Benedikt XVI., Mitstreiter der Wahrheit – Ein Kirchenlehrer wurde 95

19. April 2022 in Aktuelles


„Auf seiner Deutschlandreise 2011 forderte er die konsequente „Entweltlichung“… Kein Wunder, dass er damit auch Anstoß erregte, dass die von ihm Angeprangerten versuchten, ihn in Misskredit zu bringen.“ Gastbeitrag von Michael Hesemann


Vatikan (kath.net) Geboren wurde Joseph Ratzinger am 16. April 1927 in Marktl am Inn, buchstäblich „zwischen Himmel und Hölle“, nämlich auf halber Strecke zwischen dem Marienheiligtum von Altötting mit seiner „schwarzen Madonna“ und Braunau am Inn, dem Geburtsort Adolf Hitlers. Dessen politischer Aufstieg und Terrorherrschaft lag wie ein Schatten über der Kindheit und Jugend des späteren Papstes Benedikt XVI.; stellvertretend für alle antichristlichen Doktrinen des 20. und 21. Jahrhunderts, denen Ratzinger in Leben und Werk auf feinsinnige Weise trotzte. Dem Schatten stellte er das Licht des christlichen Glaubens entgegen.

Die Eltern des späteren Papstes und seiner beiden Geschwister Maria und Georg hießen ausgerechnet Joseph und Maria. Der Vater ein Stationskommandant der bayerischen Gendarmerie, der erst mit 43 Jahren heiratete, die Mutter eine sieben Jahre jüngere Köchin mit Vorliebe für Mehlspeisen. Er nüchtern, wortkarg und streng, sie eine herzliche, liebenswürdige, patente Frau, beide gleichermaßen gläubig und fromm. Ihr tiefer Glaube wurde zum Schlüssel für den Werdegang ihrer Söhne, die sich beide als Genies entpuppten: der ältere Bruder Georg (1924-2020) wurde zum weltweit gefeierten Chorleiter und Komponisten, Joseph selbst zum größten Theologen unserer Zeit und Nachfolger Petri. Geprägt hatte sie das tägliche gemeinsame Gebet des Rosenkranzes, kniend auf dem Küchenboden, aber auch der sonntägliche Kirchgang, ihre Begegnung mit der Schönheit und Tiefe der katholischen Liturgie in den herrlichen, goldgeschmückten Barockkirchen ihrer bayerischen Heimat, die sie zum Großen inspirierte, ihren Geist in höchste Höhen aufsteigen ließ und einen drastischen Kontrast boten zur unmenschlichen Kälte des nationalsozialistischen Zeitgeistes. Schon Vater Joseph war ein erklärter Gegner der Nazis, was so weit ging, dass er sich von der Kleinstadt Tittmoning in das Dorf Aschau versetzen ließ, um dem Treiben der Faschisten zu entgehen; am Ende zog er es vor, sich frühzeitig pensionieren zu lassen, statt dem antichristlichen Regime weiter zu dienen. Seine Tochter Maria verzichtete auf die angestrebte Karriere als Lehrerin und wurde stattdessen Sekretärin, weil auch sie keine Beamtin des NS-Staates sein wollte, während Georg und Joseph die wohl radikalste Opposition zur Ideologie der Anti-Christen wählten: die Entscheidung, Priester zu werden! Dieser feste Entschluss, ihre Berufung, überdauerte auch die Wirren des Zweiten Weltkriegs und den Zusammenbruch des Regimes. So wurden die beiden Ratzinger-Brüder am gleichen Tag, dem 29. Juni 1951, im Freisinger Dom von Michael Kardinal von Faulhaber, einem der großen Widersacher Hitlers, zu Priestern geweiht.

