‚Amoris laetitia’ und der wahre Thomismus

16. Mai 2022 in Aktuelles


Franziskus: Widrigkeiten und Gegensätze überwinden und eine neue Kreativität fördern. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) Die ersten Jahre des Pontifikats von Papst Franziskus waren unter anderem besonders durch die Diskussionen im Rahmen der beiden Familiensynoden 2014 und 2015 ausgezeichnet. Dies mündete dann im Jahr in der päpstlichen Zusammenfassung der „Ergebnisse“ der zwei Synoden it de nachsynodalen Schreiben „Amoris laetitia“. Sogenannte progressive und konservative Strömungen nutzen diesen Text, um teilweise alle ideologische Scharmützel fortzuführen. Bei den einen schaute es so aus, als müsse die katholische Lehre um- und neugeschrieben werden, und man konzentrierte sich auf eine Fußnote im Text. Bei den anderen wurde klar, dass die alleinige Selbstdefinition als „konservativ“ in der komplexen neuen Situation nicht mehr greift und die Polarisierung von „progressiv“ und „konservativ“ nichts mit dem Wesen der katholischen Tradition zu tun hat und die wahren Probleme woanders liegen.

Franziskus selbst hielt sich von auch künstlich angeheizten Debatten fern und äußerte sich wenig und wenn, dann in einem eher provat zu nennenden Rahmen zu Inhalten von „Amoris laetitia“. Sechs Jahre nach der Veröffentlichung des Dokuments wurde das „Familienjahr Amoris laetitia“ einberufen, um das Verständnis des Apostolischen Schreibens zu fördern und die pastorale Praxis der Kirche zu unterstützen, die mehr und besser synodal und missionarisch sein möchte. Im Rahmen dieses Jahres fand als einer dessen Höhepunkte die Internationale Konferenz über Moraltheologie statt, die von der Päpstlichen Universität Gregoriana und dem Päpstlichen Theologischen Institut Johannes Paul II. für die Wissenschaften von Ehe und Familie veranstaltet wurde. Am 13. Mai empfing Franziskus die Teilnehmer in Audienz. Dabei unterstrich der Papst fundamentale Aspekte zur Realität der Familie. Nach fast 9 Jahren angestrengter Debatten lohnt es sich also, den päpstlichen Einlassungen zu folgen. Der Papst mahnte Mut an und warnte davor, die Besinnung auf die Wurzeln mit einem Blick nach hinten zu verwechseln und den Rückwärtsgang einlegen zu wollen. Jeder Form der Kasuistik müsse entsagt werden. „Amoris laetitia“ sei durchdrungen von einem wahren Thomismus, der als solcher einem dekadenten Thomismus entgegengesetzt sei.

Dementsprechend der Aufruf: „Ihr alle seid aufgefordert, heute die Kategorien der Moraltheologie in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu überdenken: das Verhältnis zwischen Gnade und Freiheit, zwischen Gewissen, dem Guten, den Tugenden, der Norm und der aristotelischen phrónesis, der thomistischen prudentia und der spirituellen Unterscheidung, das Verhältnis zwischen Natur und Kultur, zwischen der Vielfalt der Sprachen und der Einheit der Agape“.

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Papst Franziskus an die Teilnehmer der Internationalen Konferenz über Moraltheologie, die von der Päpstlichen Universität Gregoriana und dem Päpstlichen Theologischen Institut Johannes Paul II. für die Wissenschaften von Ehe und Familie veranstaltet wurde, 13. Mai 2022:

Ich danke Pater da Silva Gonçalves für seine einleitenden Worte; ich grüße Kardinal Farrell, Erzbischof Paglia und Msgr. Bordeyne sowie alle, die an dieser Konferenz mitgewirkt haben, und euch alle, die daran teilgenommen haben. Die Initiative findet im Rahmen des „Familienjahres Amoris laetitia“ statt, das einberufen wurde, um das Verständnis des Apostolischen Schreibens zu fördern und die pastorale Praxis der Kirche zu unterstützen, die mehr und besser synodal und missionarisch sein möchte.

Amoris laetitia fasst die Ergebnisse der beiden Synodenversammlungen zur Familie zusammen: die Außerordentliche Versammlung von 2014 und die Ordentliche Versammlung von 2015. Früchte, die im Hören auf das Volk Gottes gereift sind, das zum großen Teil aus Familien besteht, die der erste Ort sind, an dem der Glaube an Jesus Christus und die gegenseitige Liebe gelebt werden.

