Vatikan: Erklärung Dignitas infinita über die menschliche Würde

8. April 2024 in Weltkirche


Klare Worte gegen Menschenhandel, Abtreibung, Leihmutterschaft, Euthanasie und assistierter Suizid, Geschlechtsumwandlung – „Ideologische Kolonialisierungen“: Entscheidende Kritikpunkte an Gender-Theorie


Vatikan (kath.net) Auf dem Kongress vom 15. März 2019 beschloss die damalige Kongregation für die Glaubenslehre, „mit der Ausarbeitung eines Textes zu beginnen, der die Unausweichlichkeit des Konzepts der Würde der menschlichen Person innerhalb der christlichen Anthropologie hervorhebt und deren Tragweite sowie die nützlichen Auswirkungen auf sozialer, politischer und wirtschaftlicher Ebene aufzeigt, unter Berücksichtigung der jüngsten Entwicklungen des Themas im akademischen Bereich und dessen ambivalenten Auffassungen im heutigen Kontext“. Ein erster diesbezüglicher Entwurf, der im Laufe des Jahres 2019 mit Hilfe einer Reihe von Experten erarbeitet wurde, wurde von einer eingeschränkten Konsultorenversammlung der Kongregation am 8. Oktober desselben Jahres als nicht zufriedenstellend bewertet.

Ein weiterer Entwurf des Textes wurde von der doktrinären Sektion auf der Grundlage der Beiträge mehrerer Experten von Grund auf neu erstellt. Dieser Entwurf wurde am 4. Oktober 2021 in einer Konsultorenversammlung in kleiner Besetzung vorgestellt und diskutiert. Im Januar 2022 wurde der neue Entwurf der Plenarsitzung der Kongregation vorgelegt, bei der die Mitglieder den Text gekürzt und vereinfacht haben.

Am 6. Februar 2023 wurde der neue, geänderte Text von einer kleinbesetzten Konsultorenversammlung bewertet, die einige weitere Änderungen vorschlug. Die neue Fassung wurde der Ordentlichen Versammlung des Dikasteriums (Feria IV) am 3. Mai 2023 zur Bewertung vorgelegt. Die Mitglieder stimmten zu, dass das Dokument mit einigen Änderungen veröffentlicht werden kann. Der Heilige Vater Franziskus genehmigte die Beschlüsse dieser Feria IV bei der mir am 13. November 2023 gewährten Audienz. Bei dieser Gelegenheit bat er mich auch, in dem Text Themen hervorzuheben, die eng mit dem Thema der Würde verbunden sind, wie das Drama der Armut, die Situation von Migranten, Gewalt gegen Frauen, Menschenhandel, Krieg und andere. Um diesem Hinweis des Heiligen Vaters bestmöglich nachzukommen, widmete die doktrinäre Sektion des Dikasteriums einen Kongress dem eingehenden Studium der Enzyklika Fratelli tutti, die eine originelle Analyse und Vertiefung des Themas der Menschenwürde „unabhängig von allen Umständen“ bietet.

Mit Schreiben vom 2. Februar 2024 wurde den Mitgliedern des Dikasteriums im Hinblick auf die Feria IV am darauffolgenden 28. Februar ein neuer, erheblich veränderter Textentwurf mit folgender Erläuterung übermittelt: „Dieser weitere Entwurf wurde notwendig, um einer besonderen Bitte des Heiligen Vaters zu entsprechen. Er forderte ausdrücklich, dass die Aufmerksamkeit auf die gegenwärtigen schweren Verletzungen der Menschenwürde in unserer Zeit im Anschluss an die Enzyklika Fratelli tuttigerichtet werden sollte. Die doktrinäre Sektion hat daher den ersten Teil gekürzt [...] und detaillierter ausgearbeitet, worauf der Heilige Vater hingewiesen hatte“. Die Ordentliche Versammlung des Dikasteriums schließlich hat den Text der vorliegenden Erklärung am 28. Februar 2024 angenommen. Bei der Audienz, die mir zusammen mit dem Sekretär der doktrinären Sektion, Msgr. Armando Matteo, am 25. März 2024 gewährt wurde, hat der Heilige Vater dann die vorliegende Erklärung approbiert und ihre Veröffentlichung angeordnet.