Schon im Studium zeigte sich die jeweilige Begabung der beiden Brüder, die bei ihren Kommilitonen nur als der „Orgel-Ratz“ (Georg) und der „Bücher-Ratz“ (Joseph) bekannt waren. Der eine drang immer tiefer in die Welt der geistlichen Musik ein, der andere schwang sich empor zu den Höhen der Theologie, promovierte und habilitierte, verblüffte seine Professoren mit seiner intellektuellen Brillanz und erschloss ihnen neue Aspekte zu den Schriften der Kirchenlehrer Augustinus und Bonaventura. Dabei blieb er so bescheiden, wie es das Pauluswort auf dem Primizbild der beiden Brüder schon angekündigt hatte, nämlich stets in dem Bewusstsein „Nicht als ob wir von uns selbst aus etwas vermöchten, sondern unsere Fähigkeit kommt von Gott.“  Umso mehr litt er unter der allmählichen Entchristianisierung der Gesellschaft, die mit den Nazis begonnen hatte und im Materialismus des Nachkriegsdeutschlands ihre traurige Fortsetzung fand; so schrieb er einen geradezu prophetischen Aufsatz über „Die neuen Heiden und die Kirche“.

Mit nur 29 Jahren begann er 1958 seine akademische Karriere als Professor für Fundamentaltheologie und Dogmatik an der Philosophisch-Theologischen Hochschule zu Freising, was seinen Ruf als „jüngster Theologieprofessor der Welt“ und „theologisches Wunderkind“ begründete. Eine Berufung an die Universität der damaligen Bundeshauptstadt Bonn ließ ihn ein Jahr später seine bayerische Heimat und auch sein Elternhaus verlassen; nur seine Schwester Maria folgte ihm und sollte ihm fortan, bis zu ihrem Tod 1991, als Haushälterin, Sekretärin und „rechte Hand“ dienen. Es war eine der wichtigsten und folgenreichsten Entscheidungen seines Lebens, die sich als geradezu schicksalhafte Fügung erwies. Denn in seiner Zeit in Bonn traf er den Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings, der für ihn zu einer neuen Vaterfigur, ja zu seinem „Entdecker“ werden sollte und ihm schließlich die Tore nach Rom öffnete. Frings erkannte sein Talent, machte ihn zu seinem theologischen Berater und nahm ihn mit in die Ewige Stadt, als der neue Papst, Johannes XXIII., am 11. Oktober 1962 das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete. Dort begegnete Ratzinger den großen Theologen seiner Zeit auf Augenhöhe und bekam seine Chance, die Zukunft der Weltkirche mitzugestalten. Er wurde zum Peritus, zum offiziellen Konzilstheologen ernannt, während Frings als Kopf einer kleinen, einflussreichen Gruppe europäischer Bischöfe seine Einflussnahme auf den Konzilsverlauf geradezu generalstabsmäßig plante. Nach dem Tod des Roncalli-Papstes stellte sich sein Nachfolger, Paul VI., demonstrativ auf die Seite des Deutschen, was zu einer weiteren Aufwertung Ratzingers führte. So wurde er zum Mitautoren eines der wichtigsten Konzilsdokumente, „Lumen Gentium“. Zwischenzeitlich, im Sommer 1963, hatte er von Bonn an die Universität Münster gewechselt, wo er den Lehrstuhl für Dogmatik übernahm. Die Sehnsucht nach Süddeutschland, aber auch das Beharren seines Konzilskollegen Hans Küng – der damals noch rechtgläubig war – ließen ihn 1966 einem Ruf an die ehrwürdige Universität Tübingen folgen. Er konnte nicht damit rechnen, dass seine neue Hochschule nur zwei Jahre später zu einem der Haupt-Schauplätze linker Studentenunruhen wurde. Während die „progressive Theologie“ in Tübingen den Schulterschluss mit dem Marxismus wagte und behauptete, nicht Christus, sondern erst die Weltrevolution würde die Erlösung bringen, setzte er sich hin und schrieb ein Buch, das den Glauben in einmaliger Klarheit und sprachlicher Eleganz für unsere Zeit erschloss und ihm den Ruf eines „Mozarts der Theologie“ einbrachte: Sein „Einführung in das Christentum“, das die Schönheit des Glaubens rühmte und erlebbar machte, wurde in 17 Ländern zum Bestseller. Bei der Lektüre glaubte Karol Wojtyla, Erzbischof von Krakau, einen Bruder im Geiste gefunden zu haben. Papst Paul VI. aber war so begeistert, dass er Ratzinger 1979 in die päpstliche Theologenkommission berief.

