Lebensschutz – „Die Würde des Menschen ist angetastet, am Anfang und am Ende“

3. September 2022 in Prolife


Der gefährlichste Aufenthaltsort eines Menschen ist, wo ihm die größte Gefahr droht: Im Lebensjahr „0“ sterben mehr Menschen als in jedem anderen Lebensjahr, 60 Millionen Tote weltweit (nach Geburt), 73 Mio. vor Geburt! Gastbeitrag von Hartmut Steeb


Loccum (kath.net) kath.net dokumeniert die schriftliche Fassung des Vortrags „Die heutige Bedrohung des Lebens und die Christen“ von Hartmut Steeb beim Ökumenischen Bekenntniskongress am 13.08.2022 in Loccum in voller Länge und dankt ihm für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung.

Sie kennen die schöne Karikatur aus den Berichten von Vereinsvorständen? Da sagt der neue Vorstand, der sich doch auch vom alten etwas absetzen will und auf seine Erfolge hinweisen: „Letztes Jahr standen wir vor einem Abgrund. Jetzt sind wir einen Schritt weiter!“ „Mehr Fortschritt wagen“ hat sich die Bundesregierung als Motto ihres Koalitionsvertrags gewählt. Das ist ja genau betrachtet wenig spektakulär und können doch wohl alle unterschreiben. Man muss ja mal die Alternativen vorstellen und wie die wirken würden: „Wir stehen für Stillstand“ oder „Mehr Rückschritt bitte!“ Nein, das geht gar nicht. Aber solche Floskeln werden ja nicht selten von der Realität eingeholt und erweisen sich im praktischen Leben vielleicht schneller als man denkt als unbrauchbar. Was heißt denn nun „mehr Fortschritt wagen“ im Krieg in der Ukraine? Da könnte es ja zu Putin und seinen Truppen passen. Und wenn man auf die falschen Karten gesetzt hat, könnte die Weiterführung, der Fortschritt, fatal sein. Was heißt das jetzt im Blick auf die Energiekrise, die uns ständig eingehämmerte Klimakrise, die Wirtschaftskrise und die Inflation? „Mehr Fortschritt wagen“ sagt also für sich genommen einfach nur „gar nichts.“ Und deshalb ist die viel wichtigere Fragen: „Wo schreiten wir denn hin?“ Wohin soll die Reise führen? Wo ist das Ziel? Klar, ein Sonntagsausflug morgen kann ein sogenannte „Fahrt ins Blaue“ sein. Aber wenn der politische Kurs nur eine Rundreise darstellt? Wenn die Lebensreise nur bedeutet, schöne Bilder einzusammeln?

„Die heutige Bedrohung des Lebens und die Christen“ heißt das mir gestellte Thema. Kriege, Klimaveränderung, Umweltverschmutzung, Verarmung, Niedergang der Wirtschaft und vieles andere sind natürlich – möglicherweise – auch heutige Bedrohungen des Lebens. Manche Krisen kommen über uns und Menschen fühlen sich mitunter wirklich hilflos gegenüber damit verbundenen Katastrophen. Man redet dann von Schicksalsschlägen. Noch schlimmer aber sind Krisen und Katastrophen mit Ansagen, mehr oder weniger bewusst herbeigeführt, vielleicht sogar geplant, gewollt. Ja, ich sehe als die noch größeren Bedrohungen des Lebens jene an, die unter dem Stichwort „Fortschritt“ daher kommen, zum Großteil jetzt bewusst gesteuert von einer Koalition, die eine andere Gesellschaft will, als wir sie bisher hatten.

Als wir in der Lebensrechtsbewegung vor 45 Jahren gesagt haben, dass die Zukunft zeigen wird: So, wie wir mit den Menschen am Anfang des Lebens umgehen, werden wir dann auch mit den Menschen am Ende des Lebens umgehen, da staunten viele. Und hätte es den Begriff der Verschwörungstheorie schon gegeben, hätte man ihn darauf gewiss anerkannt. Und es könnte sein: Wenn ich die Gefahren für das Lebensrecht der Menschen heute und morgen beschreiben würde, dass das auch manche – natürlich nicht hier unter Ihnen – auch als Verschwörungstheorie bezeichnen würde. Deshalb habe ich mich entschieden, das Faktum des Koalitionsvertrags dieser derzeitigen Bundesregierung zu lesen und für unser Thema auszuwerten. Das soll also keine parteipolitische Rede werden sondern ich nehme das als reale Vorlage künftiger Gefährdungen.

Schwester Monja hat es schon gesagt. Ich wiederhole nur: Der gefährlichste Aufenthaltsort eines Menschen ist, wo ihm die größte Gefahr für das Weiterleben droht? Es ist der Ort, den Gott in seiner Schöpfungsweisheit und Schöpfungsgestaltung als den sichersten Ort für das menschliche Leben vorgesehen hat: Die ersten 40 Wochen im Körper der Mutter des Kindes, ganz umhüllt von einer anderen Person, geschützt gegen alle natürlichen Feinde des Lebens, der Angriffe von außen.

Die Pandemiezeit war ja auch eine Lehrzeit. Manches, was wir bisher nicht so sehr im Bewusstsein hatten, wurde uns genügend oft vorgestellt. So z.B. die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Von ihr stammt die Zahl – und da muss ich die von Schwester Monja genannte Zahl revidieren bzw. aktualisieren – dass weltweit jährlich 73 Millionen ungeborene Menschen das „Licht der Welt“ nicht erblicken, weil sie in diesen ersten Wochen gewaltsam daran gehindert werden, ihr Leben weiter führen zu können. Man kann sich solche Zahlen ja schwer vorstellen. Nur wenige von uns werden 73 Millionen Euro ihr Eigentum nennen können. Die wissen es vielleicht. Wir anderen aus der etwas ärmeren Gesellschaftsschicht brauchen zur Einordnung von Zahlen Vergleiche, weil absolute Zahlen oft die Köpfe verwirren. Zur richtigen Einordnung braucht man mehr als eine Zahl. Darum ist es gut, sich bewusst zu machen, dass weltweit jährlich zwischen 54 und 61 Millionen Menschen sterben, also gerundet etwa 60 Millionen nach der Geburt, in den ca. 73 durchschnittlich erlebten Lebensjahren, und 73 Millionen vor der Geburt; das sind täglich ! 200.000 ! Kindestötungen im Mutterleib ist die häufigste vermeidbare Todesursache. Das Lebensjahr, in dem die meisten Menschen sterben, ist sozusagen das Jahr 0, mehr als in jedem anderen Lebensjahr.

