3. November 2022 in Kommentar
„Meine über Jahrzehnte gehende Beobachtung als Gemeindepfarrer lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen: Die gängige Taufpraxis der Kirche in unserem Land legt den Grundstein für den späteren Kirchenaustritt.“ Gastkommentar von Winfried Abel
Wien (kath.net) Die Kirchenaustritte der letzten Jahre und Monate haben einen erschreckenden Höhepunkt erreicht. Der Journalist Peter Hahne vermerkt: "In Massen flüchten die Gläubigen aus ihren Kirchen. Die Zahlen waren bereits in den letzten Jahren dramatisch hoch. Jetzt geht es an die Substanz. Diesmal ist es so, als würden die Bundesländer Bremen und Saarland geschlossen ausgetreten sein: insgesamt 441.000 Mitglieder kehrten beiden Großkirchen im Jahr 2020 den Rücken. Fast zu gleichen Teilen Katholiken und Protestanten."
Angesichts dieser bedrückenden Tatsache stellt sich die Frage nach den Ursachen der Kirchenmüdigkeit oder gar -verdrossenheit so vieler Menschen. Dabei dürfen wir Anlässe und Ursachen nicht verwechseln. Anlässe gibt es derzeit zuhauf: sei es das endlose Thema des Kindesmissbrauchs oder die vielfach beklagte Dominanz der Männer in der Kirche, der Ausschluss von Frauen von Ämtern und Weihen, die einseitige Politisierung des Evangeliums, die Corona-Verordnungen der Bischöfe, die ungeliebte Kirchensteuer oder eine missglückte Begegnung mit einem amtlichen Vertreter der Kirche…
Die wahren Gründe, dass so viele den Hut nehmen und sich endgültig von der Kirche verabschieden, liegen nach meiner Erfahrung wesentlich tiefer, nämlich in der kirchlichen Praxis. Wir bewegen uns seit mehr als 50 Jahren in einer säkularisierten Gesellschaft, in der die Kirche zur Diaspora geworden ist. Dennoch betreiben wir eine Seelsorge wie in volkskirchlichen Zeiten. Und das beginnt bereits mit der Taufe.
Meine über Jahrzehnte gehende Beobachtung als Gemeindepfarrer lässt sich in dem einen Satz zusammenfassen: Die gängige Taufpraxis der Kirche in unserem Land legt den Grundstein für den späteren Kirchenaustritt.
Taufe setzt Glauben voraus
Dem Missionsauftrag Jesu (vgl. Mk.16,16) entnehmen wir, dass die Taufe den Glauben voraussetzt. Da ein unmündiges Kind noch nicht zum vollen Gebrauch seiner Vernunft und seines Willens gelangt ist, verbürgen sich die Eltern für die Glaubenserziehung ihres Kindes – vor allem durch ihr gelebtes Beispiel. Das Kind soll – an erster Stelle! – in der häuslichen Familie die Freude am Glauben erleben und wie eine Frischluft einatmen.
Dagegen steht die traurige Wirklichkeit, dass die Kirche seit mindestens drei Generationen die Sakramente der Taufe und der Firmung an Ungläubige und Fernstehende spendet. Der Journalist Peter Winnemöller glaubt sogar feststellen zu können, dass die Generation der getauften Ungläubigen bereits bis in die kirchliche Hierarchie vorgedrungen ist. Priester trauen Brautpaare, denen der Begriff "Sakrament" ein Buch mit sieben Siegeln ist. Viele Priester wissen nicht einmal mehr, was ein Sakrament in seinem Wesen bedeutet. Die römische Bischofssynode 2015 über Ehe und Familie, die eine intensivere Ehevorbereitung ("Ehekatechumenat") anmahnte, hat in den Diözesen unsers Landes keinerlei Widerhall gefunden. Es geht alles so weiter wie gehabt. Auch der Synodale Weg hat dieses wichtige Thema der Sakramentenpastoral m.W. nicht auf der Agenda.
In volkskirchlichen Zeiten, als Elternhaus, Kirche und Schule noch eine Einheit bildeten, glich sich ein solcher Mangel dadurch aus, dass Kinder aus glaubensschwachen Familien von der kirchlich geprägten Umgebung mitgetragen wurden. Diese Zeiten sind lange vorbei. Die beschwichtigende Formel "der Heilige Geist wird schon das Übrige tun", mit der manche Seelsorger ihr Gewissen beruhigen, erweist sich als Trug, denn die Gnade Gottes bedarf immer der Mitwirkung der Menschen.
