"Machtbegrenzung" in der Kirche

29. Juni 2022 in Kommentar


Im Gefolge der Missbrauchsskandale wird gefordert, «Macht» in der Kirche müsse «geteilt» werden. Die Kirche ist nicht der Staat. Sie kennt eigene, geistliche Wege, um menschlichem Machtstreben Grenzen zu setzen. Ein Gastkommentar von Martin Grichting


Chur (kath.net)

Seit Menschen vergesellschaftet leben, gibt es Macht von Menschen über Menschen. Und es gilt der Satz des liberalen Briten Lord Acton: «Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut». Menschen haben deshalb früh verstanden, dass man staatliche Macht begrenzen muss, damit sie zum Wohl aller ausgeübt wird, aber nicht missbraucht werden kann. Schon die Griechen und die Römer laborierten daran. Und selbst im Absolutismus gab es Gerichtshöfe und durch den lokalen Adel eine Art von Föderalismus. Konkrete Lösungsvorschläge, wie man Macht effizient begrenzen kann, hat dann der französische Denker Montesquieu (1689-1755) gemacht. Seine Theorie der Gewaltenteilung ist immer mehr verfeinert worden. So sind heute die modernen Demokratien zu eigentlichen Machtbrechungsinstrumenten geworden: durch die Aufspaltung der Machtausübung in Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Regierung und Verwaltung) sowie Judikative (Gerichte), durch Zweikammersysteme, Föderalismus, direkte Volksrechte, Amtszeitbeschränkungen und Wiederwahl der Amtsträger.

Solches fordert man nun, befeuert durch Missbrauchsskandale, auch in der katholischen Kirche. Aber die Kirche ist kein Staat. Die Vollmacht, die in ihr wirksam ist, kommt nicht vom Volk, sondern ist durch das Weihesakrament von Gott verliehen. Zudem ist die Kirche zwar wie der Staat auch von Menschen bevölkert. Aber sie ist Geheimnis des Glaubens und von Gott geschaffene Glaubensgemeinschaft. Und damit ist sie eine Freiwilligengemeinschaft. Denn Glauben gibt es nur in Freiheit. Schon Jesus Christus hat deshalb die Jünger gefragt, ob sie auch weggehen möchten (Joh 6, 67). Der Zwangsgewalt des Staates ist man demgegenüber immer unterworfen, sobald man sein Territorium betritt. Man kann nicht aus dem Staat austreten, denn er ist keine Freiwilligengemeinschaft. Deshalb muss seine Gewalt mittels der erwähnten Mittel in vielfacher Weise gebrochen werden. Sonst droht, wie die Geschichte zeigt, Unterdrückung.

Auch wenn man Kirche und Staat also weder von ihrer Herkunft noch von ihrem Wesen gleichsetzen kann, ist die Kirche dennoch geordnet, aber eben nicht nach rein menschlichen, sondern auch nach göttlichen Kriterien. Denn die Kirche ist «eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst» (Lumen Gentium 8). Deshalb verfügt sie über ein eigenes Recht, auch wenn es ihrer Natur entsprechend ein geistliches Recht ist, das Kirchenrecht. In der Kirche sorgen eigene, ihrer Natur angemessene Mittel dafür, dass geistliche Vollmacht nicht missbraucht wird. Kommt es dennoch dazu, wurden diese Mittel aus falscher Rücksicht nicht angewandt. Und es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass gerade so genannt «fortschrittliche» Kreise, die nach dem II. Vatikanischen Konzil jahrzehntelang das kirchliche Recht missachtet oder gar ausgelacht haben, dieses nun verschärft angewandt wissen wollen, und zwar weil sie merken, dass dessen Nichtbeachtung zu Skandalen und finanziell schmerzenden Kirchenaustritten geführt hat.

So gehört es zur kirchlichen Vollmacht, die Jesus Christus den Aposteln übertragen hat, dass sie in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung unterschieden werden kann. Man erkennt dies heute an den Ämtern des Generalvikars (Verwaltung) und des Offizials (Rechtsprechung). Im Bischof sind diese Vollmachten dann zusammen mit der Vollmacht der Gesetzgebung zwar vereint. Aber er ist durch seine Mitarbeiter eingebunden in eine Organisation, die Willkür erschwert. Jeder Kleriker, der im Namen Christi leitet, hat zudem einen Oberen, an den man gelangen kann. Selbst ein Diözesanbischof muss sich gefallen lassen, dass seine Rechtsakte von der Römischen Kurie, die im Namen des Papstes handelt, überprüft und allenfalls umgestossen werden, wenn er nicht rechtens entschieden hat. Auch Gerichtsurteile kann man in diesem Sinn an einen Gerichtshof des Papstes weiterziehen.

