John Henry Newman – eine ökumenische Konversion

23. Juni 2022 in Kommentar


„Warum widersetzte sich Newman einem Ökumenismus auf der Basis eines Relativismus und Skeptizismus?“ Von Gerhard Card. Müller


Oxford (kath.net/pl) kath.net dokumentiert den Vortrag von Kardinal Gerhard L. Müller in Oxford/Pusey House am 15.6.2022 in voller Länge und dankt S.E. für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung - Kardinal Newman (1801-1890) wurde 2010 von Papst Benedikt XVI. selig- und 2019 von Papst Franziskus heiliggesprochen.

Am 21. Februar 1801 wurde in der City of London John Henry Newman geboren, der zu Recht als einer der bedeutendsten christlichen Denker der Neuzeit gilt. Sein Lebensweg umspannt fast das gesamte 19. Jahrhundert. Der anglikanische Geistliche und berühmte Führer der Oxfordbewegung, der im Jahr 1845 in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche aufgenommen wurde, starb am 11. August 1890 als Kardinal im Oratorium von Birmingham, seiner wichtigsten Wirkungsstätte seit 1849.

Seine historischen, theologischen und geistlichen Werke sind gleichermaßen bemerkenswert. Die meisten der Predigten sind in deutscher Ausgabe erschienen, darunter viele mit tiefgründiger Auslegung der zentralen Mysterien des Christentums. Berühmtheit erlangte er mit seinem „Entwurf einer Zustimmungslehre“, d. h. einer Antwort auf die Frage, wie man bei aller Endlichkeit menschlicher Erkenntnis doch zur Gewissheit der Glaubenszustimmung zu der geschichtlich ergangenen Offenbarung Gottes gelangen kann.

Geradezu genial kann man sein Werk über die „Entwicklung der Glaubenslehre“ nennen. Darin hatte er die Prinzipien der geschichtlichen Kontinuität und Identität der Offenbarung entwickelt unter den Bedingungen endlicher menschlicher Erkenntnis im Glaubenssubjekt Kirche, die von Christus begründet und vom Heiligen Geist in der Wahrheit erhalten und immer tiefer in sie eingeführt wird. Für die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um Wesen und Ziel von Universität, Bildung und Wissenschaft und die Legitimität von offenbarungsgebundener Theologie an öffentlichen Lehranstalten dürften seine Vorträge zum Wesen der Universität, die er 1851 anlässlich der Gründung der Katholischen Universität von Dublin gehalten hatte, von höchster Aktualität sein.

Für seine geistige Biographie entscheidend ist seine Apologia pro Vita sua , in der er die „Geschichte seiner religiösen Überzeugungen“ darstellt und sich gegenüber dem Vorwurf verteidigt, die Motive seiner Konversion seien unaufrichtig. Mit diesem auch in glanzvollem Englisch verfassten literarischen Meisterwerk, das man mit den Confessiones des heiligen Augustinus und den Pensées des Blaise Pascal auf eine Ebene stellen kann, hat er in dem seit der Reformation von antikatholischer Polemik geprägten protestantischen England auch die Ehre der katholischen Geistlichkeit wiederhergestellt. Man war damals noch, bestärkt durch die aufklärerische Polemik aus dem Frankreich des 18. Jahrhunderts, felsenfest davon überzeugt, dass katholische Priester und Ordensleute nichts anders seien als üble Heuchler und skrupellose Agenten des Antichrist auf dem römischen Papststuhl, denen jedes Mittel recht ist, um ihren Machthunger zu stillen. Man lebte und pflegte die Vorurteile von der wissenschafts- und fortschrittsfeindlichen katholischen Kirche und sah im römischen Universalismus den Hauptfeind des Nationalstaatsgedankens mit seinen imperialistischen und kolonialistischen Zielen. Die Kirche konnte man in diesem Kontext nur als englische Staatskirche dulden, und die anglikanischen Bischöfe ließen sich bereitwillig in den Dienst eines nationalistisch verengten Christentums nehmen.