Deshalb ist es gut für die Moraltheologie, aus der reichen Spiritualität zu schöpfen, die in der Familie keimt. Die Familie ist die Hauskirche (vgl. Lumen gentium, 11; Amoris laetitia, 67); in ihr sind die Eheleute und die Kinder dazu berufen, gemeinsam das Geheimnis Christi zu leben, und zwar durch Gebet und Liebe, die in der Konkretheit des täglichen Lebens und der Situationen umgesetzt werden, in gegenseitiger Fürsorge, die fähig ist, zu begleiten, damit niemand ausgeschlossen und verlassen wird. „Vergessen wir nicht, dass Jesus durch das Sakrament der Ehe in diesem Boot anwesend ist“, dem Boot der Familie. [1]

Das Familienleben wird jedoch heute mehr denn je auf die Probe gestellt. Zunächst einmal befindet sich die Familie wie alle Gemeinschaften und sozialen Bindungen seit einiger Zeit in einer tiefen kulturellen Krise (vgl. Evangelii gaudium, 66). Darüber hinaus leiden viele Familien unter dem Mangel an Arbeit, an angemessenem Wohnraum oder an einem Land, in dem sie in Frieden leben können, in einer Zeit großer und schneller Veränderungen. Diese Schwierigkeiten wirken sich auf das Familienleben aus und führen zu Beziehungsproblemen. Es gibt viele „schwierige Situationen und verletzte Familien“ (Amoris laetitia, 79). Allein die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, ist heute oft mühsam, und junge Menschen haben große Schwierigkeiten, zu heiraten und Kinder zu bekommen. In der Tat fordern die epochalen Veränderungen, die wir erleben, die Moraltheologie auf, sich den Herausforderungen unserer Zeit zu stellen und eine Sprache zu sprechen, die für die Gesprächspartner - nicht nur für „Insider“ – verständlich ist, und so dazu beizutragen, „Widrigkeiten und Gegensätze zu überwinden“ und „eine neue Kreativität zu fördern, um in den heutigen Herausforderungen die Werte zum Ausdruck zu bringen, die uns als Volk in der Gesellschaft und in der Kirche, dem Volk Gottes, ausmachen“ [2] Ich betone: neue Kreativität.

In dieser Hinsicht spielt die Familie heute eine entscheidende Rolle „auf den Wegen der 'pastoralen Umkehr’ unserer Gemeinschaften“ und der „missionarischen Umgestaltung der Kirche“. Dazu bedarf es einer theologischen Reflexion – „auch auf akademischer Ebene“ –, die wirklich „auf die Wunden der Menschheit“ achtet. [3] In diesem Sinne ist es wichtig, dass die Universität Gregoriana und das Institut Johannes Paul II. gemeinsam diese Veranstaltung mit der Teilnahme von Theologen aus vier Kontinenten durchgeführt haben. Laien, Geistliche und Ordensleute aus verschiedenen Sprachen und Kulturen nehmen an einem Dialog zwischen den Generationen teil, der auch jungen Forschern offen steht.

In besonderer Weise möchte ich in diesem Zusammenhang an die Notwendigkeit der Inter- und Transdisziplinarität erinnern, sowohl innerhalb der Theologie als auch zwischen Theologie, Humanwissenschaften und Philosophie. Diese Methode kann die Vertiefung der theologischen Überlegungen zu Ehe und Familie nur fördern. Sie wird in der Lage sein, den wechselseitigen Zusammenhang zwischen ekklesiologischer und sakramentaler Reflexion und liturgischen Riten, zwischen diesen und der pastoralen Praxis, zwischen den großen anthropologischen Fragen und den moralischen Fragen im Zusammenhang mit dem Ehebund, der Zeugung und dem komplexen Netz der familiären Beziehungen aufzuzeigen. In der Tat sollten die verschiedenen theologischen Ansätze nicht einfach nebeneinander gestellt werden, sondern in einen Dialog gebracht werden, damit sie sich gegenseitig belehren, und zwar auf symphonische und chorische Weise, im Dienste des einen großen Ziels, das sich in der folgenden Frage zusammenfassen lässt: Wie können die christlichen Familien heute in der Freude und Mühe der ehelichen, kindlichen und brüderlichen Liebe Zeugnis von der frohen Botschaft des Evangeliums Jesu Christi ablegen?

