«Back to the future» oder: «vorkonziliar» ist wieder ‘in’

8. April 2022 in Kommentar


Vermeintlich fortschrittliche Kräfte meinen, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben, um Laien in Kirche zu fördern: Trennung von Weihevollmacht und Leitungsvollmacht – Das ist kein Fortschritt, sondern Rückschritt. Gastkommentar von Martin Grichting


Chur (kath.net) «Vorkonziliar» zu sein, war bis vor kurzem eine Schande. Mit diesem Etikett wurden traditionell orientierte Gläubige in die Schmuddelecke gestellt. Nun ist es aber plötzlich wieder chic, «retro» zu sein. Denn es wird von angeblich fortschrittlichen Kräften eine alte Verirrung ausgegraben, der das II. Vatikanische Konzil ein Ende gemacht hatte: die Trennung der Weihevollmacht von der Leitungs-vollmacht.

Diese Verirrung ist ein Erbe der Feudalzeit und hat seit dem Mittelalter bis ins beginnende 19. Jahrhundert als schwerer Missstand grassiert. Sichtbar wurde das Problem vor allem an den Bischöfen: Manche von ihnen hatten die Leitungsvollmacht, das Amt, inne, waren aber nicht zum Bischof geweiht. Als Angehörige des Feudaladels verfolgten sie andere Interessen, als sich um die Seelsorge zu kümmern. Die Einkünfte aus dem Amt und die gesellschaftliche Stellung reichten ihnen. Sie hielten sich für die Seelsorge Weihbischöfe. Diese waren – wie der Name sagt – tatsächlich zum Bischof geweiht und konnten das Weihesakrament sowie die Firmung spenden. Auch die Domkapitulare waren nicht selten nachgeborene Söhne von Adelsfamilien, welche die Priesterweihe nicht empfangen hatten. Sie hatten oft wenig Neigung, für das Reich Gottes zu arbeiten. Die tatsächlichen Mitarbeiter des Weihbischofs waren aus dem Bürgertum stammende Priester, die man «Geistliche Räte» nannte. Auch viele Pfarrer waren im späten Mittelalter nicht zum Priester geweiht. Sie hatten zwar das Amt inne und genossen die daraus fliessenden Einkünfte. Sie liessen sich jedoch in ihrer Pfarrei nicht blicken. Vielmehr besoldeten sie oft schlecht als recht einen «Leutpriester», der als Angestellter ohne echte Kompetenzen die seelsorgliche Arbeit verrichtete. Man braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, welchen seelsorglichen Schaden solche Missstände anrichteten. Sie gehörten zu den Auslösern der Reformation, weil sich die Gläubigen seelsorglich vernachlässigt fühlten und zur Selbsthilfe griffen.

Möglich wurden diese Missstände, weil man die Weihevollmacht, die durch das Sakrament verliehen wird, und die Leitungsvollmacht, die durch eine Ernennung erlangt wird, nicht bloss theologisch und rechtlich unterschied, sondern sachlich trennte und auf verschiedene Personen verteilte.

Das II. Vatikanische Konzil hat mit der Dogmatischen Konstitution über die Kirche «Lumen Gentium» diesem Missstand ein Ende bereitet. In Nr. 21 heisst es: «Die Bischofsweihe überträgt mit dem Amt der Heiligung auch die Ämter der Lehre und der Leitung, die jedoch ihrer Natur nach nur in der hierarchischen Gemeinschaft mit Haupt und Gliedern des Kollegiums ausgeübt werden können». Damit ist die Einheit und Untrennbarkeit von Weihevollmacht und Leitungsvollmacht klar zum Aus-druck gebracht worden. Weihevollmacht kann wesensmässig nur in Gemeinschaft mit dem Haupt und den Gliedern des Bischofskollegiums ausgeübt werden. Die Weihe ist die Befähigung zum Empfang der Leitungsvollmacht. Eine Trennung dieser Vollmachten ist deshalb seither nicht mehr möglich.