Darf ich Sie auf einen kleinen Exkurs mitnehmen? Bisher war es ja immer ein lockerer Spruch „Glaub keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast“ oder Statistik sei die Steigerung von Lüge. Also Lug, Betrug, Statistik. Seit uns in den letzten knapp 2 1/2 Jahren auch ständig Zahlen um die Ohren gehauen werden, wie die sogenannten Infektionszahlen, aber auch die Zahlen von Corona-Toten und die Modellrechnungen, was noch alles kommen könnte, habe ich den Eindruck, dass die lockeren Sprüche über die Statistik mehr Wahrheit enthalten, als ich selbst glaubte. Darum gilt das natürlich auch für die Zahl von 73 Millionen Abtreibungen weltweit.

Ich habe jetzt eine neue Entdeckung gemacht: Es gibt doch die sogenannte Weltbevölkerungsuhr. Da wird also sekündlich angezeigt, wie viel Menschen geboren werden, wie groß die Weltbevölkerung gerade ist usw. Zum Tageswechsel auf heute waren es gerade 8 008 756 410.

Aber bevor man diese Zahl abgeschrieben hat, ging sie schon wieder nach oben. Ich habe mich in den letzten Monaten sehr bemüht, rauszubekommen, wieviele Menschen weltweit gestorben sind, also 2021 – gut, das ist noch zu frisch; 2020, 2019? Ich kann nur sagen, ich kann sie nicht finden. Die Weltbevölkerungsuhren geben uns zwar den Anschein, dass man genau wisse, wieviele Menschen auf dieser Welt leben, aber das sind Fiktionen und Modellrechnungen, die nicht mit wirklich belastbaren statistischen Zahlen unterfüttert sind. Das ist schon daran zu erkennen, dass der „Globometer“ von ca. 56 Millionen Sterbefälle jährlich ausgeht https://de.globometer.com/todesfaelle-welt.php, der „Worldometer“ aber offenbar von 58 Millionen. Eine Hochrechnung habe ich auch gefunden, die jetzt für 2022 61,2 Millionen vorhersagen. Und dann habe ich entdeckt: Die Zahlen der Weltbevölkerungsuhr basieren auf den „neuesten Schätzungen, die im Juni 2019 von den Vereinten Nationen veröffentlicht wurden“. Ich betone im Jahr 2022, dass es sich um Zahlen von 2019 handelt, nein, um solche, die man 2019 geschätzt hat: Worldometer - Weltstatistiken in Echtzeit (worldometers.info). Die Zahlen schwanken also zwischen 54 und 61 Millionen.

Von meinem väterlichen Freund Rolf Scheffbuch, vielleicht einigen noch dem Namen nach bekannt, ist mir sein Wort aus dem letzten Jahrtausend noch in den Ohren: „Glaubet net älles, was em Blättle steht“ – hochdeutsch: „Nehmt nicht alles als bare Münze, was in den Zeitungen geschrieben steht!“ Ein gesundes Misstrauen sich zu bewahren, erscheint mir sehr wichtig und hilfreich.

Zurück zu der Zahl der Abtreibungen: Alle Möglichkeiten und tatsächlichen Todesursachen dieser Welt zusammengenommen erreichen nicht die Zahl der Todesfälle durch Abtreibungen. Wenn man sich das vor Augen stellt: Vielleicht können Sie mir dann zustimmen, dass das die schlimmste Menschenrechtsverletzung weltweit ist, die offenbar tagtäglich geschieht? Das Leben ist in den ersten Tagen und Wochen mehr bedroht als in allen Lebensumständen und kommenden Katastrophen danach!

Blicken wir kurz in die USA. Ich denke, Sie alle haben es mit bekommen: Am 24. Juni hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten (USA) Recht gesprochen. Das schaffte im Vorfeld, am Tag und noch Wochen danach Schlagzeilen. Hatte der Gerichtshof am 22. Januar 1973 entschieden, dass das Abtreibungsverbot in Texas das Recht der Frauen verletze, über die Fortführung oder Beendigung einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden, so wurde jetzt – nach fast 50 Jahren – höchstrichterlich festgestellt, dass es ein solches Recht nicht gibt. Nicht wenige denken ja, weil es in den großen Medien so dargestellt bzw. an die Wand gemalt wurde, dass jetzt Abtreibungen in den USA gesetzlich verboten seien. Das ist falsch. Es wurde „nur“ bestimmt, dass es „kein Recht auf Abtreibung“ gibt und dass darum die einzelnen Bundesstaaten das Recht haben, diese Fragen gesetzlich zu regeln, wie sie es möchten, also auch Abtreibungsbeschränkungen oder Verbote zu beschließen. Darf ich es so sagen: Es wurde nur der Schalter umgelegt und das strikte Verbot des Verbotes aufgehoben. Aber dass reichte natürlich: Die Aufregung ist in der sogenannten „Pro Choice“-Community groß, weil die sich immer mehr ausbreitende und den Mainstream in der westlichen Welt bestimmende Ideologie einer Selbstbestimmung auch gegen das ungeborene Kind einen kräftigen Dämpfer erhielt. Der berühmteste Repräsentant dieser „Pro Choice“- Bewegung ist der derzeitige US-Präsident Biden. Er hat rasch ein Dekret unterzeichnet, das unter anderem den Zugang zu medikamentösen Schwangerschaftsabbrüchen und die so genannte „medizinische Notfallversorgung für Frauen“ sicherstellen soll. Außerdem sollen das Justizministerium und die Rechtsabteilung des Weißen Hauses ein Team von Anwälten aufbauen, die unentgeltlich Frauen beraten oder vertreten, die wegen einer Abtreibung dann in einzelnen Bundesstaaten möglicherweise in juristische Schwierigkeiten geraten könnten, wenn dort keine Abtreibungen erlaubt wären.

Große Firmen und Konzerne haben flugs deutlich gemacht, dass sie Frauen künftig zur Abtreibung auch dadurch unterstützen, dass sie die Fahrtkosten übernehmen, wenn sie dann wegen der unterschiedlichen Rechtslage, die nun in den USA von Bundesstaat zu Bundesstaat erwartet werden, weitere Wege auf sich nehmen müssen, um eine Abtreibung zu erhalten. Konzerne, die keine Abtreibungen verhindern sondern bezahlen. Ich sage es mal sarkastisch: Es ist ja schon verrückt, wenn Konzerne ihre heutigen Gewinne dazu nützen, ihre künftigen Kunden zu vernichten. Vorausschauende Wirtschaftspolitik sieht anders aus.

