Kardinal Müller: „Das Wort ‚aktive Sterbehilfe‘ klingt nach Hilfe und Empathie, ABER…“

10. August 2021 in Prolife


Darf der Mensch andere Menschen töten? Abtreibung und Euthanasie sind Verstoß gegen die christliche Ethik. Kardinal Gerhard Ludwig Müller im kath.net-Interview. Von Lothar C. Rilinger


Vatikan (kath.net) Nach dem letzten Weltkrieg war die Welt schockiert, dass im Dritten Reich eine Politik exekutiert wurde, die als Euthanasiepolitik Eingang in die Geschichte der Menschheit gefunden hat. Durch diese Politik hat sich der nationalsozialistische Staat an die Stelle Gottes gesetzt und in seiner Allmacht, die er meinte, von Gott deriviert zu haben, bestimmte, wem das Recht auf Leben zustehe oder wer dieses Recht verwirkt habe. Das Recht auf Leben wurde denjenigen verwehrt, die bestimmten Volksgruppen angehörten oder deren Leben nicht als „lebenswert“ beurteilt wurde. Ja, die Welt war schockiert und deshalb wurden Strafprozesse angestrengt, in denen die Euthanasie als Verstoß gegen das elementare Menschenrecht auf Leben deklariert wurde. Damit wurde die aktive Sterbehilfe zum Tabu erhoben, an das sich die zivilisierte Welt gehalten hat.

Doch allzu lange hielt der Schock über die Verbrechen der Nationalsozialisten nicht an. 20 Jahre nach Kriegsschluss begann die Diskussion, die Euthanasie zu gestatten, wenn der Patient irreversibel erkrankt sei. Weitere zehn Jahre später wurde die Erlaubnis gefordert, die aktive Sterbehilfe auch dann zu gestatten, wenn der Patient zwar nicht irreversibel, aber schwer erkrankt sei. Wiederum einige Jahre später wurde gefordert, dass die aktive Sterbehilfe auch freigegeben werden müsse, wenn der Patient sich nicht gut fühlt.

Es ist eine slippery lane, auf der die Diskussion um die Freigabe der Tötung von Menschen geführt wird. Inzwischen ist die aktive Sterbehilfe in einigen europäischen Ländern freigegeben worden, ja, es ist sogar unmündigen Kinder erlaubt, sich töten zu lassen.

Parallel zu dieser Auseinandersetzung wird auch eine Diskussion über die Tötung ungeborener Menschen geführt. Einen doch eher traurigen Höhepunkt hat dieser Meinungskampf durch die Abstimmung des Europäischen Parlamentes über den Matic-Bericht erfahren. Zwar wurde noch nicht von der Mehrheit die Abtreibung bis zur letzten logischen Sekunde vor der Geburt gefordert – allerdings von einer bedeutenden Minderheit –, doch wurde von der Mehrheit beschlossen, dass die Tötung ungeborener Menschen als ein Menschenrecht angesehen werden müsse, das einklagbar sei, und dass es strafrechtliche und zivilrechtliche Folgen haben könnte, sollte sich ein Arzt weigern, die Abtreibung vorzunehmen.

All diese Diskussionen berühren die Grundfesten unserer Gesellschaften und Staaten. Deshalb haben wir mit dem Dogmatiker und Ökumeniker Kardinal Gerhard Ludwig Müller gesprochen, um über die Legitimität solcher Tötungshandlungen nachzudenken.

Lothar C. Rilinger: Als das Europäische Parlament beschlossen hat, ein Menschenrecht auf Abtreibung einzufordern, hat es sich von der Vorstellung gelöst, dass sich Menschenrechte aus der Natur ergeben und nicht als ein positives Recht von Menschen je nach Gusto geschaffen werden können. Halten Sie es für gerechtfertigt, dass politische Eliten bestimmen, was als Menschenrecht angesehen werden muss?