In Tübingen dagegen galt er fortan als Außenseiter, ja als „konservativer Hardliner“. So zögerte er nicht lange, als er 1969 einen Ruf nach Regensburg erhielt, wo sein Bruder fünf Jahre zuvor die Leitung des weltberühmten Knabenchors der „Domspatzen“ übernommen hatte. Endlich konnte er in seine geliebte bayerische Heimat zurückkehren, endlich waren nach dem Tod der Eltern 1959 und 1963 die drei Geschwister Ratzinger wieder vereint. Zum ersten (und letzten) Mal in seinem Leben baute er sich ein Haus und beschloss, dort eines Tages, nach seiner Pensionierung, auch seinen Lebensabend zu verbringen. Sogar das Grab der Eltern ließ er von Traunstein nach Regensburg überführen. Prof. Dr. Joseph Ratzinger war angekommen, er hatte sein Lebensziel erreicht – doch dann kam doch alles ganz anders, weil Gott noch einiges mit ihm vorhatte.

Als Papst Paul VI. ihn 1977 zum neuen Erzbischof von München und Freising ernannte, war er wie vom Donner gerührt. Das passte ihm ganz und gar nicht, er fühlte sich dieser Herausforderung nicht gewachsen. Erst als einer seiner engsten Freunde und Kollegen ihm dringend zuriet, sagte er schweren Herzens zu. „Der Bischof handelt nicht im eigenen Namen, sondern er ist Treuhänder eines anderen, Jesu Christi und seiner Kirche“, verkündete er in seiner Antrittspredigt sein Programm. „Mitarbeiter der Wahrheit“ schrieb er auf sein Wappen – und wurde zum mutigen Mahner gegen den Zeitgeist, die „geistige Umweltverschmutzung“ unserer Zeit, die „Herzverfettung des Habens und des Genießens“, die „kapitalistische Profitgier“ und die „Barbarisierung des Menschen“. Ein Christ dürfe kein Angepasster, kein Duckmäuser sein, sondern mutig, unbequem und bereit, auch einmal anzuecken. Sein Wunsch nach einer Aussöhnung der deutschen Katholiken mit Polen führte ihn immer wieder auch mit Kardinal Wojtyla zusammen, den er als echten „Mann Gottes“ erkannte und zu dessen Freund er bald wurde. Nur drei Monate nach seiner Amtseinführung, immer noch 1977, wurde Joseph Ratzinger selbst, gerade einmal 50jährig, in den Kardinalsrang erhoben. Ein Jahr später gehörte er zu denen, die Karl Wojtyla, jetzt Johannes Paul II., zum Papst wählten. Der Besuch des polnischen Papstes in München wiederum, im November 1980, wurde zum Höhepunkt von Ratzingers Amtszeit als Erzbischof der bayerischen Metropole. Die Freundschaft der beiden Männer, der Respekt füreinander, wuchs so sehr an, dass Johannes Paul II. nur ein Jahr später seinen bayerischen Gastgeber als neuen Präfekten der Glaubenskongregation nach Rom berief.

Fortan, für 23 Jahre, waren der charismatische, extrovertierte Pole und der stille, introvertierte Deutsche das große Herz und das brillante Hirn der Weltkirche. Der eine war Mystiker und Poet, der andere Theologe und Analytiker. Kardinal Ratzinger reformierte die Glaubenskongregation und machte sich an die Jahrhundertaufgabe, einen verbindlichen Katechismus für das Dritte Jahrtausend zu verfassen. Auch weitere Schriften, etwa ein Kommentar zu dem 2000 veröffentlichen „Dritten Geheimnis von Fatima“ oder die Erklärung „Dominus Jesus“ erschienen im Auftrag des Papstes. Sorgen dagegen bereiteten Ratzinger die tragischen Missbrauchsfälle, die in den 1990er Jahren erstmals aus den USA gemeldet wurden. Anders als Johannes Paul II., der zunächst eine Kampagne gegen die Kirche vermutete, sah der Deutsche die Notwendigkeit, hier hart durchzugreifen. Freundlich und immer verbindlich im Ton, konnte er auch konsequent sein, wenn es darum ging, die Kirche zu schützen.