Nachdem der Entwurf des Urteils schon vor der Verkündung durchgesickert war, gab es gewaltsame Proteste und Anschläge auf Einrichtungen der „Pro Life“-Bewegung, die auf diese Revision langfristig, so gut es ging, hingearbeitet hat und sich natürlich über diese Aufhebung des Fehlurteils freut.

Ich nenne das Urteil von 1973 mit dem jetzigen Obersten Gerichtshof der USA in der Tat ein Fehlurteil. Denn eigentlich sollte doch im Blick auf persönliche Freiheitsrechte sonnenklar sein: Die persönliche Freiheit endet immer dort, wo das Freiheitsrecht anderer eingeschränkt oder gar verhindert wird. Und wo kann dieses eigentlich besser dargelegt werden als am Schwangerschaftskonfliktfall? Ja, eine Schwangerschaft – und das erlaube ich mir auch als Mann zu sagen, dessen Frau häufiger schwanger war und dessen Töchter und Schwiegertöchter auch nicht wenige Schwangerschaften austragen durften (in diesen Tagen hoffen wir, dass das 20. Enkelkind das Licht der Welt erblickt) – verändert ein Leben. Total. Und natürlich erst recht danach, wenn das Kind geboren wird und – mindestens für einen großen Zeitabschnitt – auch zum Mittelpunkt des familiären Lebens wird. Und natürlich hat jede Frau die absolute Freiheit, Nein zu einer Schwangerschaft zu sagen. Sie muss sich einfach nicht auf die geschlechtliche Gemeinschaft mit einem Mann einlassen. Es darf ihr doch zugemutet werden, ihr Selbstbestimmungsrecht rechtzeitig vorausschauend auszuüben (den Sonderfall der Vergewaltigung, aus der glücklicherweise viel seltener ist als die Medien uns einflüstern eine Schwangerschaft wird, lassen wir jetzt einfach mal außen vor. Das ist ein eigenes Thema).

Eine Schwangerschaft ist nicht nur eine Frage der persönlichen Lebensgestaltung. Durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle ist neues menschliches Leben entstanden. Im Laufe der Schwangerschaft entwickelt sich der Mensch nicht erst irgendwann zum Menschen sondern er entwickelt sich als Mensch weiter. Und darum muss der freiheitlichen Selbstbestimmung der Schwangeren die freiheitliche Selbstbestimmung des ungeborenen Kindes gegenüber stehen. Gewiss! Und eine humane Gesellschaft zeigt sich gerade darin, dass sich nicht einfach die Stärkeren gegen den Schwächeren durchsetzen dürfen sondern dass die Gesellschaft, der Rechtsstaat, für den Schwächeren und sein Recht einzutreten hat. Dieses fundamentale Menschenrecht hat der Oberste Gerichtshof der USA 1973 außer Acht gelassen. Fahrlässig, grob fahrlässig oder vorsätzlich? Ein Fehlurteil mit fatalen Folgen. Es hat gewiss Millionen von Menschenleben gekostet, Menschen, die das Licht der Welt nicht erblicken durften.

Auch wenn gewiss am deutschen Wesen nicht die Welt genesen wird: Es wäre wert gewesen, sich die Erkenntnis schon aus dem 18. Jahrhundert zu Gemüte zu führen. Im Preußischen Landrecht von 1794 standen die wunderbaren Sätze in §§ 10 und 11: Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit ihrer Empfängnis… Wer für schon geborene Kinder zu sorgen schuldig ist, der hat gleiche Pflichten in Ansehung der noch im Mutterleibe befindlichen.“ Auch wenn das Preußische Landrecht natürlich nicht in den USA galt: Wer dies übersieht, übergeht, negiert, hat das Wesentliche des Grundrechtsschutzes nicht begriffen. Denn was nützen denn alle Menschenrechte, wenn nicht zuvor das Grundrecht auf Leben geschützt wird?

Wie in einer pubertären Trotzreaktion hat das Europäische Parlament auf die Gerichtsentscheidung in den USA reagiert und als Reaktion mehrheitlich eine Resolution verabschiedet, nach der in die Europäische Grundrechtscharta das „Recht auf Abtreibung“ für jeden Menschen hinzugefügt werden soll (die Idee dazu hatte vor Monaten schon der französische Präsident Macron in die Öffentlichkeit posaunt). Zum Glück wird das so schnell nichts werden, weil eine solche Veränderung die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bräuchte. Aber zur Stimmungsmache für ein Recht, dass es nie und nimmer geben darf, eignet sich natürlich ein solcher Beschluss. Aber wenn Menschen über Menschenleben Dritter entscheiden dürfen, dann ist nicht nur das Nein zur Todesstrafe obsolet, auf das die Europäer doch so stolz sind, sondern dann verabschiedet sich der Rechtsstaat aus seiner humanen und christlichen Geschichte und wird zum Unrechtsstaat.

Der 24. Juni war ein besonderer Tag für und gegen das Lebensrecht. Denn einige Stunden vor der Bekanntgabe des Urteils in der USA, bei uns beginnen die Tage ja früher, hatte der Deutsche Bundestag das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen – § 219a StGB – aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Ein erster Schritt des sogenannten „Fortschritt wagen!“ Nach diesen aktuellen Spotlights will ich Ihnen jetzt gerne vielleicht etwas übersichtlicher einzelne Bedrohungen des Lebens aufzeigen.

1.    Für Abtreibungen darf man als medizinischer Service werben

Die Entscheidung des Deutschen Bundestags das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch zu streichen, kommt ja harmlos da her. Es wurde auch in den Medien und bis hinein in manche kirchliche Gremien weitgehend begrüßt. Dabei wurden – wie leider viel zu oft – falsche Fakten als Wahrheiten verkündet und auch regierungsamtlich „Fake News“ verbreitet. Dass das mit einer bisher anscheinend unzureichenden Information für Schwangere im Konflikt begründet wurde, ist natürlich absolut daneben, eigentlich ein Hohn. Wenn eine Leistung mindestens 100.000 mal jährlich abgerufen wird, dann kann es ja nicht daran liegen, dass sie nicht bekannt ist. Nein, es ist klar, auch wenn dies in der Gesetzesbegründung nicht zu finden war: Es soll offensiver für die Abtreibung geworben werden können. Wissen Sie eigentlich, was da bisher stand? § 219a StGB
„Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts (§ 11 Absatz 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise
1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder
2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung
anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft“.