Dass die Taufe nicht nur eine moralische Bedeutung hat, die den Getauften zu einem Leben nach den Geboten Gottes oder – säkular gesprochen – zur Anerkennung der christlichen Werte verpflichtet, wissen nur noch wenige. Taufe ist eben mehr als das Bewusstsein von Gottes Liebe und Nähe, mehr als Aufnahme in einen christlichen Verein oder gar in eine öffentlich-rechtliche Körperschaft, die sich Kirche nennt. Taufe führt vielmehr zu einer organischen Lebenseinheit mit dem, der von sich sagt: "Ich bin der Weinstock, ihr seid die Rebzweige; wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht, denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen…"(Joh.15,5). Daraus ergibt sich eine völlig neue Lebenssicht und Lebensweise.
Der Brief an Diognet (3.Jh.) erklärt diese neue Dimension des Lebens auf eindrückliche Weise. Dort heißt es u.a.: "Die Christen in der Welt sind Menschen wie die übrigen: sie unterscheiden sich von den anderen nicht nach Land, Sprache oder Gebräuchen. Sie bewohnen keine eigene Stadt, sprechen keine eigene Mundart, und ihre Lebensweise hat nichts Ungewöhnliches. Wie sie jedoch zu ihrem Leben als solchem stehen und es gestalten, darin zeigen sie eine erstaunliche und, wie alle zugeben, unglaubliche Besonderheit. Sie wohnen zwar in ihrer Heimat, aber wie Zugereiste aus einem fremden Land. Jede Fremde ist ihnen Heimat und jede Heimat Fremde. Sie heiraten wie alle anderen und zeugen Kinder, aber sie verstoßen nicht die Frucht ihres Leibes. Sie sind im Fleisch, leben aber nicht nach dem Fleisch; sie weilen auf der Erde, aber ihre Heimat haben sie im Himmel… Um es kurz zu sagen: Was die Seele im Leib ist, das sind die Christen in der Welt."
Diese hier beschrieben Idealform christlichen Lebens wird zwar nur selten gefunden, aber sie muss die Orientierungsmarke eines jeden Seelsorgers bleiben.
Die missionarische Situation heute
Wenn wir davon ausgehen, dass 95 Prozent der jungen Eltern, die ihre Kinder zur Taufe anmelden, keine ausreichende Glaubensgrundlage – sowohl das Wissen als auch die Praxis betreffend – haben, ergibt sich daraus eine eindeutige missionarische Situation.
Von dieser Situation muss ein Gemeindepfarrer heute ausgehen, wenn ein Elternpaar sein Kind zur Taufe anmeldet. Ein getauftes Kind ungläubiger oder kirchenferner Eltern ist bereits im Babyalter ein Kirchenaustritts-Kandidat. Hier ist an erster Stelle individuelle Seelsorge vonnöten. Ein formelles Taufgespräch – vielleicht sogar "in cumulo", mit anderen Taufeltern zusammen – wird dieser Situation nicht gerecht. In der Regel braucht es zunächst das ganz persönliche Gespräch des Seelsorgers mit den Eltern. Hier geht es vor allem um Fragen des persönlichen Glaubens und der Glaubenspraxis. In den meisten Fällen wird der Seelsorger diesbezüglich ein so großes Defizit vorfinden, dass er dringend zu einer neuen Grundlegung des Glaubenswissens und des Glaubenslebens – und konsequenterweise zu einem Taufaufschub! – raten muss.
Taufaufschub entspricht durchaus der Praxis der frühen Kirche. Er bedeutet nicht, dass den Menschen die Türe zur Kirche vor der Nase zugeschlagen wird! Im Gegenteil! Sie werden eingeladen, durch die offene Türe zu gehen! Eltern werden geschult und eingeführt in die fundamentalen Wahrheiten des Glaubens. Kinder werden in die Entscheidung mit-einbezogen, indem sie schon in der Grundschule am konfessionellen Religionsunterricht und in der Gemeinde am Kommunionunterricht teilnehmen. Selbstverständlich sollten die Eltern an dem Prozess der Glaubensentwicklung ihres Kindes immer beteiligt bleiben.
