Gottes unableitbare Weihnachtsinitiative!

25. Dezember 2022 in Spirituelles


Predigt von S. E. Kardinal Kurt Koch - Weihnachten 2022 - Rom - Campo Santo Teutonico


Rom (kath.net)

Weihnachten ist das Fest des Friedens Gottes für uns Menschen. Wir feiern es aber in einer Welt, die von viel Unfriede stigmatisiert ist und in der selbst in Europa wieder ein schrecklicher Krieg tobt. Weihnachten ist das Fest des Lichtes Gottes, das die Dunkelheit in unserem menschlichen Leben erhellt. Dieses Licht leuchtet freilich in eine Welt hinein, die von so viel Finsternis bedeckt ist, dass es ein starkes Licht braucht, um die Dunkelheit einwenig zu erleuchten. Und Weihnachten ist das Fest der Liebe Gottes zu uns Menschen. Wir feiern es aber in einer Welt, in der so oft Hass und Gewalt das Sagen haben, und in einer Kirche, die von so vielen Spannungen gezeichnet ist, dass sie oft genug nicht Gottes Liebe bezeugt, sondern lieblose Auseinandersetzungen führt.

Weihnachten in der heutigen Welt feiern?

Angesichts dieses schmerzlichen Kontrastes des Friedens zum Krieg, des Lichtes zur Finsternis und der Liebe zum Hass stellt sich unweigerlich die Frage, wie man in einer solchen Welt wie der heutigen Weihnachten feiern kann. Diese Frage sollten wir auch und gerade an Weihnachten nicht verdrängen, sondern zulassen. Sonst werden wir der wahren Kraft von Weihnachten nicht ansichtig. Wenn wir nämlich mit dem Licht der Heiligen Schrift in unsere Welt hinein blicken, in der vor zweitausend Jahren die erste Weihnacht stattgefunden hat, dann hätte sich bereits damals dieselbe Frage aufdrängen können. Ja, sie hätte sich noch zugespitzter gestellt. Denn die Welt ist auch damals keineswegs im Lot gewesen.

Dies wird bereits deutlich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit der Hauptperson in der Weihnachtsgeschichte zuwenden. Da vernehmen wir vom Weihnachtskind, dass es unterwegs geboren worden ist. Es ist eine improvisierte Geburt gewesen – und dies für den Sohn Gottes. Sozusagen am Strassenrand ist Jesus zur Welt gekommen, ja buchstäblich zur Welt, wie sie eben ist. In der Weihnachtsgeschichte hören wir, dass das neugeborene Kind in eine Krippe gelegt worden ist. Es ist eine ganz und gar nicht menschliche und schon gar nicht göttliche Geburt gewesen – und dies für den Sohn Gottes. Gleichsam im Futtertrog ist Jesus zur Welt gekommen. Weil in der Herberge kein Platz für das kleine Kind und seine Eltern gewesen ist. Es ist eine in unserer Welt nicht willkommene Geburt gewesen – und dies für den Sohn Gottes. Gleichsam ausserhalb unserer gesellschaftlich akzeptierten Normen ist Jesus zur Welt gekommen. Und der Geburt Jesu in der Krippe zu Bethlehem ist die Flucht nach Ägypten auf der Spur gefolgt, weil Herodes dem Neugeborenen nach dem Leben getrachtet hat.

Bereits bei der ersten Weihnacht vor zweitausend Jahren hätte man im Blick auf die damalige Weltsituation fragen können, ob man überhaupt Weihnachten feiern könne. Eine solche Frage hat sich Gott selbst aber nicht gestellt – Gott sei Dank! Er selbst hat erfahren müssen, dass seine liebende Zuwendung zu uns Menschen von einer tragisch zu nennenden Weigerung der Menschen durchkreuzt wird. Auch von diesem dunklen Hintergrund der ersten Weihnacht spricht das Festevangelium, das die Frohe Botschaft verkündet, dass der Sohn Gottes in die Welt gekommen ist und dass die Welt durch ihn geworden ist, dass aber diese Frohe Botschaft mit der Feststellung kontrastiert wird, dass die Welt den Sohn Gottes nicht erkannt hat: „Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1, 11).

