Der Dammbruch!

25. Juli 2023 in Interview


"Die jüngsten Entwicklungen (im Vatikan) deuten jedoch auf einen regelrechten Dammbruch hin" - "Diese Flut könnte vernichten, was noch standgehalten hat" - kath.net-Interview mit Papstbiograph Peter Seewald über Bruch von Franziskus mit Benedikt XVI.


München (kath.net/rn)

kath.net: Herr Seewald, anlässlich der Bekanntgabe der neu nominierten Kardinäle und des künftigen Präfekten des Glaubensdikasteriums titelte der Spiegel: „Papst Franziskus räumt mit Benedikts Erbe auf“. Die Frankfurter Rundschau schrieb: „Franziskus bricht endgültig mit Benedikt“. Waren Sie überrascht von den Schlagzeilen?

Seewald: Nicht wirklich. Sie entsprechen einerseits dem Wunschdenken einschlägiger Medien, andererseits war zu beobachten, dass sich der Kurs von Papst Franziskus mit zunehmendem Alter radikalisiert, oder sagen wir: entschleiert. Wenn dann auch noch ein verdienter Mitarbeiter wie Erzbischof Georg Gänswein aus dem Vatikan verbannt und gleichzeitig ein Protegé zum obersten Glaubenswächter berufen wird, dessen Qualifikation für das bedeutendste Amt der katholischen Kirche fraglich erscheint, ist das schon eine Ansage.

kath.net: Der künftige Chef der Glaubensbehörde, der Argentinier Victor Fernández, definierte seine künftige Aufgabe mit den Worten, „ein harmonisches Wachstum wird die christliche Lehre wirksamer bewahren als jeglicher Kontrollmechanismus“.

Seewald:  Das ist klingt nicht nur schwammig, sondern angesichts der dramatischen Krise der Kirche im Westen geradezu grotesk. Es muss einem zu denken geben, dass Papst Franziskus zeitgleich erklärt, in der Vergangenheit habe das Dikasterium „unmoralische Methoden verwendet“. Wie sollte das nicht als eine Anspielung auf den früheren Glaubenspräfekten Joseph Ratzinger zu sehen sein? Sowie als den Versuch, die Kursänderung zu legitimieren.

kath.net: In Ihrem jüngsten Buch „Benedikts Vermächtnis“ zitieren Sie noch die lobenden Worte, die Franziskus für seinen Vorgänger übrighatte. Er würdigte ihn als „großen Papst“: „Groß ob der Kraft seiner Intelligenz, seines Beitrags zur Theologie, groß ob seiner Liebe gegenüber der Kirche und den Menschen, groß ob seiner Tugenden und seines Glaubens“.

Seewald:  Das hat mich sehr bewegt. Und es ist ja auch treffend. Kein kundiger Beobachter würde in Ratzinger nicht auch einen der bedeutendsten Lehrer auf dem Stuhl Petri erkennen. Heute muss man sich allerdings fragen, ob Bergoglios Bekenntnisse nicht doch nur Lippenbekenntnisse waren, oder gar Nebelkerzen. Wir erinnern uns alle an die warmen Worte Ratzingers beim Requiem für Johannes Paul II. Worte, die ans Herz gingen, die von christlicher Liebe sprachen, von Respekt. Aber niemand erinnert sich an die Worte Bergoglios beim Requiem für Benedikt XVI.. Sie waren so kalt wie die ganze Zeremonie, die gar nicht kurz genug sein konnte, um dem Vorgänger ja keinen Zoll zu viel an Ehre zu erweisen.

kath.net: Was heißt das?

Seewald: Ganz einfach: Wenn man es ernst meint, versucht man doch, das Erbe eines „großen Papstes“ zu pflegen und zu nutzen ­– und nicht, es zu beschädigen. Benedikt XVI. hat es vorgemacht. Im Umgang mit dem Erbe Johannes Paul II. unterstrich er die Bedeutung der Kontinuität und der großen Traditionen der katholischen Kirche, ohne sich gleichzeitig Neuerungen zu verschließen. Franziskus dagegen will aus der Kontinuität ausbrechen. Und damit aus der Lehrtradition der Kirche.

kath.net: Braucht es aber nicht immer auch Änderungen, Fortschritt?