Informationen waren ja nicht verboten. Es werden und wurden auch Listen geführt, wo man überall zur Abtreibung hin kann. Die wird von der Bundesärztekammer geführt, ist öffentlich leicht zugänglich, auch abrufbar auf der Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Ärzten und Beratungsstellen liegen die Listen natürlich auch vor. Aber nun darf man Abtreibungen wie normale Dienstleistungen bewerben, auch, wenn man damit Geld verdienen will, auch in grob anstößiger Weise: Sowohl im Blick auf die Dienstleistung der Abtreibung selbst als auch im Hinblick auf die dazu vorhandenen Mittel, also etwa die Abtreibungspille. Die öffentliche Diskussion wird übrigens – ich denke bewusst – verengt, als ob es hier um die Information durch Ärzte ginge. Das auch. Aber künftig sind dann auch solche Werbungen für Abtreibungen möglich, wie wir sie jetzt schon in aller Öffentlichkeit im Hinblick auf Datings, für die Kondomwerbung usw. finden, vielleicht dann bald auch regierungsamtlich durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – künftig laut Koalitionsvertragsabsicht: „Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit am Bundesministerium für Gesundheit.“ Darum geht es. Und stellen Sie sich mal vor, Sie bekommen künftig dann ganz nett verpackt kurz vor der Tagesschau statt der Werbung für neue Verdauungspillen eben mal Werbung für die Pille danach, für den kleinen medizinischen Eingriff der Schwangerschaftsreduktion – oder wie immer man das dann nennt. „Ihnen ist am Morgen nach der tollen Nacht schlecht? Kein Problem, ich habe da was“ – nein, ich will jetzt nicht die Werbesprüche für das Bundesinstitut entwickeln oder gar für die Pharmaindustrie.

2.    Abtreibungen sollen nicht mehr durch das Strafgesetzbuch sanktioniert werden.

Wenn man nicht nur die Koalitionsvereinbarung gelesen hat sondern vor der Bundestagswahl auch die Wahlprogramme der heutigen Koalitionsparteien FDP, Grüne und SPD, der weiß, dass die Ziele viel weiter gesteckt sind. Es ist sehr klar, dass sie am liebsten alle strafrechtlichen Schutzbestimmungen zugunsten ungeborener Kinder streichen würden. Für die Linken gilt das auch. Und leider muss man ja im Blick auf die jetzt größte Oppositionspartei, CDU/CSU, festhalten, dass sie auch in ihrem Wahlprogrammen zu dieser größten Menschenrechtsverletzung in Deutschland und weltweit nicht einen einzigen Satz übrig hatte – entweder weil sie sich keine gemeinsame Meinung gebildet hat oder diese schlichtweg vergessen hat. Was besser wäre, dürfen Sie beurteilen. Bei dieser Gemengenlage muss man befürchten, dass die Abschaffung des Werbeverbots nur der Einstieg in den Ausstieg aus den Regelungen der §§ 218 ff sein wird.

Ich denke, da ist ein zweiter Exkurs angebracht. Wären wir jetzt in einer Gesprächsgruppe würde ich versuchen mit Ihnen das Wissen um die Abtreibungsregelungen in Deutschland zusammenzutragen. Nun versuche ich es im Stakkato in Erinnerung zu bringen.

Das jetzige „Abtreibungsrecht“ stammt aus dem Jahr 1995. Man redet von dem großen Konsens den man damals erreicht hat und eine gewisse Ruhe, die danach eingetreten war. Auch in unserem – oder sollte ich vorsichtiger sagen – in meinem Sinne wohlwollende Politiker wollen ja an dem derzeitigen Recht am besten nichts ändern, weil es ein hehrer Kompromiss gewesen sei. Das stimmt ja auch. Und ich weiß auch, dass, wer daran etwas ändern will auch abwägen muss, ob er die Situation nicht nur – wie heißt es so schön? – verschlimmbessert, also verschlechtert. Das verkenne ich nicht. Aber dennoch will ich für mich sagen: Ich will und ich werde diese Regelungen nicht akzeptieren, mich damit nicht zufrieden geben, weil sie die größte Menschenrechts-katastrophe in unserem Land zementieren, weltweit erst recht.

Die Diskussionen über die sogenannte Liberalisierung des § 218 StGB ging schon viel länger, auch mit verschiedenen Gesetzesbeschlüssen, die dann aber mehrmals vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben wurden. Ich denke, manche hier werden sich ja noch wie ich daran erinnern, dass der erste kräftige Einschnitt 1974 kam, wesentlich vorbereitet von der großen Kampagne von Alice Schwarzer „Wir haben abgetrieben“, die mit dem Stern-Artikel vom 6. Juni 1971 und der Selbstbezichtigung von 374 Frauen begann. Drei Jahre später – früher haben die Umsetzung von Tagesmeinungen zu politischen Handlungen etwas länger gedauert als manche Entscheidungen heute, die freilich darum nicht besser sind. Am 18. Juni 1974 wurde vom Deutschen Bundestag eine Fristenregelung beschlossen; also Straffreiheit einer Abtreibung bis 12 Wochen nach der Empfängnis und ein Informationsgespräch bei einem Arzt oder einer Beratungsstelle vor der Abtreibung.

Das Statistische Bundesamt hatte einmal die Zahlen der Abtreibungen von 1974 bis 2007 mit 4,8 Millionen benannt. Seither sind weitere 1,45 Millionen erfasst worden, insgesamt also 6,25 Millionen. Bis ins Jahr 2000 hat das Statistische Bundesamt selbst darauf hingewiesen, dass es keine vollständige Erfassung der Abtreibungen gegeben habe. Die damalige rot-grüne Bundesregierung hat diesen Hinweis damals abgeschafft. Damals gab es aus dem Statistischen Bundesamt selbst die Schätzung, dass nur etwa 60% erfasst würden. Nimmt man diese Zahl ernst, dann muss man seit 1974 von ca. 10,4 Millionen Tötungen im Mutterleib ausgehen. Darum sind die ca. 100.000 derzeit jährlich gemeldeten Abtreibungen eben auch nur die Spitze des Eisbergs. Es gibt eine sehr große Dunkelziffer, wobei ich es selbst auch immer witzig finde, wenn es dann – auch bei anderen Statistiken, z.B. der Steuerhinterziehung – Leute gibt, die die Dunkelziffer benennen. Aber es gibt beim Statistischen Bundesamt im Hinblick auf die Abtreibungsstatistik keinerlei Vollständigkeitskontrolle der Meldungen und keine Plausibilität, z.B. einen Vergleich mit der Zahl aus öffentlichen Mitteln und von privaten Krankenkassen finanzierten Abtreibungen.