Selbst die Ablehnung des Sohnes Gottes hat Gott nicht davon abhalten lassen, Weihnachten wirklich werden zu lassen. Gott hat vielmehr an seinem unbeirrbaren Willen festgehalten, seine Menschenfreundlichkeit auf Erden zu offenbaren. Gott konnte und wollte mit Weihnachten nicht warten, bis die Welt sich verändert hat und wieder im Lot ist. Aller Erfahrung nach hätte Gott da lange warten müssen – bis auf den heutigen Tag. Gott wollte seinen Frieden gerade in eine friedlose Welt hinein bringen. Er wollte sein Licht gerade in die Dunkelheit der Welt und in die Finsternis von uns Menschen hinein leuchten lassen. Und er wollte seine grenzenlose Liebe in einer Welt erfahren lassen, in der oft genug Hass und Lieblosigkeit regieren. Unfriede, Finsternis und Lieblosigkeit können Weihnachten nicht verunmöglichen. Sie zeigen vielmehr, wie dringend notwendig wir Menschen Weihnachten haben – auch und gerade heute!

Geschenkter Sinn von Weihnachten

Wir müssen keineswegs die traurige Situation der Welt vergessen oder verdrängen, um Weihnachten feiern zu können. Ganz im Gegenteil! Nur wenn wir den Mut aufbringen, uns der Finsternis in unserem Leben und in der Welt zu stellen, können wir wirklich die Weihnacht Gottes feiern. Die dunklen Hintergründe unseres Lebens und die Finsternis der Welt verunmöglichen Weihnachten nicht. Sie zeigen vielmehr, dass die christliche Antwort auf die heute so viele Menschen bedrängende Frage, ob man in der heutigen Welt noch Weihnachten feiern könne, nur heissen kann: Gerade in unserer aus dem Lot geratenen Welt müssen wir Weihnachten feiern. Denn Weihnachten können nicht wir Menschen bewerkstelligen. Wir können vielmehr nur dankbar staunen über die grossartige Initiative, die Gott ergriffen hat.

Ihm, dem lebendigen Gott, muss unsere ganze Aufmerksamkeit gelten, wenn wir christlich Weihnachten feiern wollen. Von ihm heisst es im heutigen Festevangelium: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1, 14). Mit dieser Weihnachtsbotschaft wird uns die entscheidende Antwort auf die uns Menschen zu allen Zeiten bewegende Frage geschenkt, worin denn der Sinn des menschlichen Lebens und der ganzen Schöpfung besteht. Denn was der Evangelist Johannes als „Wort“ bezeichnet, kann man auch mit „Sinn“ übersetzen. Und von diesem Sinn sagt die Weihnachtsbotschaft, dass er Fleisch geworden ist. Darin liegt die Kernaussage des Prologs des Johannesevangeliums, der bewusst dem Schöpfungsbericht im ersten Buch der Heiligen Schrift nachgebildet ist: „Am Anfang war der Sinn, und der Sinn war bei Gott, und der Sinn war Gott.“

Dies bedeutet konkret, dass der Sinn des Lebens uns gegeben ist, dass er, wie Johannes sagt, „Gnade“ ist. Das Weihnachtsevangelium spricht uns so die schöne Verheissung zu, dass der Sinn unseres Lebens und der ganzen Geschichte nicht von uns Menschen erleistet werden muss und auch gar nicht gemacht werden kann. Wir können ihn uns vielmehr nur schenken lassen – von Gott, der der Sinn des Lebens in Person ist. An Weihnachten findet die menschliche Sinnerfahrung ihre erste und wichtigste Artikulation deshalb nicht in der Leistung, sondern in der Dankbarkeit und deshalb im Fest.

Diese Überzeugung bringen wir zum Ausdruck mit dem Brauch des Schenkens und Beschenktwerdens, der für Weihnachten charakteristisch geworden ist. Auch wenn dieser Brauch manchmal eine oberflächliche Gestalt annimmt, so ist in ihm doch das tiefste Wissen darum aufbewahrt, dass letztlich alles Geschenk Gottes ist: Das Entscheidende in unserem Leben ist uns gegeben; es ist umsonst, gratis, sola gratia.

Damit berühren wir den innersten Kern von Weihnachten und des christlichen Glaubens überhaupt. Dieser Kern besteht darin, dass Gott in seinem eigenen Sohn Mensch geworden ist. An Weihnachten bringen wir unsere tiefste Glaubensüberzeugung zum Ausdruck, dass wir Christen nicht einfach an irgendeinen Gott glauben, sondern an einen Gott, der mit uns Menschen in Beziehung treten, uns ganz nahe kommen, für uns Menschen da sein und deshalb unser Heil will. Ihn bekennen wir im Grossen Glaubensbekenntnis von Nicaea-Konstantinopel mit den Worten: „Für uns Menschen und zu unserem Heil ist er vom Himmel gekommen, hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden.“

