Krieg gegen das ukrainische Volk: „Ein Einziger, der falsch entscheidet, kann viele Werte zerstören“

15. März 2022 in Kommentar


„Nichts rechtfertigt Entscheidung des Autokraten Putin, die Ukraine mit einem dritten Krieg zu überziehen, der auf eine totale Unterwerfung dieses Volkes zielt um welchen Preis auch immer“ – Lob für Polen! - Gastkommentar von Kardinal Gerhard Müller


Vatikan (kath.net/pl) „Ein Einziger, der falsch entscheidet, kann viele Werte zerstören“ (Koh 9,16.18). Dieses Wort aus dem Buch Kohelet kommt einem in den Sinn, wenn man an die Skrupellosigkeit von Diktatoren denkt, die als eine einzelne Person und in einsamer Entscheidung Katastrophen ausgelöst haben, so wie etwa Hitler mit seinem Überfall auf Polen den II. Weltkrieg. Und nichts, was auch immer über die Spannungen Russlands mit der NATO, den USA oder dem „Westen“ gesagt werden kann, rechtfertigt die Entscheidung des Autokraten im Kreml, die Ukraine jetzt mit einem dritten Krieg zu überziehen, der auf eine totale Unterwerfung dieses Volkes zielt um welchen Preis der Vernichtung von Menschenleben und der Verwüstung der Kulturwerte und Infrastruktur auch immer.

Gerade weil Moskauer „Großrussen“, ukrainische „Kleinrussen“ und Minsker „Weißrussen“ von ihren historischen Wurzeln her familiär zusammengehören, verbietet es sich, Kain als Vorbild zum Mord an seinem Bruder Abel zu nehmen. Juden und Christen wissen, dass Gott der Schöpfer und Vater aller Menschen ist. Als Folge davon respektieren sich alle Menschen, wenn sie wirklich an Gott glauben, als Brüder und Schwestern.

Die große Mehrheit der Russen und Ukrainer bekennt sich seit über 1000 Jahren zum Christentum orthodoxer Prägung. Sie beziehen sich auf das historische Ereignis der Taufe der Kiewer Rus‘ am 28. Juli 988 und das bedeutet, dass diejenigen, die an Christus, den Sohn Gottes, glauben, Kinder und Freunde Gottes geworden sind. Der Apostel sagt den Getauften deshalb: „Stellt eure Glieder als Waffen der Gerechtigkeit in den Dienst Gottes.“ (Röm 6, 13). Kein Verantwortungsträger, der das natürliche Sittengesetz anerkennt, das Gott in unser Gewissen eingeschrieben hat und der sich öffentlich zu Jesus Christus, dem Erlöser der Welt, bekennt, wird darum die Ablehnung von Krieg als legitimes Mittel der Politik in Frage stellen können. „Was zum Leben in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt… und andere schändliche Taten sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.“ (II. Vatikanum, Pastoral-Konstitution „Die Kirche in der Welt von heute“ Gaudium et spes 27).

Angesichts des ethischen Unterschieds von Angreifer und Opfer der Aggression haben die deutschen Bischöfe den Grundsatz der „gerechten Verteidigung“ betont und damit auch ausdrücklich die westliche Waffenlieferung an die überfallene Ukraine gerechtfertigt. Es ist aber auch Aufgabe der Bischöfe als Diener des Wortes Christi, die Herausforderung nicht auf der militärischen und politischen Ebene stehen zu lassen.

Es war immer falsch die Waffen zu „segnen“, selbst wenn sie bei der Verteidigung dienen, weil sie Tod und Leiden bewirken, die dem Heils-Willen Gottes widersprechen. Denn die Verteidigungs-Waffen sind nur ein unvermeidliches Übel, die zwar ungerechte Angriffe abwehren, aber nicht das höhere Gut des Friedens und der Versöhnung der Menschen und Völker bewirken können. Das kann nur Gott, den wir darum im Gebet inständig anflehen. Bischöfe gehören nicht zur Entourage bestimmter Politiker, denen eine moralisch-religiöse Begleitmusik ihrer Entscheidungen propagandistisch nur allzu willkommen ist. In dieser Stunde ist es die Aufgabe aller Bischöfe und Priester, die Gläubigen zum Gebet um den Frieden aufzurufen, damit Gott die Herzen der Mächtigen zur Einsicht und die Gewissen der Kriegsgewinnler zu Reue und Umkehr bewegt. Die Kirche als Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe kämpft nicht mit militärischen Waffen, die töten und verletzten, „gegen Menschen aus Fleisch und Blut.“ Die Christ-Gläubigen kämpfen mit den „geistlichen Waffen“, nämlich „der Gerechtigkeit, dem Evangelium des Friedens, dem Schild des Glaubens, dem Helm des Heiles, dem Schwert des Geistes, d.h. dem Wort Gottes gegen Mächte und Gewalten, gegen die Weltherrscher dieser Finsternis und Bosheit“ (vgl. Eph 6, 10-20).