Die Ausarbeitung des Textes, die sich über fünf Jahre hinzog, gibt zu verstehen, dass wir es mit einem Dokument zu tun haben, das aufgrund der Ernsthaftigkeit und der zentralen Bedeutung der Frage der Würde im christlichen Denken einen beträchtlichen Reifungsprozess benötigte, um zu dem endgültigen Entwurf zu gelangen, den wir heute veröffentlichen.

In den ersten drei Teilen erinnert die Erklärung an grundlegende Prinzipien und theoretische Annahmen, um wichtige Klarstellungen zu bieten, die die häufigen Verwirrungen vermeiden können, die bei der Verwendung des Begriffs „Würde“ auftreten. Im vierten Teil werden einige aktuelle problematische Situationen dargestellt, in denen die unermessliche und unveräußerliche Würde, die jedem Menschen zukommt, nicht angemessen anerkannt wird. Das Anzeigen solch schwerwiegender und aktueller Verletzungen der Menschenwürde erscheint geboten, denn die Kirche nährt die tiefe Überzeugung, dass der Glauben nicht von der Verteidigung der Menschenwürde, die Evangelisierung nicht von der Förderung eines würdigen Lebens und die Spiritualität nicht vom Einsatz für die Würde aller Menschen getrennt werden können.

Diese Würde aller Menschen kann in der Tat als „unendlich“ (dignitas infinita) verstanden werden, wie der heilige Johannes Paul II. bei einem Treffen mit Menschen, die von bestimmten Einschränkungen oder Behinderungen betroffen sind,[1] bekräftigt hat, um zu zeigen, dass die Würde aller Menschen jede äußerliche Erscheinung oder jedes Merkmal des konkreten Lebens der Menschen übersteigt.

Papst Franziskus wollte in der Enzyklika Fratelli tutti mit besonderem Nachdruck betonen, dass diese Würde „unabhängig von allen Umständen“ besteht, und forderte alle auf, sie in jedem kulturellen Kontext, in jedem Augenblick des Lebens eines Menschen zu verteidigen, unabhängig von körperlichen, psychologischen, sozialen oder sogar moralischen Mängeln. In dieser Hinsicht versucht die Erklärung zu zeigen, dass wir es mit einer universellen Wahrheit zu tun haben, zu deren Anerkennung wir alle aufgerufen sind, als grundlegende Voraussetzung dafür, dass unsere Gesellschaften wirklich gerecht, friedlich, gesund und letztlich authentisch menschlich seien.

Die Auflistung der in der Erklärung ausgewählten Themen ist sicherlich nicht erschöpfend. Es handelt sich jedoch um Themen, die es ermöglichen, verschiedene Aspekte der Menschenwürde zum Ausdruck zu bringen, die im Bewusstsein vieler Menschen heute möglicherweise verdunkelt sind. Einige sind für verschiedene Bereiche unserer Gesellschaft leicht akzeptabel, andere weniger. Sie erscheinen uns jedoch alle notwendig, weil sie zusammengenommen dazu beitragen, die Harmonie und den Reichtum des Denkens über die Würde zu erkennen, die sich aus dem Evangelium ergibt.

Die vorliegende Erklärung erhebt nicht den Anspruch, ein so reiches und entscheidendes Thema zu erschöpfen, sondern will einige Denkanstöße bereitstellen, die uns helfen, diese Thematik in der komplexen geschichtlichen Situation, in der wir leben, im Auge zu behalten, damit wir uns inmitten so vieler Sorgen und Ängste nicht verirren und uns nicht noch mehr zerreißenden und tiefen Leiden aussetzen.

Víctor Manuel Kard. Fernández
Präfekt

Einige Auszüge aus dieser Erklärung:

2. Die Kirche verkündet, fördert und macht sich zum Garanten der Menschenwürde

17. Die Kirche verkündet die gleiche Würde aller Menschen, unabhängig von ihren Lebensumständen und ihren Eigenschaften. Diese Verkündigung beruht auf einer dreifachen Überzeugung, die im Lichte des christlichen Glaubens der Menschenwürde einen unermesslichen Wert verleiht und die ihr innewohnenden Forderungen verstärkt.