Aber wenn es auch „nur“ 100.000 – jährlich! – wären: Mit diesen Abtreibungszahlen kann und darf man sich doch nicht abfinden. Das gilt umso mehr, wenn man auf die weltweite Situation sieht.

Sie wissen: Das Gesetz wurde als verfassungswidrig verworfen. Es gab neue Beratungen, neue Beschlussfassungen. Ich kürze das ab. In den Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands 1989 und 1990, konnte man sich nicht auf eine künftig gemeinsame gesetzliche Regelung einigen – in der DDR galt ja die Fristenlösung, die im Westen aber verfassungswidrig war. Man hat sich dann auf die Indikationenregelung geeinigt, die aber das Bundesverfassungsgericht 1993 erneut kassierte. Und dann wurde von der Koalition der Unionsparteien und der FDP das im Wesentlichen bis heute gültige Recht ausgearbeitet und verabschiedet. Ich erlaube mir auf einen Vorgang aus dem Hintergrund dieser in vielem seltsamen Regelung hinzuweisen. Uta Würfel, FDP, eine der Vorreiterinnen im Kampf für eine „Liberalisierung“ und dann Mit-Befürworterin des Gesetzesentwurfs der Regierungsfraktionen hat in der Diskussion im Deutschen Bundestag am 26. Mai 1994 das große politische Ziel klar bestimmt: „… wir wollten auch in Deutschland durchsetzen, dass Frauen in einem Schwangerschaftskonfliktfall auf der Grundlage einer qualifizierten obligatorischen Beratung frei und alleinverantwortlich entscheiden können, wie sie mit ihrer ungewollten Schwangerschaft umgehen. Niemand außer der Frau selbst sollte die Entscheidung darüber fällen, ob sie die Schwangerschaft fortsetzen will oder ob sie sie beenden will. Kein Arzt sollte sich, wenn die Frau den Schwangerschaftsabbruch verlangte und ihn durchführte, rechtfertigen müssen. Kein Richter sollte jemals mehr erforschen können, welche Beweggründe die Frauen hatten, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch haben wollten… Dreh- und Angelpunkt …war also die Entkriminalisierung von Frau und Arzt“. Also, selbst wenn das alles wirklich kriminell wäre; es darf es nicht sein.

Soweit der Exkurs: Und genau so ist das Recht gestaltet: Keiner kann mehr zur Verantwortung gezogen werden. Die Beratung ist anonym. Es gibt keine Nachverfolgung, auch nicht der Beratungstätigkeit. Darum ist nach meiner Kenntnis in den Jahrzehnten des Bestehens dieser Regelung auch noch nie eine Beratungsstelle der einmal zuerkannte Status wieder entzogen worden, etwa wegen falscher Führung der Beratungsarbeit. Und darum ist der § 218 zwar formaljuristisch mit Beschränkungen belegt, aber faktisch eine Freigabe der Abtreibung. Wer abtreiben will, der kann und darf.

Regierungsmitglieder haben sich in der Diskussion um den Wegfall des Werbeverbots widersprochen. Da war der Justizminister, der sagte, dass das kein Einstieg in den Ausstieg von §§ 218 ff sei. An diesen bewährten Bestimmungen wollte man festhalten. Aber Bundesfamilienministerin Paus hat deutlich gemacht, dass hier nicht der Stoppschild aufgestellt werden wird. Es soll weiter bedacht werden. Zunächst beabsichtigt die Regierung ja die Einsetzung einer Kommission, die darüber beraten soll, ob der noch nicht gänzlich bestrittene Schutz für ungeborene Kinder nicht besser außerhalb des Strafrechts geregelt werden könnte.

3.    Schutz ungeborener Kinder

Es ist erschreckend. Der Koalitionsvertrag mit seinen 178 Seiten hat kein einziges Wort über die Menschen vor der Geburt, jedenfalls im Hinblick darauf, dass sie in irgendeiner Weise zu schützen wären. Sie kommen schlichtweg als Menschen mit eigenen Rechten nicht vor. Das Wort Abtreibung als Problemanzeige gibt es nicht.

Unter der Überschrift „Reproduktive Selbstbestimmung“ wird aber das sogenannte „Selbstbestimmungsrecht von Frauen“ beschrieben. Das liest sich gut. Weil gegen die Selbstbestimmung über sein eigenes Leben niemand sein kann. Dass es im Kontext der Schwangerschaft auch ein Recht auf Leben des ungeborenen Kindes gibt, findet sich nirgends. Der „Fortschritt“ ist also ein eindeutiger „Wegschritt“ vom eigenständigen Recht auf Leben, das sich aus dem Grundgesetz ergibt und dass das Bundesverfassungsgericht in seinen Urteilen, auch noch 1993, explizit dargelegt hat. Dass das Selbstbestimmungsrecht der Frau und Mutter auch gegen Männer als die am Entstehen des Kindes auch nicht unbedeutend Beteiligten verteidigt werden muss – weil sie mehrheitlich das Kind nicht wollen – oder auch gegen Mütter, Schwiegermütter, Verwandte usw. scheint sich zu den Koalitionspartner noch nicht durchgesprochen zu haben. Es ist eine einseitige feministische Sichtweite und Sichtweise.

Das ist aber nicht nur hier so.

Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen UNFPA „fördert eine Welt, in der jede Schwangerschaft gewollt, jede Geburt sicher und das Potenzial jedes jungen Menschen verwirklicht wird“, so heißt es in der Selbstdarstellung zum „Weltbevölkerungsbericht 2022“, der zusammen mit der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung herausgegeben wurde UNFPA-Weltbevoelkerungsbricht_2022.pdf (dsw.org). Der spannende Titel „Die Krise der unbeabsichtigten Schwangerschaften“ weckte mein Interesse. 60% der unbeabsichtigten Schwangerschaften enden wohl mit der Tötung des Kindes, also jene eingangs erwähnten 73 Millionen jährlich. Dieser verheerenden Bilanz wird nicht das Nein zur Abtreibung entgegengesetzt sondern mehr Aufklärung, Verhütung und die „Notwendigkeit“ medizinisch sicherer Schwangerschaftsabbrüche. Dazu passen dann auch diese Entdeckungen bei der Lektüre:

- Der Wert von Kinder kommt nahezu nicht vor. Die Erkenntnis, dass Kinder die natürlichste Folge geschlechtlicher Gemeinschaft zwischen Frau und Mann sind und die nachhaltigste, spielt keine Rolle.

