"Eine widerchristliche Lebensform, die normal erscheint"

20. August 2022 in Spirituelles


Auf der einen Seite ein von direkten christlichen Einflüssen abgelöstes autonomes Weltdasein, auf der anderen Seite eine Christlichkeit, die in einer eigentümlichen Weise diese „Autonomie" nachahmt - Gedanken von Romano Guardini / VISION 2000


Wien (kath.net/vision2000.at)

Hellwache Beobachter wie der große Theologe Romano Guar­dini (1885-1968) erkannten schon in der Mittel des 20. Jahr­hunderts die sich abzeichnenden Folgen der totalen Verweltlichung des Lebens und deren schwerwiegende Auswirkungen auf das Glaubensleben.

Die Wahrheit der christlichen Offenbarung wird immer tiefer in Frage gestellt; ihre Gültigkeit für die Formung und Führung des Lebens immer entschiedener bestritten. Zur Kirche vollends tritt die kulturelle Gesinnung in immer schärferen Gegensatz. Der neue Anspruch, die verschiedenen Bereiche des Lebens und Schaffens: Politik, Wirtschaft, Sozialordnung, Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Erziehung usw. müssten rein aus ihren immanenten Maßstäben heraus entfaltet werden, erscheint als immer selbstverständlicher.

So bildet sich eine nichtchristliche, vielfach widerchristliche Lebensform heraus. Sie setzt sich so konsequent durch, dass sie als das Normale einfachhin erscheint, und die Forderung, das Leben müsse von der Offenbarung her bestimmt werden, den Charakter kirchlichen Übergriffs bekommt.

Selbst der Gläubige nimmt diesen Zustand weithin an, indem er denkt, die religiösen Dinge seien eine Sache für sich, und die weltlichen ebenfalls; jeder Bereich solle sich aus dem eigenen Wesen heraus gestalten, und es müsse dem Einzelnen überlassen bleiben, wie weit er in beiden zu leben wünsche.

Die Folge ist, dass auf der einen Seite ein von direkten christlichen Einflüssen abgelöstes autonomes Weltdasein entsteht; auf der anderen Seite eine Christlichkeit, die in einer eigentümlichen Weise diese „Autonomie“ nachahmt. Wie sich eine rein wissenschaftliche Wissenschaft, eine rein wirtschaftliche Wirtschaft, eine rein politische Politik herausbildet, so auch eine rein religiöse Religiosität.

Diese verliert immer mehr die unmittelbare Beziehung zum konkreten Leben, wird immer ärmer an Weltgehalt, beschränkt sich immer aus­schließlicher auf „rein religiöse“ Lehre und Praxis und hat für viele nur noch die Bedeutung, zu gewissen Kulminationspunkten des Daseins, wie Geburt, Eheschließung und Tod, eine religiöse Weihe zu geben.

In der Regel ist es dieser Sachverhalt, an den man denkt, wenn von der religiösen Situation der Neuzeit gesprochen wird. Aber auch etwas anderes trifft zu, nämlich die Abnahme jener unmittelbar religiösen Empfänglichkeit, von welcher die Rede war. Der neuzeitliche Mensch verliert weithin nicht nur den Glauben an die christliche Offenbarung, sondern erfährt auch eine Schwächung seines natürlichen religiösen Organs, so dass er die Welt immer mehr als profane Wirklichkeit sieht.

Auszug aus: Das Ende der Neuzeit von Romano Guardini (1885-1968), Heß-Verlag, Basel 1950, vergriffen. Dieses äußerst lesenwerte Buch wurde vom Grünewald-Verlag 2016 neu aufgelegt: Das Ende der Neuzeit – Die Macht, 186 Seiten, 25€.


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