Die Frage der rechtlichen Überprüfbarkeit von Handlungen der Bischöfe spitzt sich freilich beim Papst zu. Er kann von niemandem gerichtet werden, wie der hl. Papst Gregor VII. († 1085) festgestellt hat. Aber das ist mehr eine theoretische, denn eine praktische Schwierigkeit: In der Wirklichkeit ist der Papst – weil er das Haupt einer «Freiwilligenorganisation» ist – der erste, der daran interessiert sein muss, sich an die eigenen Gesetze zu halten. Tut er es nicht: Wer sollte es dann noch tun? So würde die Kirche geschwächt. Denn eben: Man kann sie verlassen. Anders beim Staat: Aus diesem kann man zwar auswandern, aber nur dazu, einem anderen Staat rechtlich unterworfen zu sein. Das unterscheidet eben die staatliche von der kirchlichen Sphäre. Sie liegen auf verschiedenen Ebenen. So kann man auch in den Ländern, in denen es keine Kirchensteuer und damit keinen «Kirchenaustritt» gibt, aus der Kirche emigrieren, ihr einfach fernbleiben, ohne dann einer anderen Kirche unterworfen zu sein. Und es war immer wieder in der Kirchengeschichte tatsächlich so: Das Verhalten von Päpsten, der Kurie, von Bischöfen und Pfarrern, die sich über das geistliche Recht der Kirche erhaben gedünkt haben, hat für die Kirche schwerwiegende Folgen gehabt. Es kam zu Spaltungen und zum Aderlass an Gläubigen. Das war schmerzhaft, hat jedoch disziplinierend zur Folge gehabt, dass die Kirche immer wieder umgekehrt ist, gerade auch ihre Hierarchie.

Das entscheidende Element der «Machtbegrenzung» der Kirche stellt freilich nicht ihre rechtliche Ordnung dar, sondern die heilige Überlieferung und die Heilige Schrift. Die kirchliche Lehre, ihre Sittenlehre inbegriffen, ist letztlich die Grenze, die niemand, nicht einmal der Papst, überschreiten kann, ohne schwerste Konsequenzen heraufzubeschwören. Denn auch der Papst ist nicht der Herr über den Glauben, wie schon Paulus gesagt hat (2 Kor 1, 24), sondern Diener der Wahrheit. Als der Hl. Papst Johannes Paul II. im Jahr 1994 die Weihe von Frauen zu Priesterinnen für immer ausschloss, hat er genau in diesem Sinn gehandelt. Er hat nicht erklärt, er bestimme das jetzt einfach so, weil er der Papst sei. Sondern er hat gesagt, «dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden». Er konnte nicht anders entscheiden, selbst wenn er es gewollt hätte. Je mehr alle, die geistliche Vollmacht ausüben in der Kirche, in diesem Geist handeln, umso mehr sind sie Diener der Wahrheit und treten weniger mit ihren persönlichen Vorlieben in den Vordergrund. Nur so kann eine «Freiwilligengemeinschaft» zusammenbleiben. Mit Zwang ist das nicht zu schaffen und auch nicht mit Machtteilung, sondern nur durch die Treue aller zur einen göttlichen Botschaft. Nur diese kann einen. Und je mehr sie Richtschnur und Grenze des Handelns ist, umso weniger kann Willkür Platz greifen.

«Nachahmung ist die höchste Form der Anerkennung», pflegt man zu sagen. Wenn die Kirche in diesem Sinn den von seiner Natur her völlig anders ausgestalteten Staat für ihre «Organisation» und ihr Handeln zum Vorbild nähme, würde sie damit bekennen, dass sie ihr geistliches Wesen aufgegeben hat. Sie würde zugeben, dass sie nicht mehr von der heiligen Überlieferung und der Heiligen Schrift her, von der Kraft Gottes her, die aus den Sakramenten fliesst, glaubt und handelt, sondern von säkularen, menschengemachten Maximen und Strukturen her, die in der von Machtstreben und Gewalt geprägten oder bedrohten Welt ihre Berechtigung haben, aber nicht in der Kirche. Nicht mehr das Walten Christi und des Heiligen Geistes wäre dann die Inspiration der Kirche, sondern der Umgang mit Macht und Gewalt, wie er in dieser Welt und Zeit herrscht, die jedoch vergehen werden. Das wäre dann nicht mehr eine Kirche, die in der Welt ist, sondern eine Kirche, die von der Welt ist (Joh 17, 11.14). Und es wäre dann keine Kirche mehr, die über die Welt hinausweist, sondern eine Kirche, die sich verendlicht hat. Wie sollte sie noch glaubwürdig vom Unendlichen künden, wenn sie als Bezugspunkt für ihr Handeln das Endliche genommen hat?


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