- Vom Recht des Kindes auf Leben findet man nichts. Darum auch nichts vom Unrecht, einem Kind vor der Geburt das Leben zu nehmen. Schwangerschaftsabbrüche werden unter dem schön klingenden Begriff der „reproduktiven Rechte“ verharmlost. Das ist eine Verabschiedung vom Recht und von der Menschenwürde.

- Der ganze Bericht ist durchzogen von den Begriffen Gleichheit und Selbstbestimmung. Sie wird aber jenen Menschen verweigert, die noch nicht das Licht der Welt erblickt haben.

- Alles steht unter dem Vorzeichen der Planbarkeit. Wenn es nur noch geplante Kinder geben soll, ist das ein großer Verlust. Denn keiner von uns hat sich doch selbst geplant. Kinder als Gabe, als Geschenk, als Frucht des eigenen Lebens? Fehlanzeige!

- Dass man Verhütungskosten sogar im Sinne einer Kosten-/Nutzenanalyse wertet, weil sie "billiger" sind als Schwangerschaft, Geburt, Kinder etc. zeigt die Ökonomisierung einer Plan-Gesellschaft, die humanes nicht richtig einschätzen kann und will.

- Zu Recht wird Gewalt gegen Frauen als inakzeptabel benannt. Auch der Zwang zum Sex hat keine Berechtigung. Dass aber eine große Zahl von Schwangeren von den gleichen Männern und anderen Personen des Umfelds zur Abtreibung gezwungen werden - Fehlanzeige!

- Negative Folgen der Abtreibung für die Frauen – Fehlanzeige!

- Die Geburt von Kindern kann für Frauen das Armutsrisiko erhöhen. Darum aber auf Kinder zu verzichten, sie gegebenenfalls auch um ihr Lebensrecht zu bringen, darf doch keine Lösung sein. Von der Stiftung Weltbevölkerung könnte man doch erwarten, Alternativen aufzuzeigen, z.B. die Anerkennung des Mutterseins als Beruf. Dem könnte mit materieller, ideeller und sozialrechtlicher Hilfe Nachdruck verliehen werden. Im Bericht gibt es dazu leider keine Ansatzpunkte.

Ich komme zurück zum Koalitionsvertrag, in dem es heißt: „Wir stellen Versorgungssicherheit her“. Das könnte ja heißen, dass man sicherstellt, dass jede Schwangere eine gute Begleitung erfährt, eine Hebamme zur Verfügung gestellt bekommt und nicht schon bei der Suche in Panik gerät, weil es schlicht weg zu wenige gibt. Versorgungssicherheit bräuchten wir, das haben wir ja eindrücklich gehört. Ich fürchte, dass das nicht gemeint ist, weil gleich der nächste Satz zeigt, worauf der Schwerpunkt liegt. „Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung sein. Die Möglichkeit zu kostenfreien Schwangerschaftsabbrüchen gehören zu einer verlässlichen Gesundheitsversorgung. Sogenannten Gehsteigbelästigungen von Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern setzen wir wirksame gesetzliche Maßnahmen entgegen.“ Wenigstens in diesem Zusammenhang gibt es dann das Wort Abtreibung. Trotz der erfreulichen Urteile von Frankfurt, die vor kurzem das Verbot solcher „Gehsteiggespräche“ (hier gleich mit dem abwertenden Satz der Belästigungen belegt) als gesetzeswidrig bezeichnet haben, werden wir uns darauf einstellen müssen, dass die Regierung alles tut, um solches möglichst zu verhindern. Die freie Selbstbestimmung soll offenbar daran hindern, sich auch einer anderen Meinung auszusetzen. Die so gepriesene Informationsfreiheit und Werbung für Abtreibung darf sein – das Gegenteil nicht. Gibt es Meinungsfreiheit bald nur noch für diejenigen, die auf der „richtigen Seite“ stehen?

Die Regierung will die „flächendeckende Versorgung mit Beratungseinrichtungen“ sicherstellen, wobei das „Erfolgskonzept“ in der Pandemiezeit beibehalten werden soll: „Schwangerschaftskonfliktberatung wird auch künftig online möglich sein“. Gibt es denn ernstzunehmendere Konflikte als die Fragen um Leben und Tod? Das soll auch online möglich sein und bleiben? Ich musste mir, weil ich schon so alt bin, einen neuen Führerschein geben lassen – vielleicht manche von Ihnen auch. Das war im Provinzstädtchen Stuttgart nicht online möglich. Da muss man schon persönlich erscheinen. Man muss natürlich auch für den ungewollten befohlenen Umtausch aber auch noch bezahlen. Aber wenn es um Tod und Leben geht ist persönliches Erscheinen nicht mehr wichtig?

Auch wenn wir ja online kräftig aufgerüstet haben und wir zoomen gelernt haben – ist es nicht sarkastisch, solche Dinge dann auf Distanz erledigen zu können? Wie kann sich denn ein Berater ein zutreffendes Bild von der Persönlichkeit machen, wenn man nur den Bildausschnitt des Computers sieht oder nur schriftlich, online, korrespondiert? Wie kann man sich da von der freien Selbstbestimmung überzeugen? Oder geht es zunächst eben doch einfach nur darum die Scheinberatung für den Beratungssein aufrecht zu erhalten, bis man das dann insgesamt abgestellt hat?

Dass nicht alles aus den Wahlprogrammen der die Regierung tragenden Parteien schon in den Koalitionsvertrag einging, ist erfreulich, zeigt aber auch, was da noch alles in der Hinterhand ist und jetzt eben durch einige Schritte vorbereitet werden soll. Die SPD will z.B. alle Krankenhäuser, die auch öffentliche Mittel erhalten, zur Durchführung von Abtreibungen verpflichten. Und sie hat festgelegt: „Schwangerschaftskonflikte gehören nicht ins Strafgesetzbuch.“ Hier muss man schon auch den Kontext des Koalitionsvertrags noch bedenken: Während der Kinderschutz aus dem Strafrecht raus soll, weil das angeblich dafür nicht tauglich ist. Es heißt dort: „Wir überführen Teile des Tierschutzrechts in das Strafrecht und erhöhen das maximale Strafrecht.“