Ein unauslöschliches Bild Gottes

18. Gemäß der Offenbarung entspringt zunächst einmal die Würde des Menschen der Liebe seines Schöpfers, der ihm die unauslöschlichen Züge seines Ebenbildes eingeprägt hat (vgl. Gen 1,26) und ihn dazu aufruft, ihn zu erkennen, zu lieben und in einer Bundesbeziehung mit ihm sowie in Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Frieden mit allen anderen Menschen zu leben. In dieser Sichtweise bezieht sich die Würde nicht nur auf die Seele, sondern auf die Person als untrennbare Einheit und ist somit auch ihrem Leib zu eigen, der auf seine Weise am Ebenbild des Menschen teilhat und auch dazu berufen ist, an der Herrlichkeit der Seele in der göttlichen Seligkeit teilzuhaben.

...

25. Zweitens wird der Begriff der Menschenwürde gelegentlich missbräuchlich verwendet, um eine willkürliche Vermehrung neuer Rechte zu rechtfertigen, von denen viele oft im Widerspruch zu den ursprünglich definierten stehen und nicht von ungefähr in Konflikt mit dem Grundrecht auf Leben gebracht werden,[41] als ob die Möglichkeit, jede individuelle Präferenz oder jede subjektive Befindlichkeit zu äußern und zu verwirklichen, garantiert werden müsste. Die Würde wird dann mit einer isolierten und individualistischen Freiheit gleichgesetzt, die beansprucht, bestimmte subjektive Wünsche und Neigungen als von der Gemeinschaft garantierte und finanzierte „Rechte“ durchzusetzen. Die Menschenwürde kann jedoch weder auf rein individuellen Maßstäben beruhen noch mit dem psychischen und leiblichen Wohlbefinden des Einzelnen allein identifiziert werden. Vielmehr beruht die Verteidigung der Menschenwürde auf konstitutiven Forderungen der menschlichen Natur, die weder von individueller Willkür noch von gesellschaftlicher Anerkennung abhängen. Die Pflichten, die sich aus der Anerkennung der Würde des anderen ergeben, und die entsprechenden Rechte, die sich daraus ableiten, haben daher einen konkreten und objektiven Inhalt, der auf der gemeinsamen menschlichen Natur beruht. Ohne einen solchen objektiven Bezug ist der Begriff der Würde in der Tat der unterschiedlichsten Willkür und Machtinteressen unterworfen.

Abtreibung

47. Die Kirche hört nicht auf, daran zu erinnern, dass „die Würde eines jeden Menschen einen intrinsischen Charakter [hat] und sie gilt von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Gerade die Bejahung dieser Würde ist die unveräußerliche Voraussetzung für den Schutz der persönlichen und sozialen Existenz und zugleich die notwendige Bedingung für die Verwirklichung von Brüderlichkeit und sozialer Freundschaft unter allen Völkern der Erde.“[88] Auf der Grundlage dieses unantastbaren Wertes des menschlichen Lebens hat sich das kirchliche Lehramt stets gegen die Abtreibung ausgesprochen. In diesem Zusammenhang schreibt der heilige Johannes Paul II.: „Unter allen Verbrechen, die der Mensch gegen das Leben begehen kann, weist die Vornahme der Abtreibung Merkmale auf, die sie besonders schwerwiegend und verwerflich machen. […] Doch heute hat sich im Gewissen vieler die Wahrnehmung der Schwere des Vergehens nach und nach verdunkelt. Die Billigung der Abtreibung in Gesinnung, Gewohnheit und selbst im Gesetz ist ein beredtes Zeichen für eine sehr gefährliche Krise des sittlichen Bewußtseins, das immer weniger imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, selbst dann, wenn das Grundrecht auf Leben auf dem Spiel steht. Angesichts einer so ernsten Situation bedarf es mehr denn je des Mutes, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen und die Dinge beim Namen zu nennen, ohne bequemen Kompromissen oder der Versuchung zur Selbsttäuschung nachzugeben. In diesem Zusammenhang klingt der Tadel des Propheten kategorisch: ,Weh denen, die das Böse gut und das Gute böse nennen, die die Finsternis zum Licht und das Licht zur Finsternis machen‘ (Jes 5,20). Gerade in bezug auf die Abtreibung ist die Verbreitung eines zweideutigen Sprachgebrauchs festzustellen, wie die Formulierung, Unterbrechung der Schwangerschaft‘, die darauf abzielt, deren wirkliche Natur zu verbergen und ihre Schwere in der öffentlichen Meinung abzuschwächen. Vielleicht ist dieses sprachliche Phänomen selber Symptom für ein Unbehagen des Gewissens. Doch kein Wort vermag die Realität der Dinge zu ändern: die vorsätzliche Abtreibung ist, wie auch immer sie vorgenommen werden mag, die beabsichtigte und direkte Tötung eines menschlichen Geschöpfes in dem zwischen Empfängnis und Geburt liegenden Anfangsstadium seiner Existenz.“[89]Ungeborene Kinder sind somit „sind die Schutzlosesten und Unschuldigsten von allen, denen man heute die Menschenwürde absprechen will, um mit ihnen machen zu können, was man will, indem man ihnen das Leben nimmt und Gesetzgebungen fördert, die erreichen, dass niemand das verbieten kann“[90]. Deshalb muss auch in unserer Zeit mit aller Kraft und Klarheit festgestellt werden, dass „diese Verteidigung des ungeborenen Lebens eng mit der Verteidigung jedes beliebigen Menschenrechtes verbunden [ist]. Sie setzt die Überzeugung voraus, dass ein menschliches Wesen immer etwas Heiliges und Unantastbares ist, in jeder Situation und jeder Phase seiner Entwicklung. Es trägt seine Daseinsberechtigung in sich selbst und ist nie ein Mittel, um andere Schwierigkeiten zu lösen. Wenn diese Überzeugung hinfällig wird, bleiben keine festen und dauerhaften Grundlagen für die Verteidigung der Menschenrechte; diese wären dann immer den zufälligen Nützlichkeiten der jeweiligen Machthaber unterworfen. Dieser Grund allein genügt, um den unantastbaren Wert eines jeden Menschenlebens anzuerkennen. Wenn wir es aber auch vom Glauben her betrachten, dann, schreit jede Verletzung der Menschenwürde vor dem Angesicht Gottes nach Rache und ist Beleidigung des Schöpfers des Menschen‘.“[91] Hierbei verdient das großzügige und mutige Engagement der heiligen Teresa von Kalkutta für die Verteidigung jeder empfangenen Person in Erinnerung gerufen zu werden.