Seewald:  Die Kirche ist auf dem Weg. Aber sie lebt nicht aus sich selbst heraus. Sie ist keine Manövriermasse nach dem Geschmack der jeweiligen Führung. Erneuerung lag für Ratzinger in der Wiederentdeckung der Kernkompetenz der Kirche – um dann wieder zu jener Quelle zu werden, die die Gesellschaft braucht, um nicht geistig, moralisch und seelisch zu versteppen. Reform bedeute, in der Erneuerung zu bewahren, in der Bewahrung zu erneuern, um das Zeugnis des Glaubens mit neuer Klarheit in die Dunkelheit der Welt zu bringen. Die Suche nach dem Zeitgemäßen dürfe nie zu einer Preisgabe des wahren und Gültigen und zu einer Anpassung an das gerade Aktuelle führen.

kath.net: Und das ist jetzt anders?

Seewald: Man hat den Eindruck. Die Berufung des künftigen Glaubenspräfekten bringt signifikant zum Ausdruck, was die eingangs zitierten Schlagzeilen mit der Zerstörung des Erbes Benedikts meinen. Während Franziskus den von Benedikt berufenen Kardinal Müller bei erstbester Gelegenheit abservierte, hievt er jetzt mit seinem langjährigen argentinischen Gefolgsmann jemanden ins Amt, der sofort eine Art Selbstdemontage ankündigte. Er wolle den Katechismus ändern, die Aussagen der Bibel relativieren, den Zölibat zur Diskussion stellen.

kath.net: Victor Fernández gilt als der Ghostwriter des Papstes.

Seewald: Ja, für häufig recht inhaltsleere Reden, oder auch für die umstrittene Enzyklika „Amoris Laetitia“. Mit Bausteinen, die Kritiker als „unlesbar bis wischiwaschi“ beschrieben und die Experten hart an der Grenze zur Häresie sehen.

kath.net: Franziskus gilt noch immer als „Reformer-Papst“.

Seewald: Der Beginn ließ aufhorchen. Mich beeindruckte sein Einsatz für die Armen, die Flüchtlinge, für den unverbrüchlichen Schutz des Lebens. Gleichzeit beobachtete die erstaunte Öffentlichkeit, dass Bergoglio viele seiner Versprechen nicht einlöste, einmal „hü“ und einmal „hott“ sagt, sich immer wieder selbst widerspricht und damit erhebliche Verwirrung stiftet. Hinzu kamen die vielen Fälle, in denen er hart durchregiert, missliebige Leute absetzte und wertvolle, unter Johannes Paul II. geschaffene Einrichtungen schloss.

kath.net: Bergoglio hat freilich für sich andere Aufgaben gesehen als Benedikt.

Seewald: Das kann man ihm nicht vorwerfen. Die jüngsten Entwicklungen deuten jedoch auf einen regelrechten Dammbruch hin. Und der könnte sich angesichts des dramatischen Niedergangs des Christentums in Europa auswirken zu einer Flut, die vernichtet, was noch standgehalten hat.

kath.net: Ein starkes Wort.

Seewald:  Mich haben die jüngsten Nachrichten aus dem Vatikan an einen berühmt gewordenen Essay Georgio Agambens erinnert. In seinem Text über das „Geheimnis des Bösen“ bringt der meistdiskutierte Philosoph unserer Zeit Benedikt XVI. ins Spiel. Als junger Theologe habe Ratzinger in einer Auslegung zu Augustinus einmal zwischen einer Kirche der Niederträchtigen und einer Kirche der Gerechten unterschieden. Von Anfang an sei die Kirche unentwirrbar vermischt. Sie sei sowohl Kirche Christi, als auch Kirche des Antichrist. Es gebe, so Agamben, jedoch auch die Idee des katechon…

kath.net: Wie bitte?

Seewald: Damit ist mit Blick auf den 2. Brief des Apostels Paulus an die Thessalonicher das Prinzip des Aufhaltens gemeint. Ein Begriff, der auch als „Hemmnis“ gedeutet wird, für etwas oder für jemanden, der das Ende der Zeit aufhält. Benedikt XVI. sei so etwas wie ein „Aufhalter“ gewesen, so Agamben. Vor diesem Hintergrund habe seine Demission unweigerlich eine Trennung der „schönen“ von der „schwarzen“ Kirche heraufbeschworen, jene Spanne, in der sich die Spreu vom Weizen scheidet. Eine steile These. Aber der emeritierte Papst sah das offenbar ähnlich. Er müsse noch dableiben, antwortete er auf meine Frage, warum er nicht sterben könne. Als ein Mahnmal für die authentische Botschaft Jesu, als ein Licht auf dem Berg. „Am Ende wird Christus siegen“, setzte er dabei hinzu.

kath.net: Kam die Entwicklung, die sich jetzt im Vatikan abzeichnet, für Sie überraschend?