Die Vielheit christlicher Gemeinschaften und die sichtbare Einheit der katholischen Kirche

Nach seinem eignen Zeugnis konnte sich Newman, der anerkannte Gelehrte und gefeierte Universitätsprediger in Oxford, der Einsicht nicht mehr verschließen, dass die in England so verachtete katholische Kirche des römischen Papstes und nicht die erst seit dem 16. Jahrhundert existierende anglikanische Staatskirche in wirklicher Kontinuität mit der Kirche der Apostel steht, nachdem ihm die biblische und historische Haltlosigkeit des protestantischen Ur-Dogmas vom Papst als Antichrist aufgegangen war. Mit seiner ausgezeichneten Kenntnis der Bibel und der Kirchenväter konnte ihm nicht entgehen, dass die katholische Kirche sich in voller Kontinuität der Glaubenslehre und der Kirchenverfassung mit der Kirche des apostolischen Anfangs befindet und dass die protestantischen Vorwürfe einer Verderbnis des apostolischen Glaubens oder einer Anreicherung mit unbiblischen Lehrelementen auf diese selbst zurückfällt. In seiner Apologia (4. Kap.) schreibt er: „Wenn ich mich nicht irre, ist mein Hauptgrund, warum ich einen Übertritt ins Auge fasse, die tiefe, unwandelbare Überzeugung, dass unsere Kirche sich im Schisma befindet und dass mein Heil von der Vereinigung mit der römischen Kirche abhängt.“

Es ist das gleiche Kirchenverständnis, das auch im Zweiten Vatikanischen Konzil als Bekenntnis des Glaubens zum Ausdruck kam. Die meist falsch interpretierte, weil (von vielen absichtlich) nicht gelesene Erklärung „Dominus Iesus“ der Kongregation für die Glaubenslehre vom 6. August 2000 sagt das Gleiche. Newman hatte mit guten Gründen die Theorie abgelehnt, wonach die anglikanische Kirche einen Mittelweg gehe zwischen Katholizismus und Protestantismus und dass man sich mit der Spaltung der Christenheit pragmatisch abfinden könne mit der Vorstellung, es handle sich um mehrere Zweige an dem einen Baum der Kirche. Man kann aber die Mehrzahl der existierenden Gemeinschaften nicht als Teilverwirklichungen der einen Kirche Christi ausgeben, weil die Kirche Christi unteilbar ist und diese Unteilbarkeit, die sich in der sichtbaren Gestalt ihrer Einheit im Glauben, dem sakramentalen Leben und der apostolischen Verfassung ausdrückt, unverfügbar zu ihrem Wesen gehört. Das Ziel der ökumenischen Bewegung ist demgemäß nicht eine von Menschen gemachte Fusion kirchlicher Teilverbände, sondern die Wiederherstellung der vollen Communio im Glauben und der Bischöfe als Nachfolger der Apostel, wie sie seit Anfang an und kontinuierlich geschichtlich realisiert ist in der Kirche, die „vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in der Gemeinschaft mit ihm geleitet werden“ (Dominus Iesus, 17).

Warum widersetzte sich Newman einem Ökumenismus auf der Basis eines Relativismus und Skeptizismus? Warum gab er sich nicht mit der Formel zufrieden „Wir glauben doch alle an denselben Gott, und darum kommt es auf die kirchliche Lehre nicht an. Wir wissen doch nichts genaues. Religion ist Gefühlssache, und darum entscheidet über den Weg der Kirche die Mehrheit derer, die gleiche Empfindungen haben. Für die ökumenische Einheit genügt ein bloßes Gemeinschaftsgefühl und eine sentimentale Beziehung zu ‚Jesus‘, um dann nach Mehrheitsgeschmack die Einheit zu machen. Wenn man sich eins fühlt, kann man auch gemeinsam ein eucharistisches Gemeindemahl feiern, auch wenn die verbindliche Lehre der Kirche oder der von ihr getrennten christlichen Gemeinschaften das Gegenteil lehren und die Anerkennung dieser Lehren für heilsrelevant ausgeben?“

Newman glaubt an die Realität Gottes und die Tatsache seiner geschichtlichen Selbstoffenbarung in Jesus Christus und seiner aktuellen Gegenwart in der Kirche, die in ihren wesentlichen Aufbauelementen und der apostolischen Autorität ihrer Hirten vom Geist Gottes geleitet wird.