Leihmutterschaft

48. Die Kirche wendet sich auch gegen die Praxis der Leihmutterschaft, durch die das unermesslich wertvolle Kind zu einem bloßen Objekt wird. In dieser Hinsicht sind die Worte von Papst Franziskus von einzigartiger Klarheit: „[D]er Weg des Friedens erfordert die Achtung vor dem Leben, vor jedem menschlichen Leben, angefangen bei dem des ungeborenen Kindes im Mutterleib, das weder beseitigt noch zu einem Objekt der Kommerzialisierung gemacht werden darf. In diesem Zusammenhang halte ich die Praxis der sogenannten Leihmutterschaft für verwerflich, da sie die Würde der Frau und des Kindes schwer verletzt. Sie basiert auf der Ausnutzung der materiellen Notlage der Mutter. Ein Kind ist immer ein Geschenk und niemals ein Vertragsgegenstand. Ich plädiere daher dafür, dass sich die internationale Gemeinschaft für ein weltweites Verbot dieser Praxis einsetzt.“[92]

49. Die Praxis der Leihmutterschaft verletzt in erster Linie die Würde des Kindes. Jedes Kind besitzt nämlich vom Moment der Empfängnis, der Geburt und dann in seinem Heranwachsen als Junge oder Mädchen bis hin zum Erwachsenwerden eine unantastbare Würde, die in jeder Phase seines Lebens deutlich zum Ausdruck kommt, wenn auch in einzigartiger und differenzierter Weise. Das Kind hat daher kraft seiner unveräußerlichen Würde das Recht auf eine vollständig menschliche und nicht künstlich herbeigeführte Herkunft und auf das Geschenk eines Lebens, das zugleich die Würde des Gebers und des Empfängers zum Ausdruck bringt. Die Anerkennung der Würde der menschlichen Person schließt auch die Anerkennung der Würde der ehelichen Vereinigung und der menschlichen Fortpflanzung in all ihren Dimensionen ein. In diesem Sinne kann der legitime Wunsch, ein Kind zu bekommen, nicht in ein „Recht auf ein Kind“ umgewandelt werden, das die Würde des Kindes selbst als Empfänger der freien Gabe des Lebens nicht respektiert.[93]

50. Die Praxis der Leihmutterschaft verletzt zugleich die Würde der Frau selbst, die dazu gezwungen wird oder sich aus freien Stücken dazu entschließt, sich ihr zu unterwerfen. Durch eine solche Praxis wird die Frau von dem Kind, das in ihr heranwächst, losgelöst und zu einem bloßen Mittel, das dem Profit oder dem willkürlichen Wunsch anderer unterworfen ist. Dies widerspricht in jeder Hinsicht der grundlegenden Würde eines jeden Menschen und seinem Recht, immer als er selbst und niemals als Instrument für etwas Anderes anerkannt zu werden.

