren moralischen Kompass.

5. Ein Bruch, der nicht nur politisch, sondern geistlich ist
Die ukrainische Orthodoxie hat eine eigenständige spirituelle Identität entwickelt, die sich nicht aus imperialen Strukturen nährt, sondern aus dem Martyrium und dem Willen zur Versöhnung. Das Moskauer Patriarchat dagegen hat sich von einer dienenden zu einer kontrollierenden Kirche gewandelt. Wenn die Kirche in Russland ihre Rolle als Erfüllungsgehilfin nationalistischer totalitärer Ideologie nicht aufgibt, droht sie, das Evangelium selbst zur Karikatur zu machen.

Die Orthodoxie lebt von der Wahrheit, nicht von der Macht. Der Missbrauch der Religion zur Legitimation politischer Gewalt war immer ein Zeichen kirchlicher Degeneration. Die Zukunft der orthodoxen Kirche und ihres Dialogs mit anderen Kirchen hängt entscheidend davon ab, ob die Stimme des Evangeliums doch einmal wieder lauter wird als die der Propaganda.

Ausblick
Die katholische Kirche steht heute vor einer doppelten Herausforderung: 
- einerseits die Spannungen innerhalb der Orthodoxie realistisch zu erfassen, 
- andererseits nicht in Zynismus oder Resignation zu verfallen. 
Es braucht eine Ökumene der Differenzierung – aber auch der Hoffnung. Die Stimmen in der Orthodoxie, die für Einheit, Frieden und dialogische Theologie stehen, verdienen Unterstützung und Gehör. 

Die Zukunft der Einheit der Christen hängt entscheidend davon ab, ob Wahrheit und Glaube über Macht und Geopolitik siegen.

Literaturverzeichnis
• De Mey, Peter: The Orthodox-Catholic Dialogue on Synodality and Primacy, in: One in Christ 50 (2016), S. 43–61.
• Hovorun, Cyril: Political Orthodoxies: The Unorthodoxies of the Church Coerced, Minneapolis 2018.
• Mykhaleyko, Andriy: Die orthodoxe Kirche in der Ukraine und die russische Aggression, in: OST-WEST. Europäische Perspektiven 23 (2022) H. 1, S. 22–31.
• Papastathis, Charalampos / Prodromou, Elizabeth H.: The Orthodox Church and Russian Politics, Washington 2021.
• Riedl, Rupert: Patriarch Kyrill und der Krieg. Der Schulterschluss zwischen Altar und Kreml, in: Herder Korrespondenz 76 (2022), S. 35–38.

Autor
Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer, Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität.


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