Schewtschuk: "Haben keine andere Wahl, als Widerstand zu leisten"

24. November 2022 in Weltkirche


Oberhaupt der Ukrainisch-katholischen Kirche: Ohne Regimewechsel in Moskau wohl keine Friedensverhandlungen möglich - "Drohende Säkularisierungswelle kommt nicht vom unmoralischen Westen, sondern aus dem spirituell verwüsteten Osten"


Wien/Kiew (kath.net/KAP) Die Ukrainer haben, um als Volk und Nation weiter existieren zu können, keine andere Wahl, als dem russischen Aggressor weiterhin Wiederstand zu leisten. Das hat Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk, Oberhaupt der Ukrainisch-Griechisch-katholischen Kirche (Archivfoto), im Interview mit Kathpress und der "Tagespost" (Mittwoch) betont. Ohne einen Regimewechsel in Moskau sehe es derzeit nicht danach aus, dass echte Verhandlungen möglich wären. "Wenn die Ukraine gar nicht existieren darf, mit wem sollte Russland dann verhandeln?" Deshalb dürfe die Ukraine nicht kapitulieren, müsse standhalten, um als Staat und Nation weiter existiert zu können. "Wie lange wir noch Widerstand leisten müssen, wissen wir nicht, aber wir haben keine andere Wahl."

Scharfe Kritik übte das ukrainische Kirchenoberhaupt einmal mehr am Moskauer Patriarchat mit Patriarch Kyrill I. an der Spitze. So verglich Schewtschuk die von Kyrill vertretene Ideologie mit jener der Terrormiliz IS und warnte vor einer ungeheuren Säkularisierungswelle, ausgelöst durch die Russisch-orthodoxe Kirche.

Dass die Ukraine überhaupt noch existiert, grenze schon an ein Wunder, so der Kiewer Großerzbischof. Eine Riesenarmee sei in das Land eingedrungen, "und dass es uns gelungen ist, erfolgreich Widerstand zu leisten, schien uns ein echtes Wunder zu sein, etwas, das nicht mit menschlichen Berechnungen alleine erklärbar ist". Auch dass er selbst noch am Leben sei, sei schon ein Wunder. Die russischen Truppen konnten erst 20 Kilometer vor dem Zentrum Kiews gestoppt werden, eingeschleuste Kommandogruppen hätten es bis zur griechisch-katholischen Kathedrale geschafft. "Der Angriff war sehr gut vorbereitet", so Schewtschuk.

Krieg wird noch länger dauern

Die jüngsten militärischen Erfolge der Ukraine beurteilte der Großerzbischof vorsichtig optimistisch. "Wir sind Zeitzeugen, die erleben, wie der große Mythos von der unbesiegbaren russischen Armee zerfällt." Die ukrainischen Soldaten würden ihm erzählen, dass sie feststellen, dass die russischen Soldaten auch nur Menschen seien, und dass die Ukraine eine Chance habe, dieser Armee zu widerstehen. Schewtschuk warnte aber vor Euphorie: "Ich bin kein Militärexperte und verstehe davon wenig. Wir müssen aber einen klaren Kopf bewahren und verstehen, dass dieser Krieg nicht in unmittelbarer Zukunft endet." Nachsatz: "Wir müssen Widerstand leisten, um zu überleben. Wir haben keine Wahl."

Auf mögliche Verhandlungen bzw. Friedensgespräche zwischen der Ukraine und Russland angesprochen, meinte der Großerzbischof: "Wir beten jeden Tag um Frieden. Doch wir erleben, dass die russische Seite das Wort Frieden in einem Sinn benutzt, der für uns bedeuten würde, besiegt und auf Gedeih und Verderb der Gnade des Aggressors ausgeliefert zu sein." Diese Umdeutung des Wortes Frieden habe bereits im Krieg Russlands gegen Georgien 2008 begonnen. Damals wurden Formeln verwendet wie "Verpflichtung zum Frieden" und "zum Frieden zwingen". Das bedeute Kapitulation.
Russland anerkenne die Ukraine nicht als Subjekt eines Dialogs. Der russische Präsident habe mehrfach gesagt, dass der ukrainische Staat kein Existenzrecht habe. Frieden bedeute für Putin die Befriedung einer Kolonie. Schewtschuk: "Russland führt auf dem Gebiet der Ukraine einen Kolonialkrieg. Es leugnet die Existenz einer ukrainischen Nation mit eigener Sprache, Kultur, Geschichte und Kirche."