Wer die Inkarnation ernst nimmt, muss auch die Kirche als Werk Gottes ernst nehmen und sich vor jeder Manipulation von ideologisch verbohrten Pressure Groups in Acht nehmen.

Die sichtbare Kirche ist die Konkretisierung der Fleisch gewordenen Gegenwart des Wortes Gottes in Jesus Christus. Weil es die Heilsgeschichte Israels gibt, weil sich die Inkarnation ereignet hat, weil Christus zum Heil der Welt am Kreuz sein Leben wirklich dahingegeben hat und er wirklich auferstanden ist, darum gibt es auch die konkrete Verpflichtung zum Glaubensgehorsam gegenüber der Offenbarung, die sich vergegenwärtigt im Bekenntnis des Glaubens, in der Heilszusage in den Sakramenten und der kirchlichen Autorität gegenüber den Nachfolgern der Apostel im Bischofsamt. Im Koordinatennetz dieses Bekenntnisses will Newman verstanden werden.

Die verbreitete Sichtweise, dass eine christliche Konfession wie die andere sei und sich das wahre Christentum allein in der Innerlichkeit des Herzens jenseits von Credo, Dogma, Sakrament und kirchlicher Lehrautorität abspielt, erscheint zwar einer großen Zahl von Christen heute plausibel, ist aber angesichts der Aussagen der Heiligen Schrift über Offenbarung und Kirche unhaltbar. Weil die sichtbare sakramentale Kirche und die unsichtbare Gemeinschaft der Glaubenden unlösbar zusammengehören, musste Newman die Frage stellen, welche unter den jetzt gegebenen empirischen christlichen Gemeinschaften zu Recht den Anspruch auf die Identität des Glaubensbekenntnisses und die geschichtliche Kontinuität erheben kann. Er verstand seine Konversion nicht als einen Wechsel von einer christlichen Konfession zu einer anderen. Auch hatte er sich zu diesem Schritt nicht entschlossen, weil ihn womöglich die katholische Frömmigkeit gefühlsmäßig mehr angesprochen oder ihm eine katholische Kultur romanischer Prägung mehr behagt hätte. Im Gegenteil! Das äußere Erscheinungsbild der katholischen Kirche hätte ihn eher sogar abstoßen müssen. Er ging den Schritt, weil er im Glauben und Gewissen die volle Identität der Kirche Christi mit der sichtbaren katholischen Kirche erkannte. Das war kein Affront gegen die anglikanische Kirche. Seine Konversion ist nicht für die einen Anlass zur Trauer und für die anderen zu einem Triumphgefühl. Newman gehört der ganzen Christenheit! Er ist einer der eindrucksvollsten Zeugen für die sichtbare Einheit der Kirche, die Jesus selbst gewollt hat und die darum einen unverrückbaren Maßstab christlicher Identität bildet (Joh 17,22 ff.).


Newman – Apologet des Christentums als Offenbarungsreligion

Newman lebte im 19. Jahrhundert, das die wesentlichen Fragen formulierte, die auch für das 20. Jahrhundert bestimmend waren und weit in das 21. Jahrhundert hineinwirken werden. Es geht um die grundlegende Herausforderung, die von der Popularphilosophie der Aufklärung formuliert wurde.

Es geht um das Existenzrecht des Christentums und die Verantwortung der geschichtlichen Offenbarung als Wahrheit und Tatsache vor der menschlichen Vernunft. In der Religionskritik von Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud, der scheinbaren Überwindung des Offenbarungsglaubens durch die moderne Wissenschaft und der massiven Kirchenfeindschaft der totalitären Regimes Hitlers und Stalins geht es immer um die eine Frage, ob Gott existiert und ob sein Wort das Maß für unseren Glauben und unser Gewissen sein darf.