Demokratische und freiheitliche Staaten, die sich ihrer Aufgabe, dem gemeinsamen Wohl ihrer Bürger zu dienen, verschrieben haben, brauchen auch keinen Sicherheitszonen auf Kosten ihrer kleineren Nachbarn. Wichtig ist der Geist des Respektes vor der Würde und Selbstbestimmung der Mitmenschen, der eine gute Nachbarschaft möglich macht. Seit z. B. Frankreich und Deutschland keine Festungsgürtel mehr gegeneinander bauen oder ihre Jugend in blutigen Gefechten aufeinanderhetzen, sind sie voreinander und miteinander so sicher wie nie in ihrer Geschichte.

Ein nachahmenswertes Zeichen christlicher Nächstenliebe geben der ganzen Welt die Polen, die seit 2008 schon 2 Millionen ukrainische Immigranten aufgenommen hatten und die in den letzten drei Wochen mit größter Sorge und Liebe 1,8 Millionen Mütter und Kinder aufnahmen, die vor den Gräueln des Krieges fliehen mussten. Das Wunder der Versöhnung ist in christlichem Geist auch hier möglich geworden. Dies ist tatsächlich ein von Gottes Gnade gewirktes Wunder, wenn man nur an die Leiden der Polen denkt, die sie von Preußen- und Nazi-Deutschland einerseits und vom zaristischen und sowjetischen Russland andererseits in den letzten drei Jahrhunderten zu erleiden hatten. Denken wir auch an die hunderttausendfachen Verbrechen an Polen, die von kommunistisch aufgehetzten Ukrainern in den ehemals polnischen Gebieten um Lemberg 1946 verübt wurden. Statt arrogant die Polen aus ideologischen Motiven an den Pranger zu stellen, sollten die Mächtigen in der der EU Polen danken und seine Vorbildlichkeit anerkennen anstatt es mit absurden Resolutionen zu diskriminieren. Nur wer das Leben respektiert von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod und wer Abtreibung und Euthanasie an kranken und alten Menschen moralisch strikt verurteilt, ist auch glaubwürdig in seiner Empörung gegen die Vergewaltigung einer ganzen Nation durch die Tyrannen dieser Welt.

Diplomatische Versuche, politische Anstrengungen und notfalls sogar militärische Selbstverteidigung sind gebotene menschliche Mittel, um das Schweigen der Waffen zu erreichen und um das Töten von Unschuldigen, das Auseinanderreißen der Familien, die Vertreibung aus der Heimat, die Zerstörung der Städte zu beenden.

Aber der Frieden als Respekt voreinander und das gedeihliche Zusammenleben von Menschen und Völkern hängen aber ab vom Geist der Versöhnung, den Gottes Gnade allein in unsere Herzen senken kann. Darum beten die Jünger Jesu Christi täglich: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Wir sollten angesichts der furchtbaren Leiden, das dieser bösartige Angriff gegen die Ukraine über unzählige Menschen bringt, ökumenisch vereint in allen Kirchen und Konfessionen jenseits aller Versuche, uns von irgendeiner Staaträson instrumentalisieren zu lassen, mit einer Stimme diesen Krieg bedingungslos verurteilen und denen, die ihn sofort beendigen können, sagen, dass sie dem Gericht Gottes nicht entgehen. „Denn Gott wird jedes Tun vor das Gericht bringen, das über alles Verborgene im Gewissen urteilt, es sei gut oder böse.“ (Koh 12, 14).

Angesichts der damals vordringenden faschistischen und sowjetischen Gewaltherrschaften und des drohenden neuen Weltkrieges sprach bei einer Konferenz über „ Kirche und Völkerwelt“ im schwedischen Fanö (1934) Dietrich Bonhoeffer die prophetischen Worte, die auch für die heutige Situation gelten: „Nur das eine große ökumenische Konzil [ d.i. die Versammlung aller Vertreter der Kirchen und christlichen Gemeinschaften] der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt kann es so sagen, dass die Welt zähneknirschend das Wort vom Frieden vernehmen muss und die Völker froh werden, weil diese Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“

 

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Archivfoto Kardinal Müller (c) Bistum Regensburg


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