Inzwischen verstehe jeder in Russland, dass die Invasion ein Fehler war, selbst in den höchsten Rängen. Doch es gehe den Mächtigen nur darum, ihr Gesicht zu wahren, statt ernsthaft zu überlegen, wie man aus der endlosen Logik des Krieges aussteigen könnte. Und es gebe weiter den Mythos vom "großen, heiligen Russland". Doch Größe bedeute nicht Unfehlbarkeit, sondern, so der Großerzbischof, "die Fähigkeit zur Korrektur, zur Anerkennung von Fehlern".

Doch das Russland von früher gebe es nicht mehr. Die ganze Welt wundere sich, wie es möglich sei, dass eine so große Nation Massengräber überall in der Ukraine hervorbringt, so Schewtschuk: "Heute sind in Russland Kriminelle an der Macht."

Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft
Im Blick auf die Orthodoxie in Russland warnte der Großerzbischof vor einer Gefahr für das gesamte Christentum. Dass sich die orthodoxe Kirche in Russland derart von der Politik instrumentalisieren lasse und den Krieg rechtfertigt, "kann zu einer tödlichen Gefahr für die moralische Autorität der Kirche werden. Es geht um die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft in der heutigen Welt."

Die Ideologie der Russischen Orthodoxen Kirche bzw. der "Russischen Welt" zeige deutliche Parallelen zum Islamischen Staat. In beiden Fällen würden Krieg und Gewalt mit religiösen Argumenten gerechtfertigt; die gesamte westliche Zivilisation werde dem Antichrist zugeordnet und höchster Immoralität beschuldigt; und zur Verteidigung der eigenen Reinheit gegen die westliche Immoralität werde dazu aufgefordert, das eigene Leben zu opfern - mit dem Versprechen der vollständigen Vergebung aller Sünden und des ewigen Lebens. Schewtschuk: "Ich schätze wirklich jene muslimischen Imame, die diese IS-Ideologie als falsche Interpretation des Koran zurückwiesen. Haben wir als Christen den gleichen Mut, die skandalös falsche Interpretation des Evangeliums Jesu Christi zurückzuweisen?" - Zumindest in der Ukraine würden alle Kirchen diese Gefahr erkennen.

Er befürchte aber nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine eine große Säkularisierungswelle. Orthodoxe Ukrainer kämpfen gegen die russische Armee und erleben, wie auf der Gegenseite russisch-orthodoxe Priester diese Armee ermutigen, Ukrainer zu ermorden. Viele Ukrainer würden sich deshalb von der Kirche abwenden. Schewtschuk: "Die nun drohende Säkularisierungswelle kommt nicht vom unmoralischen Westen, sondern aus dem spirituell verwüsteten Osten."

"Ist Versöhnung möglich?"

Der Weg zur Versöhnung, eigentlich ein Herzstück der christlichen Botschaft, sei noch lang, zeigte sich der Großerzbischof realistisch. "Als Christen predigen wir Versöhnung, aber als Christ und Bischof inmitten eines Krieges frage ich Gott und mich: Ist Versöhnung unter diesen Umständen möglich? Es gibt so viele Wunden in der Ukraine heute. Die tiefste ist der Hass zwischen Russen und Ukrainern, der durch diese Aggression hervorgerufen wurde."

Zunächst brauche es ein Ende des Tötens und die Wiedereinsetzung von Gerechtigkeit. Das beinhalte auch Entschädigungen vonseiten Russlands, um die Ukraine wieder aufzubauen. Die Kriegsverbrechen müssten klar benannt, aufgedeckt und die Schuldigen bestraft werden. Sonst würden sich solche Verbrechen an anderen Orten wiederholen, warnte der Großerzbischof. Und erst dann "können wir uns begegnen, um zusammen an den Gräbern der Ermordeten zu beten".

Auf Papst Franziskus angesprochen erläuterte Schewtschuk, dass der Papst weiterhin an die Möglichkeit einer Vermittlung zwischen Russland und der Ukraine glaube. Franziskus glaube auch nach wie vor, dass ein direktes Gespräch mit Putin die Situation verändern könnte. Doch: Bis jetzt wurde dem Papst diese Möglichkeit verwehrt. Auch das Online-Gespräch mit Patriarch Kyrill habe keinerlei Ergebnisse gebracht. Wobei laut Schewtschuk nicht das Gespräch an sich und das Bemühen des Papstes um den Dialog ein Fehler war, sondern, dass das Gespräch im Anschluss vom Moskauer Patriarchat instrumentalisiert wurde und die vatikanische Kommunikationsstrategie darauf nicht vorbereitet war. In der Ukraine sei der Heilige Vater aber jederzeit willkommen, so der Großerzbischof.

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Archivfoto Erzbischof Schewschuk und Erzbischof Franz Lackner (c) kathpress/Georg Pullin


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