In seiner berühmten Rede bei seiner Kardinalserhebung (1879) stellt Newman die beiden möglichen Grundhaltungen gegenüber der Offenbarung heraus. Die eine nennt er die liberal-skeptische Haltung des Agnostizismus und Atheismus, die andere nennt er die dogmatische Haltung, d. h. die grundsätzliche Bereitschaft zum Glaubensgehorsam gegenüber dem Wort Gottes, das im Menschenwort des Bekenntnisses der Kirche vergegenwärtigt wird: „Liberalismus in der Religion ist die Lehre, dass es in der Religion keine positive Wahrheit gibt, sondern, dass ein Bekenntnis so gut ist wie das andere, und dies ist die Lehre, die Tag für Tag an Einfluss und Macht gewinnt. Sie ist unvereinbar mit irgendeiner Religion als wahr. Sie lehrt, alles müsste toleriert werden, denn alles sei schließlich eine Sache der persönlichen Ansicht. Geoffenbarte Religion ist keine Wahrheit, sondern eine Sache des Gefühls und des Geschmacks, sie ist kein objektives Faktum, gehört in den Bereich des Wunderbaren. Jeder hat darüber hinaus das Recht, ihr die Aussagen zuzuschreiben, die ihm gerade an ihr gefallen“. Das dogmatische Denken ist dem entgegengesetzt. Es anerkennt die Tatsache des Offenbarungswortes Gottes, das in Jesus Christus den Menschen angesprochen hat. Im Unterschied zu einer bloß gefühlshaften Wahrnehmung einer unpersönlichen Präsenz des Göttlichen ist das Fleisch gewordene Wort Gottes vernünftig und klar aussagbar. Das belegt das Glaubensbekenntnis der Kirche. In den sakramentalen Handlungen der Kirche, die ihr Christus aufgetragen hat, ist das Fleisch gewordene Wort zudem gegenwärtig.

Bei dieser Gegenüberstellung der beiden möglichen Grundhaltungen des neuzeitlichen Menschen gegenüber der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus kommt es selbstverständlich nicht auf die Begriffe „liberal“ und „dogmatisch“ an, sondern auf die Sache, die mit ihnen bezeichnet werden soll.

Newman zielte nicht auf den politischen Liberalismus. Er erkannte durchaus die humane Gesinnung vieler seiner Vertreter an. Es blieb nach dem Ende der europäischen Konfessionskriege und den Verwüstungen, die die Französische Revolution und die Expansionskriege Napoleons über die Welt gebracht hatten, nichts anderes übrig, als die Gesellschaft auf den Prinzipien der Religionsfreiheit, der Toleranz und der Gleichheit aller vor dem Gesetz neu zu organisieren. Wenn die Religion daher dem Wahrheitsgewissen des Einzelnen anvertraut war, war sie aber deswegen noch lange nicht Privatsache oder etwas Beliebiges geworden. Im Gegenteil, die Herausforderung an den Einzelnen, die Wahrheit zu suchen und sich ihrer verpflichtenden Kraft zu stellen, hatte sich enorm gesteigert gegenüber den Zeiten, als die europäischen Herrscher die Religion ihrer Untertanen noch bestimmen konnten. Zur modernen Religionsfreiheit gehört freilich nicht nur das Recht des Einzelnen gegenüber den Herrschaftsansprüchen des Staates und dem Anpassungsdruck der Gesellschaft. Entscheidend für die volle Verwirklichung dieses Grundrechtes ist auch die Gemeinschaftsdimension der Wahrheitsfrage.

Jede Religionsgemeinschaft muss selbst bestimmen dürfen, was die verbindlichen, d. h. dogmatischen Elemente ihrer Verfassung und die rational ausweisbaren Grundbedingungen ihrer Gültigkeit sind und was nicht.

An diesem Punkt tritt der neuzeitliche Konflikt zwischen Glauben und Unglauben auf. Der Liberalismus beansprucht die Totalität und Ausschließlichkeit seiner Geltung, und zwar im Gegensatz zu seinen eigenen Prinzipien. Die Großzügigkeit und angebliche Weite gegenüber allen Glaubensrichtungen ist oft nur eine militante Gleichgültigkeit gegenüber dem Glaubensanspruch des Wortes Gottes. Der Liberalismus, wie er von Newman kritisiert wird, ist eine andere Form des Rationalismus: „Liberalismus ist daher der Missbrauch, jene geoffenbarten Lehren, die ihrer Natur nach über dem menschlichen Urteil stehen und von ihm unabhängig sind, diesem zu unterwerfen und den Anspruch zu erheben, die Wahrheit und Gültigkeit der Lehrsätze, die sich für ihre Annahme einfach auf die äußere Autorität des göttlichen Wortes stützen, aus inneren Gründen zu bestimmen“ (Apologia, S. 327). Der Liberalismus behauptet die alleinige Gültigkeit des metaphysischen Skeptizismus, obwohl unter den Voraussetzungen des Liberalismus metaphysisch gültige und zweifelsfreie Aussagen nicht möglich sind. Er wendet sich gegen das Freiheitsrecht der Religionsgemeinschaften, den Wahrheitsgehalt und Wirklichkeitshorizont ihres Bekenntnisses nach den eigenen metaphysischen und erkenntnistheoretischen Prinzipien bestimmen zu können. Im Widerspruch zu dieser Art von Liberalismus ist die vernunftgemäße Begründung des Glaubensaktes und der Glaubensinhalte zum Lebensthema Newmans geworden.