Die Euthanasie und assistierter Suizid

51. Es gibt einen besonderen Fall der Verletzung der Menschenwürde, der zwar leiser ist, aber immer mehr an Bedeutung gewinnt. Seine Besonderheit besteht darin, dass ein falscher Begriff von Menschenwürde verwendet wird, um ihn gegen das Leben selbst zu wenden. Diese heute weit verbreitete Verwechslung tritt bei der Diskussion über die Euthanasie zutage. So werden Gesetze, die die Möglichkeit der Sterbehilfe oder des assistierten Suizids anerkennen, manchmal als „Gesetze zum würdevollen Sterben“ („death with dignity acts“) bezeichnet. Es herrscht die weit verbreitete Auffassung, dass Sterbehilfe oder Beihilfe zum Suizid mit der Achtung der Würde des Menschen vereinbar seien. Angesichts dieser Tatsache muss mit Nachdruck bekräftigt werden, dass das Leiden nicht dazu führt, dass der kranke Mensch die ihm innewohnende und unveräußerliche Würde verliert, sondern dass es zu einer Gelegenheit werden kann, die Bande der gegenseitigen Zugehörigkeit zu stärken und sich der Kostbarkeit eines jeden Menschen für die gesamte Menschheit bewusster zu werden.

52. Sicherlich verlangt die Würde des Kranken, dass jeder die angemessenen und notwendigen Anstrengungen unternimmt, um sein Leiden durch eine angemessene palliative Pflege zu lindern und jeden therapeutischen Übereifer oder unverhältnismäßige Maßnahme zu vermeiden. Diese Fürsorge entspricht der „ständige[n] Pflicht, die Bedürfnisse des Patienten zu verstehen: die des Beistands und der Schmerzlinderung sowie emotionale, affektive und spirituelle Bedürfnisse“[94]. Ein solches Bemühen ist jedoch etwas ganz anderes, unterschiedliches, ja gegenteiliges gegenüber der Entscheidung, das eigene oder das Leben eines anderen unter der Last des Leidens zu beseitigen. Das menschliche Leben, selbst in seinem schmerzhaften Zustand, ist Träger einer Würde, die immer geachtet werden muss, die nicht verloren gehen kann und deren Achtung bedingungslos bleibt. Es gibt in der Tat keine Bedingungen, ohne die das menschliche Leben nicht mehr würdig wäre und deshalb beseitigt werden könnte: „Das Leben hat für jeden die gleiche Würde und den gleichen Wert- Der Respekt vor dem Leben des anderen ist der gleiche, den man seiner eigenen Existenz schuldet“[95]. Dem Suizidanten zu helfen, sich das Leben zu nehmen, ist daher ein objektiver Verstoß gegen die Würde der Person, die darum bittet, selbst wenn dies die Erfüllung ihres Wunsches ist: „Wir müssen zum Tod begleiten, nicht den Tod herbeiführen oder Beihilfe zu irgendeiner Form des Selbstmords leisten. Ich erinnere daran, dass das Recht auf Behandlung, und zwar auf Behandlung für alle, stets an erster Stelle stehen muss, damit die schwachen Menschen, insbesondere die alten und kranken Menschen, niemals weggeworfen werden. Das Leben ist ein Recht, nicht der Tod, der angenommen werden muss und nicht verabreicht werden darf. Und dieses ethische Prinzip betrifft alle, nicht nur die Christen oder die Gläubigen.“[96] Wie bereits erwähnt, impliziert die Würde eines jeden Menschen, wie schwach oder leidend er auch sein mag, die Würde aller Menschen.

