Wer ist mein Nächster?

28. Mai 2025 in Aktuelles


Papst Leo XIV. über die Umkehr der Perspektive, den Weg der Barmherzigkeit und die Menschlichkeit als Bedingung des Glaubens. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid“ (Lk 10,30-33).

Eine Hoffnung, die den Blick weitet… Papst Leo XIV. eröffnete die Generalaudienz am 28. Mai 2025 mit einem Appell zur geistlichen Umkehr und mit einem Hinweis auf das Anliegen seiner aktuellen Katechesenreihe. Diese widmet sich einigen Gleichnissen Jesu, die, wie der Papst betonte, „eine Gelegenheit sind, die Perspektive zu wechseln und sich der Hoffnung zu öffnen“. Denn oft, so Leo XIV., sei es die Hoffnungslosigkeit, die unsere Sicht verengt, und eben diese Enge wolle das Evangelium durchbrechen: „Die Gleichnisse Jesu helfen uns, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“

So wandte sich der Papst dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter zu (vgl. Lk 10,25–37). Dabei stellte er gleich zu Beginn klar: Es geht nicht nur um einen moralischen Appell, sondern um einen tiefgreifenden Wandel im Herzen – weg von einem egozentrischen Denken hin zu einem neuen Maßstab der Beziehung. Dies sei eben der Maßstab der Barmherzigkeit.

Im Zentrum des Gleichnisses steht ein Gesetzeslehrer, ein erfahrener und gebildeter Mensch, der, so Papst Leo, dennoch seine Blickrichtung ändern muss: „Er ist ganz auf sich selbst konzentriert und bemerkt die anderen nicht“. Als er Jesus fragt, wie man das ewige Leben erbt, verwendet er eine Sprache, die von Anspruch geprägt ist – so, als handele es sich um ein einklagbares Anrecht. Doch dahinter liege, so deutete der Papst an, womöglich ein stiller Schrei nach Aufmerksamkeit. Entscheidend sei, dass der Gesetzeslehrer nur bei einem Wort genauer nachfragt: bei dem Wort „Nächster“. Dieses bedeute wörtlich: „der, der nahe ist“. Und genau diese Nähe wird in der Erzählung Jesu in Bewegung gesetzt.

Jesus antwortet auf die Frage nicht mit einer Definition, sondern mit einer Geschichte – einer, die den Fragenden in Bewegung versetzt. Denn: „Das Gleichnis wandelt die Frage. Sie führt vom kindlichen ‚Wer liebt mich?‘ hin zur reifen Frage: ‚Wem habe ich Liebe erwiesen?‘“. Diese Verschiebung sei entscheidend für das spirituelle Leben: Die erste Frage sei passiv, abwartend, defensiv. Die zweite dagegen sei aktiv, verantwortlich, erwachsen. Die eine bleibt am Rand stehen, die andere drängte, sich auf den Weg zu machen.

Das Gleichnis spielt auf einer Straße – der Straße von Jerusalem nach Jericho –, und genau darin sieht der Papst ein bedeutungsvolles Bild: „Es ist eine schwierige, beschwerliche Straße – wie das Leben selbst. Ein Mann wird auf diesem Weg überfallen, geschlagen, ausgeplündert und halbtot liegengelassen: „Das ist die Erfahrung, die wir machen, wenn Menschen, Situationen oder sogar jene, denen wir vertraut haben, uns alles nehmen und uns am Rand liegen lassen“. Wie begegnen wir solchen Situationen?. so die Frage: „Wie begegnen wir dem Schmerz des anderen?“.