Auch hier ist Newman von bestechender Aktualität. Die Erklärung „Dominus Iesus“ hat die so genannte Pluralistische Religionstheorie als unvereinbar mit den Grundlagen und Inhalten des katholischen Glaubens zurückgewiesen, die auf eine Relativierung Christi und der Kirche hinausläuft. Diese Theorie von der Gleichrangigkeit und Gleichartigkeit von mehreren Vermittlungsformen und Vermittlern fußt auf einem erkenntnistheoretischen Relativismus und Skeptizismus. Man geht davon aus, dass jeder Mensch mit Hilfe seiner angestammten Religion und Kultur seine Egozentrik überwinden kann, um sich auf den Mitmenschen einzulassen und sich für die Wirklichkeit zu öffnen, die immer größer ist als alles, was wir in unserer Endlichkeit denken und tun können. Dies sei das Heil, das sich jedem religiös gesinnten Menschen mitteile, gleichgültig ob er sich vor dem sich immer entziehenden Horizont der Wirklichkeit Gott als persönlichen Gott oder als a-personales Numinosum vorstellt oder ob er nach dem Tod eine persönliche Auferstehung erwarte oder die leibliche Wiederkehr in Tierkörpern oder als Einheit mit dem Ein und All des Seins oder Nichts außerhalb jedes persönlichen Bewusstseins.

Für Newman war klar, dass das christliche Bekenntnis zum allgemeinen Heilswillen des einen Gottes und zur Einzigkeit der Heilsmittlerschaft Christi Jesu (vgl. 1 Tim 2,4 f.) nicht eine Abwertung der vorchristlichen Religionen mittels der Verabsolutierung einer Einzeltradition des christlichen Abendlandes ist. Wer das Grunddogma der Relativisten und metaphysischen Skeptiker und Agnostiker, wonach eine geschichtliche Selbstoffenbarung Gottes nicht möglich sei, als unbewiesen und unbeweisbar entlarvt, der wird auch bekennen, dass Gott in der Wahrheitssuche und dem Heilsverlangen der Menschen in allen Religionen schon am Werke ist, damit in Jesus Christus „alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4).

Für Newman ist darum das Christentum die Religion der Zukunft, weil Gott, der ein für alle Mal in seinem Fleisch gewordenen Wort in unserer Welt Wohnung genommen hat, auch die Zukunft der Menschheit ist. „Die Offenbarung beginnt dort, wo die natürliche Religion versagt. Die Naturreligion ist ein bloßer unfertiger Anfangszustand und bedarf einer Ergänzung. Sie kann aber nur eine Ergänzung haben, und eben diese Ergänzung ist das Christentum. Die natürliche Religion ist auf das Sündenbewusstsein (sense of sin) gegründet; sie erkennt die Krankheit, aber sie kann nach dem Heilmittel nur ausschauen, sie kann es nicht finden. Dieses Heilmittel sowohl für die Schuld als auch für das sittliche Unvermögen findet sich in der zentralen Lehre der Offenbarung, dem Mittleramt Christi (...) Daran liegt es, dass das Christentum die Erfüllung der dem Abraham gegebenen Verheißung und der messianischen Offenbarung ist; das erklärt, wie es von Anfang an imstande gewesen ist, die Welt in Besitz zu nehmen und in jederKlasse der menschlichen Gesellschaft Fuß zu fassen, zu der seine Prediger vorgedrungen sind; das erklärt, warum die römische Macht und die Menge der Religionen, die sie umfasste, ihm nicht standhalten konnten; das ist das Geheimnis seiner fortdauernden Energie und seines nie erschlaffenden Märtyrertums; das erklärt, warum es auch heute noch in so geheimnisvoller Weise mächtig ist, trotz der neuen und schrecklichen Gegner, die seinen Pfad umlagern. Es führt jene Gabe mit sich, die eine tiefe Wunde der menschlichen Natur zu schließen und zu heilen vermag – eine Gabe, die mehr für seinen Erfolg arbeitet als eine ganze Enzyklopädie wissenschaftlicher Erkenntnis und eine ganze Kontroversbibliothek; und darum muss es fortbestehen, solange die menschliche Natur fortbesteht. Es ist eine lebendige Wahrheit, die niemals alt werden kann.