Als er mit 75 um seine Entlassung in den Ruhestand bat, lehnte Johannes Paul II. ab – er wollte den Deutschen, dem er bedingungslos vertrauen konnte, bis zu seinem Tod an seiner Seite haben. So zelebrierte Ratzinger die Totenmesse für den Jahrhundert-Papst aus Polen, diesen Giganten der Kirchengeschichte, und eröffnete als Dekan des Kardinalskollegiums das Konklave. Seine Predigt in der Eröffnungsmesse, in der er vor der „Diktatur des Relativismus“ warnte, sollte sein geistliches Testament, seine Abschiedsbotschaft, werden. Er träumte schon vom gemeinsamen Lebensabend mit seinem Bruder Georg in Regensburg, von den Büchern, die er noch schreiben wollte. Doch dann kam alles ganz anders – und Joseph Kardinal Ratzinger wurde am 19. April 2005 zum Nachfolger Petri gewählt. Zögernd nahm er seine Wahl an, die er später mit einem „Fallbeil“ verglich, und nannte sich fortan Benedikt XVI., nach dem Mönchvater Benedikt von Nursia, aber auch dem lateinischen Adjektiv „benedictus“: gesegnet. Nomen est omen - sein Pontifikat, bis zu seinem nicht ganz überraschenden Rücktritt zum 28. Februar 2013, wurde zu einem der segensreichsten der Kirchengeschichte. Aus dem brillantesten Theologieprofessor Deutschlands wurde jetzt ein Lehrer der Weltkirche, einer, den zukünftige Generationen als doctor ecclesiae ehren werden. Seine großen Themen waren die Versöhnung von Glaube und Vernunft, die Suche nach dem irdischen Antlitz Gottes in Jesus von Nazareth – dem er sein dreibändiges Lebenswerk widmete – und der Widerstand gegen die Gottvergessenheit unserer Zeit. Mit seinen Initiativen, dem „Paulusjahr“ 2008/9, dem „Jahr des Priesters“ 2009/10 und dem „Jahr des Glaubens“ (2012/13) setzte er neue Impulse und inspirierte die Gläubigen. Ein besonderes Augenmerk lenkte er auf die Versöhnung mit dem Judentum und die Bitte um Vergebung für die Verbrechen, die im Namen seines Volkes begangen wurden. Kirchenintern standen die Reinigung und Entskandalisierung der Kirche, die Reform der Vatikanbank und die Aufarbeitung des fatalen Missbrauchsskandals auf seinem Programm: Er ging nicht nur hart gegen die Täter vor, von denen er über 700 in den Laienstand zurückversetzte, er suchte auch den Dialog mit den Opfern, die er auf praktisch jeder seine Auslandsreisen traf, um sie persönlich im Namen der Kirche um Vergebung zu bitten. Auf seiner Deutschlandreise 2011 forderte er die konsequente „Entweltlichung“ einer viel zu verweltlichten Kirche. Kein Wunder, dass er damit auch Anstoß erregte, dass die von ihm Angeprangerten versuchten, ihn in Misskredit zu bringen. Das zehrte, verständlicherweise, an seinen Kräften. Sein Rücktritt im Februar 2013 war ein Erdbeben für die Kirche.

Seitdem lebt er als „Papa emerito“ im Kloster Mater Ecclesiae in den vatikanischen Gärten, wo er das Pontifikat seines Nachfolgers Franziskus betend begleitet. Dort hat er auch, in kleinstem Kreis, seinen 95. Geburtstag gefeiert.

 


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