4.    Verhinderung ungeborener Kinder

Ich bin ja schon lange der Auffassung, dass das Wort Geburtenplanung eigentlich nicht richtig ist. Es geht um Geburtenverhinderungsplanung. Offenbar hat auch die neue Bundesregierung kein Ziel, dass Kinder geboren werden, aber sehr wohl, dass sexuelle Gemeinschaften geübt werden können ohne die natürliche Frucht der Sexualität, das Kind, befürchten zu müssen. Zitat: „Wir wollen Krankenkassen ermöglichen, Verhütungsmittel als Satzungsleistung zu erstatten. Bei Geringverdienenden werden die Kosten übernommen. Wir wollen die Forschungsförderung für Verhütungsmittel für alle Geschlechter anheben“. Ich will nicht die Diskussion über Verhütung aufmachen. Die ist ja nicht unser Thema. Aber dass wir als ganzes Volk die Verhütungsmittel finanzieren sollen für Menschen, die Sex wollen aber keine Kinder, vermag ich nicht einzusehen. Und wenn die Prüfung der Bedürftigkeit dann so ausfällt wie bei Übernahme der Abtreibungskosten – darf ich das etwas ungehobelt sagen – dann wird hier geradezu statt Vergnügungssteuer ein Vergnügungsbonus bezahlt. Und ist das wirklich ein Problem in Deutschland, dass zu viele Kinder geboren werden? Was das Ganze dann mit den Krankenkassen zu tun haben soll, erschließt sich mir auch nicht. Das klingt ja so, als ob die kostenlose Vergabe von Verhütungsmitteln eine Gesundheitsvorsorge wäre. Das ist jedenfalls weder ein Programm für Natürlichkeit noch für Nachhaltigkeit. Denn Natürlicheres als Kinder gibt es nicht. Und Nachhaltigeres kann man nicht bewirken als Kinder zu zeugen und zu erziehen und zu begleiten.

Irmela Hoffmann: Ich arbeite in der wichtigsten Werkstatt des Atomzeitalters (heute vielleicht besser des Nachhaltigkeitszeitalters), wo die Zukunft Gestalt gewinnt und die Gegenwart ihren Gehalt gewinnt: Ich bin Hausfrau und Mutter von drei Kindern.

5.    Schutz am Ende des Lebens

Bei aller unterschiedlichen Sichtweise, die wir wahrscheinlich unter uns im Blick auf die Corona-Pandemie und die hinter und die vor uns liegenden Maßnahmen haben: Ich nehme fast an, dass wir uns darin einig sind, dass der Umgang mit Alten, Pflegebedürftigen und Sterbenden falsch war und da und dort noch ist. Sterbende ohne Begleitung sterben zu lassen, Angehörigen den Zutritt zu sterbenden Eltern zu verwehren, das würdige Abschiednehmen zu nehmen, Demente von sozialen Kontakten zu isolieren – man könnte noch vieles anfügen! Das geht überhaupt nicht! Die Sorge um die Hygiene und die Gesundheit darf uns doch nicht den würdigen Umgang mit Menschen behindern.

Es ist ja immer spannend, was gesagt und was geschrieben wird, aber auch, was nicht gesagt wird. Zum Umgang mit Kranken, Alten, Pflegebedürftigen, Sterbenden findet der Koalitionsvertrag kein Wort, auch wenn 18-mal von Corona die Rede ist. Palliativmedizin kommt im Koalitionsvertrag des Fortschritts nicht vor. Das Wort Hospiz auch nicht. Der Wortstamm „sterbe“, also vielleicht im Blick auf Sterbegleitung oder Betreuung von Sterbenden kommt nur vor im Blick auf „Sterbehilfe“ als „Hilfe zum Suizid“ – dazu gleich – und als „Artensterben“ im Blick auf den tierischen Teil der Vegetation. Dass die Gefahr des „sozialverträglichen Sterbens“ bestünde, würdiges Sterben, Tod? Alles keine Themen. Und damit ist es doch gewiss angesichts anderer beschriebener Herausforderungen eine große Gefährdungen, dass die Fürsorge für die Menschen am Ende des Lebens auch tatsächlich nicht mehr wichtig genommen wird, nur noch ein Randthema ist oder ganz ausfällt.

6.    Beihilfe zur Selbsttötung

Hierzu sagt der Koalitionsvertrag nichts aus, außer dass eine zeitnahe Lösung begrüßt wird. Denn das Bundesverfassungsgericht hatte ja im Februar 2020 das meines Erachtens unsägliche Urteil gesprochen, dass die vorgesehenen Beschränkungen bei der Beihilfe zur Selbsttötungen verfassungswidrig seien. Jeder Mensch habe das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen und wenn er dazu Hilfe brauche, dürfe sie ihm nicht verweigert werden. Was das dann neu gewählte Parlament mit dieser gesetzlichen Baustelle macht, ist noch offen. Verschiedene Gesetzesvorschläge liegen vor. Aus Zeitgründen will ich darauf nicht näher eingehen aber deutlich sagen, dass ich keinen der vorliegenden Gesetzesentwürfe für ausreichend halte. Dabei will ich einen Aspekt betonen: Auch in dem aufgehobenen Gesetz war nur die geschäftsmäßige Hilfe zur Selbsttötung verboten worden. Ich bin der Meinung, es müsste jede Beihilfe verboten werden, auch z.B. die bewusst nicht verbotene im privaten Umfeld. Denn ist nicht die Gewalt im häuslichen Umfeld die weit verbreitetste Gewalt? Nach statistischen Angaben leiden schon etwa 10 % der Alten und Pflegebedürftigen unter Gewalt von Angehörigen. Wenn die „Hilfe“ zur Selbsttötung nicht grundsätzlich verboten ist – wie soll man dies dann von der Tötung auf Verlangen unterscheiden und von Totschlag und Mord? Was wird geschehen wenn künftig ein 90-Jähriger zu Hause stirbt und dem Arzt bei der Feststellung des Todes doch auch gewisse Zweifel kommen, ob da nicht ein wenig nachgeholfen wurde? Wird noch die Polizei bzw. der Staatsanwalt eingeschaltet oder lässt man es eben privat geschehen sein?

