Die evangelische Kirche am Kipp-Punkt - Drei antikirchliche Megatrends

13. März 2023 in Kommentar


"Die kirchliche Organisationsform der traditionellen Volkskirche kommt an ihr Ende." Gastbeitrag des evangelischen Pfarrers Achijah Zorn


Köln (kath.net) Nun sind die vorläufigen Mitgliedszahlen der ev. Kirchen in Deutschland für das Jahr 2022 bekannt gegeben worden. Es sind katastrophale Zahlen: 745.000 Abgänge durch Kirchenaustritt oder Tod; dem stehen nur 185.000 Zugänge durch Taufe oder Wiedereintritt gegenüber. Auf katholischer Seite werden die Zahlen nicht besser erwartet. Beide Kirchen zusammen dürften gut über 1 Million Mitglieder in einem einzigen Jahr verloren haben.

Diese Zahlen wurden mit Häme aufgenommen. Viele lästern genussvoll über alles, was sie an Kirche schon immer gestört hat. Dabei kommen mir als Christ die positiven Seiten des (gemeinschaftlichen) christlichen Glaubens zu kurz.

Lassen Sie mich versuchen, in diese Gefühls- und Meinungswallungen etwas Nüchternheit hineinzubringen. Meines Erachtens sind es drei Megatrends, die die Fundamente der Volkskirche zerstören:

Der erste antikirchliche Megatrend: Der Trend zur Gottesferne.

Es gibt immer mehr Menschen, die konfessionslos und wohl auch religionslos glücklich sind. Sie können mit „Gott“ nichts anfangen; oder sie verstehen unter „Gott“ ein Konstrukt, das sie selbst nach eigenem Gutdünken passend zu ihrem Leben zusammenbasteln. Ganz im Sinne einer Baumarktkette: „Respekt, wer’s selber macht.“

Die christliche Kirche dagegen ist an einen Gott gebunden, der als heiliges Gegenüber mit seinem Wort „furchterregend und faszinierend, fesselnd und bedrohlich“ in mein konkretes Leben hineinsprechen kann (Rudolf Otto). Das entspricht nicht unbedingt der menschlichen Nachfrage. In diesem Sinne kann es Kirche mit ihrer Verkündigung zuweilen so schwer haben wie ein leidenschaftlicher Metzger bei einem Treffen von Veganern.  

Kirche ist darum versucht, ihr Angebot der Nachfrage anzupassen. Dann subjektiviert auch sie den Gottesglauben oder schiebt ihn wie einen Gummibaum an den Rand, um sich als Dienstleister von Gemeinschaftserlebnissen, Lebensorientierung und sozialem Engagement zu profilieren. Doch ohne das ernstgenommene Korrektiv des Wortes Gottes wird Kirche schneller als gedacht zu einer Sympathiegemeinschaft von Gutmenschen, in der die gesellschaftlich dominierenden Moralvorstellungen und Binsenweisheiten religiös verbrämt wiedergekaut werden. Ich bezweifle, dass eine solche Kirche ihr Geld wert ist, zumal infolge von Inflation und politischen Fehlentscheidungen die Gürtel enger geschnallt werden müssen.  

Eine Kirche, die ihr Kerngeschäft der biblischen Gottesbeziehung vernachlässigt, verliert den großen Goldschatz, der sie reich und einzigartig macht: Den Goldschatz einer unendlichen Geborgenheit, die Gott in Jesus Christus schenkt und die zur Selbst- und Nächstenliebe befreit. „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, o Gott“ (Augustin).

Der zweite antikirchliche Megatrend: Der Trend zum Zerfall der Gesellschaft

Unsere gegenwärtige Gesellschaft zerfällt durch immer mehr Konfliktthemen, in denen Menschen durch machtvoll ausgetragene Moraldebatten in Schwarz-Weiß-Lager auseinanderdividiert werden. Statt politischen Pluralismus als Bereicherung wertzuschätzen, werden Andersdenkende diffamiert und ausgegrenzt.