Im Codex Iuris Canonici von 1983 wurde der Lehre des II. Vatikanischen Konzils Rechnung getragen, wenn es in Can. 129 § 1 heisst: «Zur Übernahme von Leitungsgewalt, die es aufgrund göttlicher Ein-setzung in der Kirche gibt und die auch Jurisdiktionsgewalt genannt wird, sind nach Maßgabe der Rechtsvorschriften diejenigen befähigt, die die heilige Weihe empfangen haben». Laien können bei der Ausübung der Leitungsvollmacht «mitwirken», aber nicht aus eigenem Recht und nicht selbständig (vgl. Can. 129 § 2). Und Can. 274 § 1 verdeutlicht deshalb: «Allein Kleriker können Ämter erhalten, zu deren Ausübung Weihegewalt oder kirchliche Leitungsgewalt erforderlich ist». Den Laien-Pfarrer des Mittelalters kann es also nicht mehr geben, genauso wenig wie den Laien-Bischof, den Laien-Domkapitular oder den Laien-Generalvikar.
Die kürzlich von Papst Franziskus erlassene neue Kurienordnung («Praedicate Evangelium») ändert daran nichts. Denn es wurde zwar in den Vordergrund geschoben, «jeder Gläubige», also auch Laien, könnten nun ein Dikasterium leiten. Aber es wurde einschränkend beigefügt: «unter Berücksichtigung der besonderen Zuständigkeit, Leitungsvollmacht und Aufgabe» dieser Dikasterien (II. Prinzipien und Kriterien, Nr. 5). Denn eben: Sobald Leiter eines Dikasteriums im Auftrag des Papstes stellvertretende Leitungsvollmacht ausüben, ist die Weihevollmacht zuzüglich der vom Papst verliehenen Leitungsvollmacht erfordert. Sonst würden mittelalterliche Missstände restauriert.

Kuriale Gremien, die Kongresse und Initiativen organisieren zu Themen wie Ehe, Familie oder Migration und Organismen, die Dialog führen mit anderen Religionen oder christlichen Gemeinschaften, üben dadurch keine kirchliche Leitungsvollmacht aus. Solche Büros können auch Laien leiten. Beispielsweise die Bischofskongregation jedoch, die im Namen des Papstes Apostolische Administratoren ernennt, oder die Kleruskongregation, die über Hierarchische Rekurse betreffend Amtshandlungen von Diözesanbischöfen entscheidet, üben Leitungsvollmacht aus. Und da kann kein Laie der Leiter sein.

Wenn progressive Kreise heute vorkonziliare Zustände fordern, ist das bedauerlich. Im Mittelalter bestand die Verirrung darin, dass Bischöfe und Priester faktisch Laien waren. Die zeitgenössische Verirrung 2.0 besteht darin, dass gefordert wird, Laien sollten faktisch Bischöfe oder Priester sein. Beides ist theologiefreier Pragmatismus, welcher auch diesmal der Kirche pastoralen Schaden zufügen würde. Denn aus dem geistlichen Amtsträger, der in der Vollmacht Christi handelt, würde ein Manager nach Menschenart.

Zuletzt gilt es, folgendes zu bedenken: Einigen Laien mittels verfehlter vorkonziliarer Theorien kirchliche Leitungsvollmacht zuhalten zu wollen, die ihnen nicht zukommen kann, ist keine Antwort auf die Frage, welche denn die kirchliche Sendung aller Laien ist. Auch bei dieser Frage sind leider die «Fortschrittlichen» oft vorkonziliar. Denn sie neigen dazu, die Kirche mit ihrer Hierarchie zu identifizieren, wie es vor dem II. Vatikanum gang und gäbe war. Die Strukturfixiertheit des «Synodalen Wegs» ist ein Beispiel dafür. Das II. Vatikanische Konzil hat da etwas anderes gesagt. Es hat eine geistlich profunde Theologie der kirchlichen Sendung des Laien entworfen, im Kapitel IV. von «Lumen Gentium» und im Dekret über das Laienapostolat «Apostolicam Actuositatem». Was dort beschrieben wurde, ist die eigentliche kirchliche Sendung aller Laien, die ihnen schon aufgrund ihres Getauft- und Gefirmtseins zukommt. Nur wenn diese Lehre des II. Vatikanischen Konzils von der ganzen Kirche angenommen wird, kann sie die Welt von neuem christlich durchformen.

Zusammengefasst:

1.    Progressive, die vorkonziliar werden wollen: Der Weltphilosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hätte an dieser Dialektik seine Freude. Der Kirche wird es aber nur noch tiefere Spaltungen einbringen.

2.     «Back to the future» ist ein guter Hollywoodfilm, aber ein schlechtes Rezept für die Evangelisierung, die ja nun laut der neuen Kurienordnung unter den Dikasterien an oberster Stelle steht.

Der habilitierte Kirchenrechtler Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen sowie theologischen Fragen.


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