Gerhard Ludwig Kardinal Müller : Der Staat ist lediglich die Institution, die die Rahmenbedingungen für das menschliche Leben vorzugeben hat. Durch diese Rahmenbedingungen ermöglicht er es seinen Staatsbürgern, ihr eigenes Leben zu führen. Jeder Mensch wird von dem Vater und der Mutter gezeugt und ist damit nicht ein Produkt des Staates. Durch die Zeugung des Kindes erfährt dieses eine Freiheit, durch die es selbstbestimmt am gesellschaftlichen und staatlichen Leben teilhaben kann. Im Gegensatz zu einem Sklaven oder Leibeigenen kann es seinen freien Willen entfalten, der allerdings seine Begrenzung durch die Sitte erfährt. Sollte sich der Staat von der Einhaltung der sich aus der Natur und damit aus der Schöpfung Gottes ergebenen Naturrechte lösen und nicht mehr für diese Rechte eintreten, pervertiert er sich selbst und führt sich gleichzeitig ad absurdum.

Der Staat muss anerkennen, dass nicht er der Schöpfer des Lebens ist, sondern ausschließlich Gott, wie er in der jüdisch-christlichen Tradition geglaubt wird. Durch ihn sind unverlierbare und unhintergehbare Rechte in die Welt gesetzt worden, die jeder Mensch durch die Zeugung erworben hat und die ihm keiner nehmen kann. Diese Rechte kumulieren in dem Menschenrecht auf Würde – in einem Menschenrecht, das ausschließt, dass Dritte darüber bestimmen dürfen, ob diese Rechte einem Menschen zustehen. Die totalitären Staaten haben sich im 20. Jahrhundert, das auf seine vermeintliche Aufgeklärtheit stolz ist, von der Geltung der Menschenrechte verabschiedet und Willkür herrschen lassen. Die Folgen sind ungeheure Leichenberge. Um dieser Pervertierung staatlicher Gewalt entgegenzuwirken, ist im deutschen Grundgesetz die Würde eines jeden Menschen – ob Staatbürger oder Bewohner – als Leitlinie festgelegt worden. Die Menschenrechte sind aus der Vernunftnatur des Menschen abgeleitet und sind damit jeder positivistischen Regelung entzogen. Sie gehen jedem positiven, von Menschen beschlossenen Recht voraus und können deshalb nicht durch Mehrheitsbeschluss abgeändert oder sogar neu beschlossen werden. Sollte sich ein Parlament über diese Naturrechte erheben und das positive Recht über das Naturrecht stellen, wird die Gefahr beschworen, dass der Staat in eine totalitäre Diktatur abgleiten könnte – in eine verwerfliche Staatsform, in der der Mensch selbst bestimmt, was als gut und was als böse anzusehen ist. Dieser Gefahr obliegt nicht nur der einzelne Staat, sondern ebenfalls die Europäische Union, sollte sie Menschenrechte proklamieren, die den sich aus der Vernunftnatur des Menschen ergebenden Menschenrechten entgegenstehen.

Rilinger: Können Sie sich vorstellen, dass in der rechtlichen Qualifikation eines menschlichen Lebewesens ein Unterschied besteht, je nachdem, ob es geboren oder noch nicht geboren ist?