Auf ihrem synodalen Weg baut die Kirche auf das gegenseitige Zuhören derer, die das Volk Gottes bilden. Wie wäre es in diesem Fall möglich, von der Familie zu sprechen, ohne die Familien zu befragen, ihre Freuden und Hoffnungen, ihre Sorgen und Ängste anzuhören?" [4] Gerade deshalb entsteht ein lebendiges Bedürfnis nach Dialog: gewiss nicht als „rein taktische Haltung“, sondern als „inneres Bedürfnis, in der Gemeinschaft die Freude an der Wahrheit zu erfahren und ihren Sinn und ihre praktischen Auswirkungen zu vertiefen“ (vgl. Veritatis gaudium, 4c). Die dialogische Methode fordert uns auf, eine abstrakte Vorstellung von Wahrheit zu überwinden, die von der gelebten Erfahrung der Menschen, Kulturen und Religionen losgelöst ist. Die Wahrheit der Offenbarung wird in der Geschichte angesprochen – sie ist historisch! – an die Empfänger, die dazu berufen sind, sie in das „Fleisch“ ihres Zeugnisses umzusetzen. Wie viel Gutes gibt es im Leben so vieler Familien in der ganzen Welt! Die Gabe des Evangeliums setzt neben dem Geber auch einen Empfänger voraus, der ernst genommen werden muss, dem man zuhören muss.

Ehe und Familie können einen „Kairos“ für die Moraltheologie darstellen, um die Interpretationskategorien der moralischen Erfahrung im Lichte dessen, was im familiären Bereich geschieht, neu zu überdenken. Zwischen Theologie und pastoralem Handeln muss ein fruchtbarer Kreislauf hergestellt werden. Die pastorale Praxis lässt sich nicht aus abstrakten theologischen Grundsätzen ableiten, ebenso wenig wie sich die theologische Reflexion auf die Wiederholung der Praxis beschränken kann. Wie oft wird die Ehe „als eine Last dargestellt, die man sein ganzes Leben lang zu tragen hat“, anstatt „als ein dynamischer Weg des Wachstums und der Erfüllung“ (Amoris laetitia, 37). Das bedeutet nicht, dass die dem Evangelium entspringende Moral darauf verzichtet, die Gabe Gottes zu verkünden, aus der sich Aufgabe und Hingabe ergeben. Die Theologie hat eine kritische Funktion, eine Intelligenz des Glaubens, aber ihre Reflexion geht von der lebendigen Erfahrung und dem sensus fidei fidelium aus. Nur so kann die theologische Intelligenz des Glaubens ihren notwendigen Dienst an der Kirche leisten.

Und gerade deshalb wird die Praxis der Unterscheidung notwendiger denn je, indem sie „dem Gewissen der Gläubigen Raum gibt, die oft inmitten ihrer Begrenztheit so gut wie möglich auf das Evangelium antworten und ihre eigene persönliche Unterscheidung angesichts von Situationen vornehmen können, in denen alle Muster zusammenbrechen“ (vgl. ebd.).

Liebe Brüder und Schwestern, im Mittelpunkt unseres Engagements als Pfarrer und Theologen steht die Erkenntnis, dass trotz der Dramen und Nöte des Lebens das Gewissen und das Gute untrennbar miteinander verbunden sind. Die dem Evangelium entspringende Moral ist ebenso weit entfernt von einem Moralismus, der die buchstäbliche Einhaltung von Normen zur Garantie der eigenen Gerechtigkeit vor Gott macht, wie von einem Idealismus, der im Namen eines idealen Gutes vom möglichen Guten abschreckt und entfernt (vgl. Amoris laetitia, 308; Evangelii guadium, 44). Im Mittelpunkt des christlichen Lebens steht die Gnade des Heiligen Geistes, die im gelebten Glauben empfangen wird und die zu Taten der Nächstenliebe führt. Die Güte ist also ein Appell, sie ist eine "Stimme" [5], die das Gewissen befreit und anspornt, wie es im Text von Gaudium et spes heißt: „In der Tiefe des Gewissens entdeckt der Mensch ein Gesetz, das er sich nicht selbst gibt, dem er aber gehorchen muss. [...] Das Gewissen ist der geheimste Kern und das Heiligtum des Menschen, in dem er sich allein mit Gott befindet, dessen Stimme in seiner eigenen Intimität erklingt“ (Nr. 16).

Ihr alle seid aufgefordert, heute die Kategorien der Moraltheologie in ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu überdenken: das Verhältnis zwischen Gnade und Freiheit, zwischen Gewissen, dem Guten, den Tugenden, der Norm und der aristotelischen phrónesis, der thomistischen prudentia und der spirituellen Unterscheidung, das Verhältnis zwischen Natur und Kultur, zwischen der Vielfalt der Sprachen und der Einheit der Agape. Insbesondere zu diesem letzten Aspekt möchte ich betonen, dass die Verschiedenheit der Kulturen eine wertvolle Gelegenheit ist, die uns hilft, noch besser zu verstehen, wie sehr das Evangelium die moralische Erfahrung der Menschheit in ihrer kulturellen Vielfalt bereichern und läutern kann.