Seewald: Papst Franziskus versuchte vom ersten Tag seines Pontifikats an, sich von seinem Vorgänger abzusetzen. Dass die beiden nicht nur gegensätzliche Temperamente, sondern auch gegensätzliche Auffassungen von der Zukunft der Kirche hatten, war kein Geheimnis. Bergoglio wusste, dass er Ratzinger in dessen theologischer Brillanz und Noblesse nicht das Wasser reichen konnte. Er konzentrierte sich auf Effekte und hatte dabei Rückenwind durch Medien, die nicht so genau hinschauen wollten, um nicht auch sehen zu müssen, dass sich hinter dem als aufgeschlossen und progressiv gezeichneten Papst ein mitunter sehr autoritärer Regent verbarg, als der Bergoglio schon in Argentinien bekannt war.

Gewisse Journalisten machen aus der Inszenierung eines „Reformer-Papstes“ regelrecht ein Geschäftsmodell für ihre Bücher: Der „Kämpfer im Vatikan“, der sich gegen die „Wölfe“ wehrt, insbesondere gegen den „Schattenpapst“ Benedikt und seine reaktionäre Clique. In Wahrheit gab es nie einen Schattenpapst. Als Papst emeritus hatte Benedikt alles vermieden, was auch nur annähernd den Anschein hätte erwecken können, er würde in das Pontifikat seines Nachfolgers hineinregieren. Und wenn man sich nach den „Wölfen“ umschauen wollte, sieht man, dass sie alle auf der Strecke geblieben sind.

kath.net: Es hieß, zwischen den Ex-Papst und den amtierenden passe kein Blatt Papier.

Seewald: Na ja, das war eher ein Wunschdenken. Es gab das Foto von der ersten Begegnung. Zwei Männer in Weiß. Zwei Päpste, und beide leben. Das war ein Schock, der bewältigt werden musste. Bergoglio förderte das Bild von der Eintracht, indem er sich ab und zu positiv über seinen Vorgänger äußerte. Benedikt vertraute ihm. Umgekehrt hatte Franziskus keinerlei Skrupel, mit einem Federstrich eines der Lieblingsprojekte seines Vorgängers aus der Welt zu schaffen.

kath.net: Was meinen Sie damit?

Seewald: Das Apostolische Schreiben „Summorum Pontificum“. Es liberalisierte den Zugang für die klassische Liturgie. Ratzinger wollte damit die Kirche befrieden, ohne dabei die Gültigkeit der Messe nach dem Römischen Messbuch von 1969 in Frage zu stellen. „Im Umgang mit der Liturgie“, erklärte er, „entscheidet sich das Geschick von Glaube und Kirche“. Franziskus hingegen bezeichnet traditionelle Formen als „nostalgische Krankheit“. Es gebe die „Gefahr“ einer Rückwärtsgewandtheit als Reaktion auf die Moderne. Als ob man Trends, Sehnsüchte, Bedürfnisse durch Verbots-Dekrete steuern könnte. Das hatten schon die Bolschewisten vergeblich versucht.

kath.net: Angeblich gab es eine Umfrage, nach der die Mehrheit des Weltepiskopats für eine Rücknahme war.

Seewald. Das stimmt nicht. Zum einen wurde die Umfrage nur von wenigen Bischöfen überhaupt beantwortet, zum anderen hatten diese sich meines Wissens keinesfalls mehrheitlich gegen Benedikts „Summorum Pontificum“ ausgesprochen. Die Ergebnisse wurden wohlweislich nie veröffentlicht. Und wie stillos, dass der emeritierte Papst die Änderung dann auch noch aus dem „L‘Osservatore Romano“ erfahren musste. Für ihn war das wie ein Stich ins Herz. Er hat sich davon gesundheitlich nicht mehr erholt. Kurz nach seinem Tod konnte alle Welt dann mitverfolgen, wie Bergoglio die Gangart noch verschärfte.

kath.net: Sie sprechen auf den Fall Gänswein an?

Seewald: Mit der sich Bergoglio keinen Gefallen getan hat. Es macht ihn unglaubwürdig. Man kann nicht mit der Bibel in der Hand andauernd von brüderlicher Liebe, gegenseitiger Achtung und Barmherzigkeit sprechen und gleichzeitig diese Tugenden mit Füßen treten. Die Brutalität und öffentliche Demütigung, mit der ein verdienstvoller Mann wie Gänswein abserviert wurde, ist beispiellos. Noch nicht einmal die Gepflogenheit, einem scheidenden Mitarbeiter ein Wort des Dankes zuzusprechen, wie das im kleinsten Unternehmen üblich ist, wurde eingehalten.

kath.net: Die Medien sprechen von einem „Racheakt“ gegenüber Gänswein.