Kardinal Müller: Die Rechtsordnung zielt auf das Zusammenleben der Menschen auf der Basis der Moral, die sich vor allem in der Anerkennung der fundamentalen Menschenrechte ausdrückt. Im Christentum herrscht die nicht überwindbare Überzeugung, dass der Mensch – ob geboren oder ungeboren – niemals als Zweck und Instrument für etwas anderes existiert. Das ist die Grundlage unseres Menschenbildes und hierauf baut alle Ethik. Ginge man von diesem Grundsatz ab, stünde man am Ausgangspunkt der Inhumanität. Stalin meinte, dass die Gefangenen des GULAG nur soweit noch ein Recht auf Leben hätten, als sie für die Sowjet-Union arbeiten könnten. Himmler, der Chef der berüchtigten SS, äußerte, dass ihn das Leben von tausend russischen Weibern nur solange interessiere, bis sie den Bau eines Panzergrabens für die Wehrmacht fertiggestellt hätten Das sind nur zwei besonders drastische Beispiele der abgrundtiefen Menschenverachtung in den politischen Ideologien unserer Zeit. Wenn man der Meinung ist, es gäbe zu viele Menschen auf unserem Planeten, die die Ressourcen verbrauchen, kann man deswegen nicht die Tötung von Menschen im Mutterleib propagieren und praktizieren, ohne sich als Menschenverächter zu entlarven. Dies sagt auch ganz drastisch Papst Franziskus, auf den sich die Vertreter einer Reproduktionsgesundheit, als die die Abtreibung verharmlosend tituliert wird, ansonsten sehr gern berufen.

Im Übrigen ist die Rechtskonstruktion, wonach die Abtreibung in den ersten drei Monaten straffrei sein soll, unlogisch, aber aus dem politischen Tauziehen zu erklären. Man wollte die Mütter nicht mit dem Strafrecht zur Fortsetzung der Schwangerschaft zwingen. Doch hat man, dem Wunsch von werdenden Müttern folgend, durch die Neufassung des Strafrechts das öffentliche Moralbewusstsein in Frage gestellt und der Erosion der Ethik Tür und Tor geöffnet. Darüber hinaus ist die Grenze von drei Monaten auch willkürlich gewählt. Entweder ist der Mensch mit dem Beginn seiner leiblichen Existenz im Augenblick der Empfängnis als eine Person anzusehen und, wie es Immanuel Kant formuliert hat, somit Zweck an sich, oder er ist und bleibt sein Leben lang eine Sache, die als Menschenmaterial bezeichnet wird und über die andere nach willkürlichen Kriterien verfügen können. Wenn man Menschen im Mutterleib als Sache oder als „Zellhaufen“ denunziert oder Strafgefangene oder politisch missliebige Personen zur Organbank herabwürdigt, dann steht grundsätzlich das Leben eines jeden Menschen zur Disposition der politisch und finanziell Mächtigen.

Deshalb: Nicht nur an die Christ-Gläubigen, sondern an alle Menschen richtet das II. Vatikanische Konzil die Mahnung, die wie eine Magna Charta des Lebens auf der Grundlage der unveräußerlichen Menschenrechte ist: „Was ferner zum Leben selbst in Gegensatz steht, wie jede Art Mord, Völkermord, Abtreibung, Euthanasie und auch der freiwillige Selbstmord; was immer die Unantastbarkeit der menschlichen Person verletzt, wie Verstümmelung, körperliche oder seelische Folter und der Versuch, psychischen Zwang auszuüben; was immer die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird: all diese und andere ähnliche Taten sind an sich schon eine Schande; sie sind eine Zersetzung der menschlichen Kultur, entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers." (Gaudium et spes, 27).

Rilinger: Das sich aus dem Alten Testament ergebende 5. Gebot besagt, dass das Töten eines anderen Menschen verboten ist. Unter welchen Voraussetzungen könnte aber gleichwohl das Töten von Menschen gerechtfertigt sein?

Kardinal Müller: Die Zehn Gebote sind aus dem Glauben Israels an Gott als den Schöpfer der Welt und des Lebens hervorgegangen. Sie spiegeln auch wider, dass Gott das jüdische Volk aus der Sklaverei herausgeführt hat. In den Zehn Geboten finden wir das natürliche Sittengesetz wieder, das Kant beschrieben und das jedem vernünftigen Menschen einsichtig ist. Durch dieses Sittengesetz ist ein gesellschaftliches Leben möglich, hierdurch wird auf natürliche Weise das Zusammenleben der Menschen geregelt. Wird es negiert, würde die Menschlichkeit untergehen und es würde das Recht des Stärkeren gelten – die Macht würde über das Gute triumphieren und die Wahrheit würde der Lüge unterliegen.