Dieser Zerstörung der Gesellschaft kann entgegengewirkt werden, indem man gegen alles Trennende das Verbindende in einem übergeordneten Dritten stärkt. Das übergeordnete Dritte ist z.B. das Grundgesetz. Oder das übergeordnete Dritte könnte von kirchlicher Seite die Betonung eines gemeinsamen Seins vor Gott sein, das alle Menschen miteinander verbindet. Die Kirchen könnten daher einen großen Beitrag zum Miteinander in unserer Gesellschaft leisten.

Doch gerade an diesem Punkte versagt die EKD jämmerlich. Statt durch das Bekenntnis zu einem übergeordneten Dritten das gesellschaftliche Miteinander zu stärken, gießen die Kirchen polarisierendes Öl ins Feuer: „Klimagerechtigkeit durch Tempolimit“, „Impfen ist Nächstenliebe“, „2G-Apartheidsgottesdienste“, „keine AfD auf dem Kirchentag“, „Gendern in Kirchenzeitungen selbst bei Artikeln, die ungegendert eingereicht werden“, „kirchliche Schiffe zur Seenotrettung im Mittelmeer“, „gemeinsamer Kampf mit der Antifa gegen Rechts“, „Waffen in die Ukraine als Christenpflicht“. Solche einseitige Kirchenpolitik verstärkt die gesellschaftlichen Spaltungen und zementiert sie klerikal-spirituell. Zudem trägt die Kirche die gesellschaftlichen Spaltungen in ihre eigene Institution hinein. Damit zerstört sie sich selbst als Volkskirche, indem sie sich als politisch tendenziös-illiberale Gesinnungskirche positioniert.  

Der dritte antikirchliche Megatrend: Der Trend zur Individualisierung und Institutionsfeindlichkeit

„Glauben kann ich auch für mich alleine, dafür brauche ich keine Kirche“, sagen viele. Da jede Institution als Gemeinschaft von sündigen Menschen Dreck am Stecken hat, kann man die Privatheit des Glaubens sogar noch moralisch legitimieren: Ist es angesichts des Missbrauchsskandals und vieler anderer kirchlicher Missstände nicht geradezu eine Pflicht, aus so einer Institution auszutreten? Und dann glauben Menschen individuell, was sie für richtig halten und für den Moment als stimmig empfinden, ohne dabei die Tücken dieses Ansatzes wahrzunehmen: Ein individuell-privater Glaube, der nicht im kritischen Austausch mit anderen steht und der nicht die Korrektur durch das unzeitgemäße Bibelwort kennt, ist anfällig für gesellschaftliche Ideologie und zeitgeistliche Manipulationen.

Wenn schon der christliche Gott nicht für sich alleine sein will, sondern trinitarisch-dialogisch orientiert ist, dann ist es konsequent, dass auch Jesus Christus niemals privat-individualistisch gewirkt hat, sondern immer nur inmitten einer Jüngergemeinschaft. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“ (Genesis 2,18), gilt auch für unseren Glauben, damit wir nicht im eigenen Mief ersticken.  

Dabei schält sich heraus, dass die kirchliche Organisationsform der traditionellen Volkskirche an ihr Ende kommt. Antikirchliche Megatrends und schwere kirchliche Fehler auf Makro- und Mikroebene scheinen diesen Trend zu besiegeln. Ich bin gespannt darauf, wie sich die Menschen, die von Jesus Christus und seiner Botschaft berührt sind, in Zukunft institutionell, analog und digital organisieren werden. Die Zukunft der Kirche wird bescheidener sein; vielleicht sogar bis hin zu kleinen „Wohnzimmerkirchen“ wie in den Anfängen der Christenheit. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass Gott weiterhin Wunderbares in Menschen bewegen wird. Der christliche Glaube ist keine Asche, sondern auch im 21. Jahrhundert ein Goldschatz für Geborgenheit, Freiheit und Hoffnung.

 

 

 


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