Manche reden von ihm, als wäre es ein Gegenstand der Geschichte, mit nur indirekten Beziehungen zur modernen Zeit. Ich kann nicht zugeben, dass es eine bloß historische Religion sei. Gewiss hat es seine Grundlagen in vergangenen und glorreichen Erinnerungen, aber seine Macht liegt in der Gegenwart. Es ist keine öde Materie der Altertumswissenschaft; wir schauen es nicht an in Schlüssen, die man aus stummen Dokumenten und toten Geschehnissen zieht, sondern mit dem Glauben, der an ewig lebendigen Gegenständen und durch die Aneignung und den Gebrauch immer wiederkehrender Gaben vollzogen wird.

Was uns mit dem Christentum verbindet, ist das Unsichtbare, nicht das Veraltete. Bis zum heutigen Tage rufen seine Riten und Bräuche das aktive Eingreifen jener Allmacht herbei, mit der die Religion vor langer Zeit begann. An erster und höchster Stelle steht die heilige Messe, in der Er, der einst am Kreuz für uns starb, durch seine wörtlich zu verstehende Gegenwart in ihr dasselbe eine Opfer vergegenwärtigt (brings back) und verewigt, das nicht wiederholt werden kann. Gleich danach kommt das wirkliche Eintreten Seiner selbst – mit Seele und Leib und Göttlichkeit – in die Seele und den Leib jedes Frommen, der zu Ihm kommt, um diese Gabe zu erlangen – ein Privilegium, viel inniger, als wenn wir mit Ihm während seines lang vergangenen Verweilens auf der Erde lebten. Und dann, außerdem, sein persönliches Wohnen in unseren Kirchen, das den irdischen Dienst zu einem Vorgeschmack des Himmels erhebt. Das ist die Aufgabe des Christentums, und ich wiederhole: Gerade dass es unsere Bedürfnisse erahnt, ist an sich ein Beweis dafür, dass es ihre wirkliche Erfüllung ist. …

Der verheißene Erlöser, die Erwartung der Völker, hat sein Werk nicht halb getan. … Er hat eine sichtbare Hierarchie und eine Sukzession der Sakramente geschaffen, auf dass sie die Kanäle seiner Gnaden seien (...) Auf alle diese Weisen bringt Er sich uns nahe. … Wie die menschliche Natur selber immer noch so lebendig und tätig ist, wie sie es seit jeher war, so ist auch Er für unsere Vorstellungskraft durch seine sichtbaren Symbole lebendig, wie wenn Er auf der Erde wäre, mit einer praktischen Wirksamkeit, die selbst Ungläubige nicht leugnen können. So ist sie das Korrektiv dieser Natur und ihre Kraft Tag für Tag. Und diese Macht, sein Bild fortbestehen zu lassen (...) ist ein starker Beweis dafür, wie gut Er bis zum heutigen Tag jene souveräne Sendung erfüllt, die Ihm vom ersten Anfang der Weltgeschichte an in der Prophezeiung zuerkannt worden ist“ .