Ein Priester und ein Levit kommen vorbei – beide aus dem Tempel, beide aus dem Raum des Gottesdienstes. Doch sie gehen vorüber. Der Papst kommentiert: „Der Kult allein macht noch nicht barmherzig“. Und: „Die Barmherzigkeit ist zuerst eine Frage der Menschlichkeit – nicht der Religion.“ Bevor wir Gläubige sind, müssen wir Menschen sein. Papst Leo XIV. vermutet, dass sie vielleicht eilig waren – nach langer Zeit im Tempel wollten sie nach Hause. Doch eben diese Eile sei ein Grundproblem unserer Zeit: „Wer glaubt, seine Reise sei wichtiger als alles andere, wird nicht bereit sein, für einen anderen anzuhalten“.

Dann aber kommt jemand, der bereit ist, stehen zu bleiben: ein Samariter – ein Mensch aus einem verachteten Volk. Die Richtung seiner Reise wird nicht genannt – nur, dass er unterwegs war. „Die Religiösität ist hier ohne Belang. Entscheidend ist: Er bleibt stehen, weil er ein Mensch ist, der einem anderen Menschen begegnet, der der Hilfe bedarf“. Damit, so der Papst, beginnt die wahre Barmherzigkeit: im Anhalten, im Dabeibleiben, im Berührtsein. Der Evangelist Lukas beschreibt ausführlich, was der Samariter tut: „Er ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie; dann hob er ihn auf sein eigenes Tier, brachte ihn in eine Herberge und sorgte für ihn. Am nächsten Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme“ (Lk 10,34–35).

Der Papst betonte: „Der Samariter hilft nicht aus der Distanz. Er kommt nahe. Er verbindet, trägt, bezahlt, kümmert sich – und kündigt an, wiederzukommen. Der andere ist für ihn kein Paket zur Ablieferung, sondern ein Mensch, dem Fürsorge gebührt.“

Leo XIV. stellte in seiner ruhigen, eindringlichen Art die Frage an alle: „Wann werden auch wir bereit sein, unsere Reise zu unterbrechen und barmherzig zu sein?“. Die Antwort beginne dort, wo wir erkennen, dass der Überfallene auf der Straße wir selbst sind. „Wenn wir begreifen, dass in diesem verletzten Mann jeder von uns liegt – dann erinnern wir uns an all die Male, in denen Jesus selbst stehen geblieben ist, um sich unser anzunehmen“. Diese Erinnerung verwandle uns. Sie mache uns fähiger, barmherzig zu sein. Und sie lehre uns, dass Barmherzigkeit nicht ein sentimentales Gefühl sei, sondern eine Haltung, die den anderen wirklich sieht und sich nicht abwendet.

Zum Abschluss bat der Papst um das Gebet: „Beten wir, dass wir in Menschlichkeit wachsen – damit unsere Beziehungen wahrer, aufrichtiger, barmherziger werden.“ Er schloss mit einer Anrufung: „Bitten wir das Herz Christi um die Gnade, immer mehr seine eigenen Gefühle in uns zu tragen.“

Papst Leo XIV. hat mit dieser Katechese also nicht nur das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ausgelegt. Er hat das Herz der christlichen Existenz freigelegt: Der andere ist mir nicht fremd, sondern mein Nächster – nicht durch Herkunft oder Religion, sondern durch das Band des Mitleids. Wer bereit ist, stehen zu bleiben, zu helfen, sich zu bücken, trägt bereits in sich das Bild Christi, des wahren Samariters der Menschheit. Denn am Ende lautet die Frage nicht: „Wer ist mein Nächster?“, sondern: „Bin ich zum Nächsten geworden?“ – in der Sprache Jesu die Frage derer, die das Reich Gottes nicht als Besitz beanspruchen, sondern im Erbarmen entdecken.

Die Pilger und Besucher aus dem deutschen Sprachraum grüßte der Papst mit den folgenden Worten:

Liebe Brüder und Schwestern deutscher Sprache, das bevorstehende Hochfest Christi Himmelfahrt lenkt unseren Blick zum Himmel. Gleichzeitig erinnert es uns an die Sendung, die Jesus Christus uns hier auf Erden anvertraut hat. Der Heilige Geist helfe euch, diese treu zu erfüllen.

Foto (c) Vatican Media

 


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