Seewald: Aber Rache für was? Weil hier jemand bei Einhaltung der Loyalität keine Untertanenmentalität, sondern jene Mündigkeit zeigte, die Bergoglio immer einfordert? Weil er ein Buch veröffentlichte, das angesichts der anhaltenden Falschdarstellungen von Werk und Person des deutschen Papstes wichtig und notwendig ist? Ein Buch, in dem Franziskus im Übrigen alles andere als schlecht weg kommt? Der Papst deklassierte Gänswein, aber er meinte den, für den Gänswein steht. Und dessen Vermächtnis, das man beiseiteschieben will, wie man seinen engsten Mitarbeiter beiseiteschob. Für die Übersetzung des Gänswein-Buches ins Deutsche durfte der Herder-Verlag, wie mir aus Verlagskreisen berichtet wurde, nicht wie üblich die Übersetzer für den Vatikan nutzen. Der Job war ihnen strikt verboten worden.

kath.net: Noch einmal zur Personalie Fernández, des künftigen Glaubenspräfekten. Als er Rektor der Päpstlichen Katholischen Universität von Argentinien werden sollte gab es Vorbehalte.

Seewald: Die Glaubenskongregation hatte lehramtliche Bedenken und die Bildungskongregation hielt ihn für eine so wichtige Führungsposition für ungeeignet. Durchgesetzt wurde er dann vom damaligen Erzbischof von Buenos Aires: Jorge Mario Bergoglio. Als Papst macht ihm Bergoglio nun den Weg nach Rom frei, indem er die Aufgaben eines Präfekten des Glaubensdikasteriums neu definiert. Es ginge nicht so sehr um das Bewahren der Lehre, sondern um ein wachsendes Verständnis der Wahrheit, „ohne sich auf eine einzige Ausdrucksform festzulegen“. Im Klartext: ohne sich festzulegen.

Gefragt sei weniger ein Wächteramt, schrieb Franziskus Fernández ins Stammbuch, sondern das eines Förderers des Charismas der Theologen, was immer das heißen mag. Stets sei die Wirklichkeit wichtiger als die Idee. Klartext: das, was gerade gefragt ist. Vor allem solle Fernández „das jüngste Lehramt berücksichtigen“ – also das von Franziskus. Schon vorab hatte Bergoglio jenen von Johannes Paul II. erlassenen Artikel über die Ordnung des Dikasteriums verwässert, der sich mit dem Schutz der „Wahrheit des Glaubens und der Unversehrtheit der Sitten“ befasste.

kath.net: Wie ist das Wort von Franziskus von den „unmoralischen Maßnahmen“ seitens der früheren Glaubenskongregation zu sehen?

Seewald: Das ist infam. Die Aussage soll das hohe Niveau der Kongregation unter Kardinal Müller und Ratzinger diskreditieren, um den Relativismus hoffäig zu machen. Schlimm, dass man dabei an die Lesart kirchenfeindlicher Medien vom "Panzerkardinal" und "Hardliner" Joseph Ragthinger anknüpft.

Der „Spiegel“ griff die Vorlage sofort auf und sprach wieder einmal vom früheren „Glaubenspolizisten“, der auch für den Entzug der Lehrerlaubnis für Hans Küng verantwortlich sei. Ein völliger Unfug, genau wie die allermeisten der gängigen Klischees über den früheren Kardinal. Ratzinger verstand sich als Präfekt der Glaubenskongregation alles andere als ein Verfolger und schon gar nicht als jemand, der mit „unmoralischen Methoden“ operiert.

Sofort nach seiner Amtsübernahme wurden beanstandete Bischöfe, Theologen und Priester nicht mehr abgekanzelt, wie das zuvor üblich war, sondern in bedeutenden Fällen nach Rom eingeladen, um sich persönlich mit den unterschiedlichen Auffassungen auseinanderzusetzen. Ratzinger stärkte die Rechte von Autoren und gab den der dogmatischen Abweichung beschuldigten Theologen erstmals das Recht auf Verteidigung. Es gab auch nie, wie eine schwarze Legende erzählt, ein förmliches Schweigegebot gegenüber Leonardo Boff. Bei der Auseinandersetzung ging es auch nicht um die Befreiungstheologie, sondern um Boffs fragwürdige christologische Aussagen.

kath.net: Statt einer Kirche von oben oder einer Kirche von unten empfahl Ratzinger eine „Kirche von innen“.