Der Ausschuss von andersfähigen Menschen

53. Ein Kriterium für die tatsächliche Beachtung der Würde eines jeden Menschen ist natürlich die Fürsorge für die am meisten Benachteiligten. Unsere Zeit zeichnet sich leider nicht gerade durch eine solche Fürsorge aus: In Wahrheit setzt sich eine Wegwerf-Kultur durch.[97] Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, verdient die Situation derjenigen, die sich in einer Situation körperlicher oder psychischer Defizite befinden, besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge. Dieser Zustand der besonderen Verletzlichkeit,[98] der in den Evangelienberichten so sehr im Vordergrund steht, stellt allgemein die Frage, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, gerade in einem Zustand der Beeinträchtigung oder Behinderung. Die Frage nach der Unvollkommenheit des Menschen hat auch aus soziokultureller Sicht deutliche Auswirkungen, da Menschen mit Behinderungen in einigen Kulturen manchmal an den Rand gedrängt, wenn nicht sogar unterdrückt werden, da sie als echter „Abfall“ behandelt werden. In Wirklichkeit erhält jeder Mensch, unabhängig von seiner Verletzlichkeit, seine Würde gerade dadurch, dass er von Gott gewollt und geliebt ist. Aus diesen Gründen sollten die Eingliederung und aktive Teilnahme am gesellschaftlichen und kirchlichen Leben all derer, die in irgendeiner Weise durch Gebrechlichkeit oder Behinderung gekennzeichnet sind, so weit wie möglich gefördert werden.[99]

54. In einer breiteren Perspektive sollte man sich daran erinnern, dass die „Nächstenliebe, die das geistige Herzstück der Politik ist, […] eine Liebe [ist], die den Letzten den Vorzug gibt, und die hinter jeder Handlung steht, die zu ihren Gunsten vollzogen wird. […], sich der Gebrechlichkeit anzunehmen, [es] bedeutet Kraft und Zärtlichkeit, bedeutet Kampf und Fruchtbarkeit inmitten eines funktionellen und privatistischen Modells, das unweigerlich zur «Wegwerf-Kultur» führt. […] Es bedeutet, die Gegenwart in ihrer nebensächlichsten und am meisten beängstigenden Situation auf sich zu nehmen und fähig zu sein, sie mit Würde zu salben.‘ So ruft man gewiss eine intensive Tätigkeit ins Leben, denn es, muss alles getan werden, um den Status und die Würde der menschlichen Person zu schützen‘.“[100]

Gender-Theorie

55. Die Kirche möchte vor allem „bekräftigen, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner sexuellen Orientierung, in seiner Würde geachtet und mit Respekt aufgenommen werden soll und sorgsam zu vermeiden ist, ihn ‚in irgendeiner Weise ungerecht zurückzusetzen‘ oder ihm gar mit Aggression und Gewalt zu begegnen“[101]. Aus diesem Grund muss es als Verstoß gegen die Menschenwürde angeprangert werden, dass mancherorts nicht wenige Menschen allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung inhaftiert, gefoltert und sogar des Lebens beraubt werden.

56. Gleichzeitig hebt die Kirche entscheidende Kritikpunkte in der Gender-Theorie hervor. In diesem Zusammenhang erinnerte Papst Franziskus daran, dass „[d]er Weg des Friedens […] die Achtung der Menschenrechte [erfordert], wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, deren 75-jähriges Bestehen wir kürzlich gefeiert haben, einfach und klar formuliert sind. Es handelt sich dabei um rational einleuchtende und allgemein anerkannte Grundsätze. Leider haben die Versuche der letzten Jahrzehnte, neue Rechte einzuführen, die nicht ganz mit den ursprünglich definierten übereinstimmen und nicht immer akzeptabel sind, zu ideologischen Kolonisierungen geführt, unter denen die Gender-Theorie eine zentrale Rolle spielt, die sehr gefährlich ist, weil sie mit ihrem Anspruch, alle gleich zu machen, die Unterschiede auslöscht“.[102]

57. Im Hinblick auf die Gender-Theorie, über deren wissenschaftliche Konsistenz in der Fachwelt viel diskutiert wird, erinnert die Kirche daran, dass das menschliche Leben in all seinen Bestandteilen, körperlich und geistig, ein Geschenk Gottes ist, von dem gilt, dass es mit Dankbarkeit angenommen und in den Dienst des Guten gestellt wird. Über sich selbst verfügen zu wollen, wie es die Gender-Theorie vorschreibt, bedeutet ungeachtet dieser grundlegenden Wahrheit des menschlichen Lebens als Gabe nichts anderes, als der uralten Versuchung des Menschen nachzugeben, sich selbst zu Gott zu machen und in Konkurrenz zu dem wahren Gott der Liebe zu treten, den uns das Evangelium offenbart.