Newman – ein Vorbild der Standfestigkeit

Eine weitere Parallele zur Gegenwart bietet die Episode des Achilli-Prozesses, der das Jahr 1851 überschattete. Ein von seinen Ordensgelübden und vom Glauben abgefallener Dominikaner namens Achilli hatte zum Ergötzen seiner kirchenkritischen und selbstgefällig-arroganten Hörerschaft die Untaten und Verbrechen der Kirche ausgebreitet und kein Stereotyp und Vorurteil ausgelassen. Als Newman diesen populistischen Umgang mit geschichtlichen Vorgängen kritisierte, überzog man ihn mit einem Verleumdungsurteil. Obwohl sich alle Anklagen als ungerechtfertigt erwiesen, verurteilte ihn der Richter zu einer ruinösen Geldstrafe, entzog ihm das Rederecht und beschimpfte ihn als ganz heruntergekommenes Subjekt.
Feindseligkeiten und Hassausbrüche gibt es heute sogar innerhalb der Kirche. In manchen Ländern wie Holland, der Schweiz, Österreich und Deutschland gibt es Parteiungen, die den Bischöfen und dem Papst das Schlimmste zutrauen. Oft sind Theologen und Priester, die am Glauben irregeworden oder am Zölibat oder den evangelischen Räten gescheitert sind, die Wortführer und Scharfmacher von Bewegungen, die Reform der Kirche vorgeben, aber bewusst oder unbewusst nur Spaltung und Destruktion betreiben.

Newman ist ein Vorbild der Standhaftigkeit angesichts von Anfeindungen, die von außen kommen. Aber er ist auch ein Vorbild für geistige Festigkeit gegenüber Verdächtigungen und Misstrauen, die aus den eigenen Reihen stammen. „Mobbing“ nennt man das heute. Jahrelang schwebte über Newman eine „Wolke des Misstrauens“ seitens hoher Persönlichkeiten in der Kirche. Newman zog sich nicht beleidigt zurück, weil er wusste: die Kirche Christi ist mehr als die Gruppendynamik und deren Gewoge von Sympathien und Antipathien auf der Oberfläche der Kirche. Kirche reicht ins Geheimnis Christi hinein. Kirche als Sakrament bedeutet Hineingenommenwerden in die Sohnschaft Christi, der als Haupt die Kirche zu seinem Leib macht, die einzelnen Gläubigen als Gemeinschaft zusammenführt und dieser Gemeinschaft auch alle Charismen und Ämter verleiht, damit sie ihre Sendung zum Heil der Welt erfüllen kann. So kann das Menschlich-Allzumenschliche die Kirche nicht zerstören und uns nicht zur Resignation versuchen.

Papst Leo XIII. hat nach all den äußeren und inneren Schwierigkeiten und Anfeindungen, Widerständen und Irritationen Newman 1879 zum Kardinal erhoben. Er ehrte ihn für seine im Glauben tief verwurzelte Kirchlichkeit und die Bereitschaft, mit all den bewundernswerten Begabungen seines Geistes, seiner Humanität und Bildung des Herzens der Kirche zu dienen. Er erklärte: „Ich war entschlossen, die Kirche zu ehren, indem ich Newman ehrte.“

Newman ist ohne Zweifel ein beeindruckender christlicher Denker, der mit seinen Werken und mit seinem Lebensstil inmitten der Auseinandersetzungen, die sich um die Legitimität des Christentums in der Neuzeit drehen, souverän und überzeugend in die Zukunft des Menschen weist, die nichts anders ist als Gott in Jesus Christus in seiner Kirche.

Newman, der nicht nur ein hervorragender Theologe und begabter Dichter, sondern auch ein großer Beter war, hat die Situation der Kirche, wie er sie lebendig wahrnahm und durchlitt, in einem Gebet vor Gott gebracht. Es bedarf nicht vieler Erläuterungen, um die Aktualität auch dieser Worte zu begründen:

O GOTT,
die Zeit ist voller Bedrängnis.
Die Sache Christi liegt wie im Todeskampf.
Und doch – nie schritt Christus mächtiger durch die Erdenzeit,
nie war sein Kommen deutlicher,
nie seine Nähe spürbarer,
nie sein Dienst köstlicher – als jetzt.
Darum lasst uns in diesen Augenblicken des Ewigen,
zwischen Sturm und Sturm,
in der Erdenzeit zu Dir beten:
O GOTT,
Du kannst das Dunkel erleuchten,
Du kannst es allein.


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