Seewald: Gerade in unstabilen Zeiten, erklärte er, müsse sich die Kirche doppelt stark auf ihr Eigenes besinnen. Nur durch ihre entschiedene Ethik könne sie zu einem wirklichen Ratgeber und Partner in den schwierigen Fragen moderner Zivilisation werden. Im Gegensatz zu anderen Theologen, urteilte der liberale Münchner Theologe Eugen Biser, „die Stein für Stein aus dem alten Bauwerk verworfen haben, weil er nicht in ihr neues Gebäude passte“, sei Ratzinger stets „treu am Ursprung“ geblieben. Er nahm die ewige Warnung Jesu an seine Kirche ernst, die Christus nach dem Markus-Evangelium in einem dramatischen Wort an Petrus ausdrückte: „Weg mit dir, Satan! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“

kath.net: Es heißt, Fernández habe die Berufung zum Glaubenspräfekten zunächst abgelehnt.

Seewald: Erst als ihm der Papst zusicherte, er müsse sich nicht mit dem sexuellen Missbrauchs in der Kirche befassen, gab er sein Okay. Auch hier ein deutlicher Unterschied in der Ausrichtung. Während Fernández die Verantwortung für den Missbrauch abgibt, zog Ratzinger als Präfekt sie in seinen Bereich, weil er sah, dass anderswo die Delikte unter den Tisch gekehrt und die Opfer alleine gelassen wurden. Fernández ist bei diesem Thema allerdings kein unbeschriebenes Blatt. Über den künftigen Glaubenspräfekten meldete die argentinische Zeitung „La Izquierda Diario“, als Erzbischof von La Plata habe er mindestens elf Fälle von sexuellem Missbrauch durch Priester „in unterschiedlicher Form vertuscht“. Der bekannteste Fall sei der des ehemaligen Gefängnisseelsorgers Eduardo Lorenzo gewesen, der sich 2019 durch Selbstmord einer Verhaftung durch die Polizei entzogen hatte.

kath.net: Ist die Aufarbeitung von Missbrauch eine Schattenseite im Pontifikat Bergoglios?   

Seewald: Zwei Beispiele: Der belgische Kardinal Godfried Danneels geriet 2010 in die Schlagzeilen, weil er als Erzbischof Kindsmissbrauch durch Priester vertuscht und danach einen Bischof gedeckt hatte, der seinen eigenen Neffen missbrauchte. Was Papst Franziskus nicht daran hinderte, ihn im Herbst 2014 zum Synodalen der Familienkonferenz in Rom zu ernennen. Danneels war einer der treibenden Kräfte der sogenannten „Mafia von St. Gallen“, einer Gruppe von Kardinäle, die Bergoglio bereits beim Konklave von 2005 als Papst durchdrücken wollte; was ja auch fast gelungen wäre.

Franziskus hatte auch kein Problem damit, den als Missbrauchstäter bekannten Theodore McCarrick, den früheren Erzbischof von Washington, in vatikanische Gremien zu berufen. Benedikt XVI. war gegen McCarrick vorgegangen, Franziskus hingegen betraute ihn mit Verhandlungen mit der Volksrepublik China. Diese führten zu einem Abkommen, mit dem die von Benedikt XVI. noch geförderte katholische Untergrundkirche den staatlichen Behörden untergeordnet wurde. In Chinas Kirchen hängen seither Transparente mit Aufschriften wie „Liebe die Kommunistische Partei“. Anfang April dieses Jahres ernannten die Kommunisten einen neuen Bischof für Shanghai, ohne den Vatikan einzubeziehen. Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin protestierte, Papst Franziskus dagegen entschied, „die kirchenrechtliche Regelwidrigkeit zu heilen“, sprich: den Fall abzunicken.

kath.net: Wie nachhaltig kann sich die Wahl der neuen Kandidaten auswirken, die beim Konsistorium im September zu Kardinälen kreiert werden?

Seewald: Inzwischen wurden rund 70 Prozent der künftigen Papstwähler von Franziskus ins Amt gehoben. „Anders als seine Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI.“, analysierte der Vatikan-Beobachter Ludwig Ring-Eifel von der KNA, „hat Franziskus weitgehend solche Männer ins Kardinalskollegium gerufen, die auf seiner theologischen Linie liegen“. Das Kardinalskollegium werde „immer mehr zu einem Abbild seines Denkens und seiner Herkunft“.

Auffallend ist nicht nur der stark angestiegene Anteil der Hispanics, sondern auch das Alter der neuen Purpurträger. Mit zumeist um die 60 Jahren sollten sie nicht nur das nächste, sondern mitunter auch das übernächste Konklave beeinflussen. Allerdings hat da der Heilige Geist bekanntlich noch ein Wörtchen mitzureden. Und viele, die heute darüber jubeln, dass Franziskus das Erbe Benedikts aus dem Weg räumt, könnten schon morgen bitterlich darüber weinen.

kath.net: DANKE für das Interview!

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