58. Ein zweiter Punkt der Gender-Theorie ist, dass sie versucht, den größtmöglichen Unterschied zwischen Lebewesen zu leugnen: den der Geschlechter. Dieser fundamentale Unterschied ist nicht nur der größtmöglich vorstellbare, sondern auch der schönste und mächtigste: Er bewirkt im Paar von Mann und Frau die bewundernswerteste Gegenseitigkeit und ist somit die Quelle jenes Wunders, das uns immer wieder in Erstaunen versetzt, nämlich die Ankunft neuer menschlicher Wesen in der Welt.

59. In diesem Sinne ist der Respekt vor dem eigenen Leib und dem der anderen angesichts der Ausbreitung und des Anspruchs auf neue Rechte, die von der Gender-Theorie propagiert werden, wesentlich. Diese Ideologie „stellt eine Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz in Aussicht und höhlt die anthropologische Grundlage der Familie aus.“[103] Es ist daher inakzeptabel, „dass einige Ideologien dieser Art, die behaupten, gewissen und manchmal verständlichen Wünschen zu entsprechen, versuchen, sich als einzige Denkweise durchzusetzen und sogar die Erziehung der Kinder zu bestimmen. Man darf nicht ignorieren, dass ,das biologische Geschlecht (sex) und die soziokulturelle Rolle des Geschlechts (gender) unterschieden, aber nicht getrennt werden [können]‘.“[104] Deshalb sind alle Versuche abzulehnen, die den Hinweis auf den unaufhebbaren Geschlechtsunterschied zwischen Mann und Frau verschleiern: „[M]an [kann] das, was männlich und weiblich ist, nicht von dem Schöpfungswerk Gottes trennen […], das vor allen unseren Entscheidungen und Erfahrungen besteht und wo es biologische Elemente gibt, die man unmöglich ignorieren kann“[105]. Nur wenn jede menschliche Person diesen Unterschied in Wechselseitigkeit erkennen und akzeptieren kann, wird sie fähig, sich selbst, ihre Würde und ihre Identität voll zu entdecken.

Geschlechtsumwandlung

60. Die Würde des Leibes kann nicht als geringer angesehen werden als die der Person als solcher. Der Katechismus der katholischen Kirche fordert uns ausdrücklich auf, anzuerkennen, dass „[d]er Leib des Menschen […] an der Würde des Seins, nach dem Bilde Gottes‘ teil[hat]“[106]. An diese Wahrheit gilt es besonders bezüglich der Frage der Geschlechtsumwandlung zu erinnern. Der Mensch besteht untrennbar aus Leib und Seele, und der Leib ist der lebendige Ort, an dem sich das Innere der Seele entfaltet und manifestiert, auch durch das Netz menschlicher Beziehungen. Seele und Leib, die das Wesen der Person ausmachen, haben somit Anteil an der Würde, die jeden Menschen kennzeichnet.[107] In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der menschliche Leib insofern an der Würde der Person teilhat, als er mit persönlichen Bedeutungen ausgestattet ist, insbesondere in seiner geschlechtlichen Beschaffenheit.[108] Denn im Leib erkennt sich jeder Mensch als von anderen gezeugt, und es ist durch ihren Leib, dass Mann und Frau eine Liebesbeziehung aufbauen können, die wiederum fähig ist, andere Personen zu zeugen. Über Notwendigkeit der Achtung der natürlichen Ordnung der menschlichen Person, lehrt Papst Franziskus: „Die Schöpfung geht uns voraus und muss als Geschenk empfangen werden. Zugleich sind wir berufen, unser Menschsein zu behüten, und das bedeutet vor allem, es so zu akzeptieren und zu respektieren, wie es erschaffen worden ist“[109]. Daraus folgt, dass jeder geschlechtsverändernde Eingriff in der Regel die Gefahr birgt, die einzigartige Würde zu bedrohen, die ein Mensch vom Moment der Empfängnis an besitzt. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, dass eine Person mit bereits bei der Geburt vorhandenen oder sich später entwickelnden genitalen Anomalien sich für eine medizinische Behandlung zur Behebung dieser Anomalien entscheiden kann. In diesem Fall würde die Operation keine Geschlechtsumwandlung in dem hier beabsichtigten Sinne darstellen.

 

Gesamte ERKLÄRUNG: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20240402_dignitas-infinita_it.html

 


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