7.    Fortpflanzungsmedizin

Das 1990 in einer Sternstunde des Deutschen Bundestags von ihm einstimmig verabschiedete phantastische Embryonenschutzgesetz ist leider schon ein paarmal aufgeweicht worden, etwa bei der Frage der Stammzellforschung und der Präimplantationsdiagnostik. Vielen ist dieses echte Schutzgesetz schon lange ein Dorn im Auge. Aber jetzt soll der Angriff gestartet werden. Denn alle die Fragen der Lebensethik, die man nun verständlicherweise noch nicht in einer Koalitionsvereinbarung präzise genug formulieren konnte und wollte – vielleicht auch noch nicht zu viel Angriffspunkte schaffen – die sollen erstmal von einer Kommission bedacht werden. Irgendwie greifen solche „Expertenräte“ ja um sich, sodass man durchaus den Eindruck haben kann, dass die Demokratie durch eine Expertokratie abgelöst werden könnte – ähnliche Begriffe wie Aristrokratie sind rein zufällig. Im Ernst: Der britische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch hat die politische Gestaltung unserer Zeit als „post-demokratisch“ beschrieben. Ziele und ihre Durchsetzung werden nicht mehr generell durch die dafür gewählten und benannten Gremien und ihre Mitglieder bestimmt sondern durch sogenannte „Experten“, Interessengruppen, übernationaler und überstaatlicher Natur. Wer genauer die Entwicklungen verfolgt, wird das rasch erkennen. Ich nenne nur Gender (auf der Weltfrauenkonferenz 1995 unter teils mysteriösen Umständen auf Weltebene wirksam eingebracht), Corona („Wir müssen auf die Wissenschaft hören“ – gemeint sind aber nur die Wissenschaftler, die man sich selbst auswählte), Klima (einige „Experten“ meinen, sie könnten das Weltklima durch ein paar partikulare Maßnahmen beeinflussen).

Also, auch jetzt soll solch eine Kommission gebildet werden, die die Fragen rund um die Fortpflanzungsmedizin vorbereitet. Ich nenne die schon bekannten Absichten:

- „Künstliche Befruchtung wird diskriminierungsfrei auch bei heterologer Insemination, unabhängig von medizinischer Indikation, Familienstand und sexueller Identität förderfähig sein“. Also grundsätzlich, ich sage es mal: Kreuz und quer. Wer immer will, darf sich künstlich befruchten lassen und Befruchter sein.

- Embryospenden sollen legalisiert werden. Eigentlich folgerichtig: Wenn man den Embryo nur als Teil der Mutter ansieht – „mein Bauch gehört mir“ – dann kann man ihn natürlich auch Spenden wie andere Organe. Wenn ich ihn nicht brauche, gebe ich ihn doch gerne ab.

-    Auswahl von Embryonen soll freigegeben werden (bisher durften ja nur so viele Embryonen hergestellt werden wie dann auch zur Austragung der Schwangerschaft in die Frau implantiert werden sollten)

- Miet-Mutterschaft soll geprüft werden

„Das Ziel hier ist offensichtlich: Endgültige Legalisierung der Kindestötung im Mutterleib! Einerseits also Kinder im Mutterleib töten, andererseits Kinder „machen“ mittels Single Embryonentransfer, Leihmutterschaft, Embryonen,- Eizell- und Samenspende“.

8.    Internationales Engagement

„Wir stärken die Rechte, Repräsentanz und Ressourcen von Frauen, Mädchen und marginalisierter Gruppen wie LSBTI. Die gleichberechtigte politische, wirtschaftliche und soziale Teilhabe, die Stärkung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte von Frauen und Mädchen sowie der uneingeschränkte Zugang zu gleichwertiger Bildung und Gesundheitsversorgung sind für uns zentral.“
 
Von den Befürwortern von Abtreibungen wird ja die sogenannte sexuelle Selbstbestimmung für Frauen ins Feld geführt. Man spricht dann von reproduktiver Gesundheitsvorsorge. Das klingt besser und verstehen nur noch Experten. Auch die WHO und das Europäische Parlament fordern diese, die dann auch den Zugang zur sogenannten sicheren Abtreibung beinhaltet.

Wir Lebensschützer – man nennt uns ja meist in der Öffentlichkeit „selbsternannte Lebensschützer“ (haben Sie diesen Zusatz schon mal bei den Klimaaktivisten oder den LSBTTIQ-Lobbyisten gehört?) – sehen der Zukunft des Lebensrechts in Deutschland in der Tat mit großer Sorge entgegen.

Die Würde des Menschen ist angetastet – am Anfang und am Ende. Wir haben das Sterben vor der Geburt „privatisiert“, in der Praxis durch eine „Schein-Legitimation“ der tatsächlichen staatlichen Kontrolle bewusst entzogen. Und gleiches droht nun auch am Lebensende. Wir dürfen das Sterben am Ende des Lebens nicht in die private Verfügungsgewalt stellen. Denn unter den vorliegenden Entwürfen für die Regelungen der Selbsttötungsbeihilfe ist natürlich das Modell enthalten, Beratungsstellen zu schaffen, die man zuerst aufsuchen muss, bevor man dann die Genehmigung zur Selbsttötung bekommt bzw. jene Beihilfe dazu leisten dürfen, die das tun. „Fortschritt wagen“? Heißt das, dass wir das lebensverneinende Modell der Schwangerschaftskonfliktscheinberatung übernehmen wollen für die Selbsttötungskonfliktberatung? Es wäre verheerend.

Ich spitze das noch mal zu: Solche Konzepte sind eigentlich nichts anderes wie eine „Rechtswäsche“. Von der Geldwäsche haben Sie ja schon gehört. Eine „Rechtswäsche“ ist, wenn man durch eine Beratung aus offensichtlichem Unrecht straflos herauskommt oder gar den Anschein des Rechts bekommt. Vor der Beratung ist die Abtreibung als Tötungsdelikt feststehend. Dann geht man rein. Lässt sich beraten und holt einen Schein. Und dann ist alles scheinbar korrekt. Aus meiner Sicht ist das die Verabschiedung vom Rechtsstaat. Freilich: Auf diesem Weg sind wir schon. Wir stehen vor dem Abgrund. Da möchte ich keinen einzigen Schritt mehr weitergehen, auch wenn ich zu diesem Fortschritt durch ein Regierungsprogramm ermutigt werde.

Gott ist der Herr des Lebens! Er gibt das Leben und er nimmt es auch. Und eine Gesellschaft ist gut beraten, wenn sie die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens in allen Phasen des Lebens achtet und beschützt.

Hartmut Steeb (siehe Link) ist landeskirchlich-evangelischer Christ. Der Vater von 10 Kindern war bis zu seiner Pensionierung der Generalsekretär der Deutschen Evangelischen Allianz und ist stellvertr. Vorsitzender des Bundesverbands Lebensrecht.

Archivfoto Hartmut Steeb (c) idea


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