Für die Erstkommunion muss die Devise lauten: Kommunionvorbereitung geschieht in der Familie, Kommunionunterricht in der Gemeinde.
Es ist durchaus keine Schande, wenn ein Kind am Tag seiner Erstkommunion – und zwar im Rahmen des festlichen Gottesdienstes – die Taufe empfängt! Im Gegenteil! Dies könnte zu einem mitreißenden Glaubenszeugnis für die ganze Gemeinde werden!
Dass in einigen Diözesen unseres Landes (z.B. Essen, Rottenburg) Laien mit der Taufspendung beauftragt werden, zeugt davon, dass hier die Tradition einer Volkskirche aufrechterhalten wird, die es schon lange nicht mehr gibt. Dieses Konzept ist rückwärtsgewandt. Wenn sich die Seelsorger bemühten, die Eltern auf ihre Pflichten als erste Missionare ihrer Kinder hinzuweisen und ihnen die nötigen Angebote für eine Grundkatechese und eine Erneuerung ihrer Glaubenspraxis machten, dann bräuchte man keine Laien als Sakramentenspender, dann würde sich die Anzahl der Taufen in Grenzen halten.
In meiner früheren Pfarrei (St. Andreas in Fulda) machte ich den Eltern von Täuflingen oder Kommunionkindern das Angebot eines fortlaufenden Glaubenskurses (Alphakurs), dem sie sich anschließen konnten. Selbstverständlich gab es solche, denen an einer Vertiefung des Glaubens nichts lag oder denen die Vorbereitung auf die Taufe zu umständlich war, die dann ihr Kind im Schnellverfahren von einem Nachbarpfarrer taufen ließen. Diese Erfahrung deutet auf ein dringliches Anliegen hin, – nämlich, dass es für die Sakramentenpastoral einheitlicher Richtlinien bedarf, die alle Seelsorger dazu verpflichten, sich an die Regeln des Katechumenats zu halten. Denn Taufeltern sind in der Regel als Katechumenen anzusehen, die mit der Taufe ihres Kindes sich ihrer eigenen Taufe bewusst werden sollen, um diese dann erneuern zu können.
Gemeindepfarrer können es sich heute nicht mehr bequem machen, indem sie bei der Vorbereitung der Taufe auf die alten volkskirchlichen Strategien setzen. Diese haben ausgedient und sind für die moderne Pastoral nicht mehr tauglich. "Pastoral" ist heute gleichzusetzen mit "Mission". Ein Taufgespräch, in welchem hauptsächlich die Riten der Taufe und die Auswahl der Lieder besprochen werden, ist zu wenig. Seelsorger und ihre Mitarbeiter müssen den einzelnen Menschen nachgehen und sie begleiten. Derartige Gespräche, Begegnungen und Angebote (vgl. Joh.3: Jesu nächtliches Gespräch mit Nikodemus) sind keine Zeitverschwendung, ja sie sind wichtiger als alle Sitzungen und Veranstaltungen, die dazu dienen, Gläubige bei Laune und den "Betrieb" einer Pfarrei am Laufen zu halten. Herren des Glaubens müssen zu Dienern der Freude werden! (vgl. 2Kor.1,24).
Ich erinnere an den heiligen Pfarrer von Ars, Jean Marie Vianney, der sinngemäß sagte: "Priester sein ist die große Freude meines Lebens, aber Pfarrer sein, ist für mich eine gewaltige Last und eine drückende Verantwortung".
Wie sanft diese Last und wie leicht diese Bürde sein kann, beschreibt John Henry Newman in seinem berühmten Gebet:
O Gott, die Zeit ist voller Bedrängnis, die Sache Christi liegt wie im Todeskampf. Und doch – nie schritt Christus mächtiger durch diese Erdenzeit, nie war sein Kommen deutlicher, nie seine Nähe spürbarer, nie sein Dienst köstlicher als jetzt. Darum lasst uns in diesen Augenblicken des Ewigen, zwischen Sturm und Sturm, in der Erdenzeit zu Dir beten: O Gott, Du kannst das Dunkel erleuchten, Du kannst es allein!
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