Auf diese Weise werden wir den Familien helfen, die Bedeutung der Liebe wiederzuentdecken, eines Wortes, das heute „oft entstellt erscheint“ (Amoris laetitia, 89): denn die Liebe „ist nicht nur ein Gefühl“, sondern die Entscheidung, mit der sich jeder Mensch dazu entschließt, „Gutes zu tun [...] in überreichem Maße, ohne zu messen, ohne eine Belohnung zu verlangen, allein um des Gebens und Dienens willen“ (ebd., 94). Die konkrete Erfahrung von Familien ist eine außergewöhnliche Schule des guten Lebens. Deshalb lade ich Sie, liebe Moraltheologen, ein, Ihre strenge und wertvolle Arbeit in kreativer Treue zum Evangelium und zur Erfahrung der Männer und Frauen unserer Zeit, insbesondere zur lebendigen Erfahrung der Gläubigen, fortzusetzen. Der sensus fidei fidelium in der Pluralität der Kulturen bereichert die Kirche, so dass sie heute das Zeichen der Barmherzigkeit Gottes sein kann, die uns nicht müde wird. In diesem Sinne fügen sich eure Überlegungen sehr gut in den laufenden synodalen Prozess ein: Diese Internationale Konferenz ist voll und ganz Teil dieses Prozesses und kann einen eigenen, originellen Beitrag leisten.

Ich möchte noch etwas hinzufügen, was der Kirche im Moment so weh tut: Es ist wie ein „Rückwärtsgang“, sei es aus Angst, aus Mangel an Einfallsreichtum oder aus Mangel an Mut. Es stimmt, dass wir Theologen, sogar Christen, zu den Wurzeln zurückkehren müssen. Ohne die Wurzeln können wir keinen Schritt nach vorne machen. Wir lassen uns von den Wurzeln inspirieren, aber wir müssen vorwärts gehen. Das ist etwas anderes als zurückgehen. Rückwärts zu gehen ist nicht christlich. Ich glaube, es ist der Autor des Hebräerbriefs, der sagt: wir sind keine Menschen, die rückwärts gehen. Der Christ kann nicht zurückgehen. Zurück zu den Wurzeln, ja, um sich inspirieren zu lassen, um weiterzumachen. Aber zurückgehen heißt zurückkehren, um einen Schutz zu haben, eine Sicherheit, um das Risiko des Vorwärtsgehens zu vermeiden, das christliche Risiko, den Glauben zu tragen, das christliche Risiko, den Weg mit Jesus Christus zu gehen. Und das ist ein Risiko.

Heute zeigt sich diese Abkehr in so vielen kirchlichen Figuren – nichtkirchlichen, kirchlichen –, die hier und da wie Pilze aus dem Boden schießen und sich als Vorschläge für das christliche Leben präsentieren. Auch in der Moraltheologie gibt es eine Umkehr mit kasuistischen Vorschlägen, und die Kasuistik, die ich unter sieben Metern begraben glaubte, taucht als Vorschlag – ein wenig verschleiert – wieder auf: „bis hierher kannst du, bis hierher kannst du nicht, hier ja, hier nein“. Und die Moraltheologie auf Kasuistik zu reduzieren, ist die Sünde des Rückschritts. Die Kasuistik ist abgelöst worden. Die Kasuistik war für mich und meine Generation die Grundlage für das Studium der Moraltheologie. Aber es ist dem dekadenten Thomismus eigen. Der wahre Thomismus ist derjenige von Amoris laetitia, der dort stattfindet, in der Synode gut erklärt und von allen akzeptiert wird. Es ist die lebendige Lehre des heiligen Thomas, die uns dazu bringt, risikoreich, aber im Gehorsam voranzugehen. Und das ist nicht einfach. Bitte hütet euch vor dieser Rückkehr nach hinten, die auch für euch als Moraltheologen eine aktuelle Versuchung darstellt.

Möge die Freude der Liebe, die in der Familie ein vorbildliches Zeugnis findet, zu einem wirksamen Zeichen der Freude Gottes, der Barmherzigkeit ist, und der Freude derer, die diese Barmherzigkeit als Geschenk empfangen, werden! Freude. Danke, und bitte vergessen Sie nicht, für mich zu beten, denn ich brauche es! Ich danke euch.

 


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