Der Demut Gottes in christlicher Demut begegnen

In diesem Glaubensbekenntnis ist das grösste Geheimnis ausgesprochen, das sich ausdenken lässt: Gott, der Schöpfer der Welt, der Urgrund und Urquell der ganzen Schöpfung, hat sich in seinem eigenen Sohn selbst offenbart, indem er Mensch geworden ist. Ja, wir müssen es noch deutlicher sagen: Der Schöpfer der Welt ist an Weihnachten Kind geworden. Denn wenn Gott Mensch werden will, dann will er ganz konkret Mensch werden, nämlich als Kind. Er will es offensichtlich nicht besser haben als das schwächste Glied in unserer Gesellschaft, nämlich als das Kind. Im Kind in der Krippe zu Bethlehem kommt uns Gott so nahe, wie es näher gar nicht mehr geht. In der Wehrlosigkeit eines Kindes kommt Gott auf uns Menschen zu und erwartet von uns, dass wir uns öffnen und ihm in Freiheit und Liebe begegnen. Denn Gott will uns Menschen nicht von aussen her erobern, sondern von innen her gewinnen.

An Weihnachten begegnen wir Gott, dem Schöpfer des Alls, der uns in der Demut seiner Kindwerdung und seines Kindseins nahekommt. Ihm können wir deshalb ebenfalls nur in Demut begegnen, indem wir uns die Verheissung zusprechen lassen, die im heutigen Evangelium ausgesprochen ist: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden“ (Joh 1, 12). Gott wird Kind, damit wir Kinder Gottes werden können. Die weihnächtliche Kindwerdung des Gottessohnes führt zu unserer Kindwerdung. Darin liegt die grösste Würde, die uns Menschen zuteil werden kann, wie sie der heilige Papst Leo der Grosse mit den tiefen Worten ausgesprochen hat: „Der Sohn Gottes… hat sich mit uns vereint und hat uns so mit sich vereint, dass der Abstieg Gottes zum menschlichen Dasein zum Aufstieg des Menschen zur Höhe Gottes wurde.“[2]

Wenn wir die Demut Gottes betrachten, mit der er an Weihnachten uns Menschen nahe kommt, und wenn wir ihm im Kind in der Krippe in Demut begegnen, werden wir nicht mehr die Frage stellen, ob man in der heutigen Welt Weihnachten feiern kann. Wir werden es vielmehr in tiefer Dankbarkeit tun. Denn an Weihnachten erkennen wir, dass der Friede nur von Gott kommen kann: Der erste und tiefste Friede ist der Friede mit Gott, und alle anderen Gestalten des Friedens sind Spiegelungen dieses Friedens mit Gott. An Weihnachten erkennen wir, dass nicht unsere selbstfabrizierten Lichter die Finsternis in unserem Leben und die Dunkelheit der Welt erleuchten, sondern dass das wahre Licht nur von Gott her kommt und Gott selbst ist. „Ex oriente lux“: dies ist die wahre Orient-ierung, die uns an Weihnachten geschenkt wird. Und an Weihnachten erkennen wir, was wahrhaft Liebe genannt zu werden verdient. Denn Gottes Grösse besteht darin, dass er sich ganz klein macht, um uns seine grenzenlose Liebe zu zeigen.

Gott, dem wir im Kind in der Krippe in Bethlehem begegnen, ist als Gott offenbar, der schlechthin Liebe ist. Und die Frohe Botschaft der Weihnacht ist im Kern die Botschaft von der Liebe, wie sie der katholische Schweizer Theologe und Kardinal Hans Urs von Balthasar mit den Worten gedeutet hat: „Das Tiefste am Christentum ist die Liebe Gottes zur Erde. Dass Gott in seinem Himmel reich ist, wissen andere Religionen auch. Dass er zusammen mit seinen Geschöpfen arm sein wollte, dass er in seinem Himmel an seiner Welt leiden wollte, ja gelitten hat und durch seine Menschwerdung sich instand setzte, dieses sein Leiden der Liebe seinen Geschöpfen zu beweisen; das ist das Unerhörte bisher.“ An Weihnachten begegnen wir in der Tat der wahren Neuheit Gottes, die jede Erwartung der Menschheit übersteigt. Sie ist der tiefste Grund, in grosser Dankbarkeit Weihnachten als die unableitbare Liebesinitiative Gottes für uns Menschen und zu unserem Heil zu feiern.

Erste Lesung:    Jes 52, 7-10

Zweite Lesung: Hebr 1, 1-6

Evangelium:      Joh 1, 1-18

Comp: Weihnachten2022

 

[1]  Homilie in der Heiligen Messe an Weihnachten (am Tag) in der Kirche des Campo Santo Teutonico im Vatikan am 25. Dezember 2022.

[2]  Leo der Grosse, Predigt auf Weihnachten 27, 2.


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