Neue Untersuchungsberichte zu Missbrauchsskandal um Jean Vanier

2. Februar 2023 in Chronik


Arche-Gründer und sein geistlicher Mentor Philippe gehörten laut französischen Forschern einem "sektenartigen" Kreis an - Bei Vanier ist das Ausmaß der von ihm begangenen Missbrauchstaten offenbar größer als bislang bekannt


Paris  (kath.net/KAP) Zu den 2020 enthüllten Missbrauchsvorwürfen gegen den verstorbenen Gründer der Arche-Gemeinschaft Jean Vanier (1928-2019) und seinen geistlichen Mentor, den Ordenspriester Thomas Philippe (1905-1993), haben zwei unabhängige Studienkommissionen nun umfassende Berichte veröffentlicht. Laut den beteiligten Wissenschaftlerin, unter ihnen Historiker, Theologen, Psychoanalytiker und Soziologen, hatten Philippe und Vanier, der selbst kein Priester war, eine sektenartige Gruppe gebildet, die einer von Philippe vertretenen und sexuellen und spirituellen Missbrauch begünstigenden erotisch-mystischen "Theologie" folgte.

Bei Vanier ist das Ausmaß der von ihm begangenen Missbrauchstaten offenbar noch viel größer als bislang angenommen. Eine vom Dominikanerorden in Frankreich beauftragte Studie, die Thomas Philippe und seinen Bruder Marie-Dominique Philippe (1912-2006) im Fokus hat, soll laut "Le Monde" noch in dieser Woche in Buchform erscheinen. Beide sollen über Jahrzehnte hinweg Dutzende Frauen missbraucht haben, die unter ihrem kanonischen oder spirituellen Einfluss standen. Die von der christlichen Arche-Gemeinschaft mit einer unabhängigen Untersuchung beauftragte Kommission stellte ihren Studienbericht zu Wochenbeginn in Paris vor.

Zu Vanier konnten die Forscher durch Archivrecherchen, Korrespondenzen und Interviews 25 Frauen identifizieren, die zwischen 1952 und 2019 mit Vanier "eine Situation erlebt haben, die eine sexuelle Handlung oder eine intime Geste beinhaltete", wie es in dem Bericht der Studienkommission heißt. Ausdrücklich hält die Kommission fest, dass man davon ausgehe, dass die tatsächliche Zahl der betroffenen Frauen größer ist. Eine erste interne Untersuchung, die 2020 nach Vaniers Tod veröffentlicht wurde, hatte von sechs Fällen gesprochen. Alle in "missbräuchlichen oder grenzüberschreitenden Beziehungen" mit Vanier "gefangenen" Frauen seien volljährig gewesen. Unter ihnen befanden sich laut der Kommission Frauen, die ein religiöses Gelübde abgelegt hatten, aber auch ledige und verheiratete Frauen. Menschen mit geistiger Behinderung, die von den Arche-Gemeinschaften betreut werden, waren laut der Untersuchung nicht von Missbrauchstaten betroffen. Dem nun veröffentlichten Bericht zufolge gaben einige der Frauen an, Opfer einer missbräuchlichen Beziehung gewesen zu sein, andere hätten sich als "willige Partnerinnen in einer regelwidrigen Beziehung" bezeichnet. Der in der französischsprachigen Originalversion mehr als 900 Seiten umfassende Bericht beleuchtet ausführlich auch die Lebensgeschichten Vaniers und seines geistlichen Mentors Philippe. Geschildert wird etwa die Entstehung der in der Untersuchung mehrfach als sektenartig bezeichneten Gruppe um den Dominikanerpater Philippe, in der auch Vanier Mitglied wurde. Analysiert werden auch die Hintergründe der missbräuchlichen Handlungen sowie damit zusammenhängende Vorstellungen von Leitung und Autorität.

Wesentliches Ziel der Studienkommission war es, die Gründe besser zu verstehen, die Missbrauchsfälle möglich machten. Die schon vorher in engem Kontakt stehenden Mitglieder der Gruppe fanden sich demnach 1963 in Trosly bei Paris wieder zusammen. Ebendort gründete Vanier im Folgejahr die erste Arche. Die Kommission habe zudem zwei weitere Personen aus dem Kreis um Philippe identifiziert, denen ebenfalls Missbrauchstaten vorgeworfen würden. Hingegen halten die Studienautoren ferner fest, dass die vielen Personen, die sich nach 1964 der Arche anschlossen und zu ihrer schnellen weltweiten Verbreitung beigetragen hatten, keine Kenntnis von dem sektenähnlichen Kreis um Philippe und Vanier gehabt hätten, wie es hieß. Die Leiter der Internationalen Arche, Stephan Posner und Stacy Cates-Carney, verurteilten zur Veröffentlichung der Untersuchung erneut die Taten Vaniers und baten die Opfer um Verzeihung.

Die Arche habe als Reaktion auf das Bekanntwerden der Fälle einen für alle Arche-Gemeinschaften weltweit geltenden Referenzrahmen eingeführt, wie mit Missbrauch jeglicher Art umzugehen ist und wie Arche-Mitglieder dagegen geschützt werden können. Ebenso sei eine zentrale Meldestelle eingerichtet worden, die mit der Untersuchung der ihr vorgelegten Fälle beauftragt ist. Zudem trete die Arche der "Kommission für Anerkennung und Wiedergutmachung" bei, die in Frankreich von der katholischen Kirche eingerichtet wurde und befugt ist, Anträge auf Wiedergutmachung für Missbrauch durch Kleriker oder Laien entgegenzunehmen. Der charismatische Katholik Vanier wurde 1928 in Genf geboren.

1964 gründete der Philosophie-Dozent und vormalige Marineoffizier in einem Dorf nördlich von Paris die erste von heute mehr als 150 Arche-Gemeinschaften, in der Menschen mit und ohne geistige Behinderung zusammenleben. 2015 erhielt Vanier den Templeton-Preis für Verdienste um die Menschlichkeit und Ende 2016 eine Ehrung der Französischen Ehrenlegion. Wenige Monate nach Vaniers Tod wurden Anfang 2020 Vorwürfe bekannt, wonach der Arche-Gründer über Jahrzehnte "manipulative sexuelle Beziehungen" mit Frauen gehabt haben soll. Die Internationale Arche-Gemeinschaft distanzierte sich in der Folge von Vanier und kündigte umfassende Aufklärung an.

 

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