Früher war die Todesstrafe gerechtfertigt. Sie durfte nur dann vollstreckt werden, wenn der Täter absichtlich und aus niedrigen Beweggründen getötet oder wenn er die Gemeinschaft durch einen Landesverrat in Lebensgefahr gebracht hat. Doch der Missbrauch der Verhängung der Todesstrafe, vor allen Dingen in den totalitären Staaten, freilich auch die vielen Justizirrtümer und Justizmorde, ließen die aufgeklärte Welt umdenken. Die Todesstrafe ist nunmehr verpönt und zumindest in großen Teilen der westlichen Welt abgeschafft.

Anders liegt es bei der Notwehr. Tötet jemand aus Notwehr, trägt nicht er die Schuld am Tode des Angreifers, sondern dieser selbst. Durch seinen Angriff hat er das Leben eines unschuldigen Menschen bedroht und damit gleichzeitig sein eigenes Leben sittenwidrig aufs Spiel gesetzt. Die Notwehr stellt eine sittliche Grenzsituation dar, die nicht – auch nicht analog – herangezogen werden darf, um das Tötungsverbot aufzuweichen und Notwehrlagen zu konstruieren, um in anderen Bereichen das Töten von Menschen zu legitimieren. Dies gilt vor allem für die Abtreibung, wenn durch die Schwangerschaft das Leben der Mutter in Gefahr gerät. Wenn das Leben des Kindes gegen das der Mutter steht, kann die Notlage nur in der Logik der Liebe einer Mutter, der Gott allein beisteht, gelöst werden.

Rilinger: Das Sittengesetz ist dem Menschen immanent. Um es zu umgehen, hat der australische Philosoph Peter Singer deshalb den Vorschlag unterbreitet, zwischen dem Menschen an sich und der Person zu unterscheiden. Das Menschenrecht soll demnach nicht an das schiere Menschsein geknüpft werden – das Leben eines neugeborenen Menschen stuft er als weniger wert ein als das eines Schweines, Hundes oder Schimpansen –, es soll vielmehr nur Menschen zustehen, die über Rationalität, Autonomie und Selbstbewusstsein verfügen und damit als Personen anzusehen sind. Können Sie diese Unterscheidung hinnehmen?

Kardinal Müller: Diese „Philosophen“ sind schon deshalb unglaubwürdig, weil sie ihre wahnhaften und menschenverachtenden Prinzipien nur auf andere, aber nicht auf sich selbst anwenden. Es wäre eine Perversion des Menschenbildes, wenn eine Mutter, die ihr gerade geborenes Kind in die Arme nimmt, sittlich auf einem tieferen ethischen Level stünde als ein Hundenarr, der sich von seinem ausgewachsenen Vierbeiner ablecken lässt. Eine schwangere Frau oder ein neu geborenes Kind in seiner Wiege zu sehen, erweckt schließlich in jedem psychisch normalen Menschen ein freudiges Staunen über das Wunder des Lebens und lässt ihn glücklicher werden als der Anblick einer Herde von Schweinen oder Affen jemals in der Lage wäre.

Rationalität, Autonomie, Selbstbewusstsein, Intelligenz, Talent sind einerseits natürliche Anlagen in jedem einzelnen Menschen, andererseits aber angeborene oder erworbene Qualitäten, die in den einzelnen Menschen in gradueller Unterschiedlichkeit entwickelt und entwickelbar sind – also alles Umstände, die aus dem Menschen eine schützenswerte Person machen soll. Doch die Intelligenz eines Computers, wenn man das Leistungsvermögen als Intelligenz bezeichnen soll, ist jedem Menschen überlegen. Jeder Computer kann kraft seiner „künstlichen Intelligenz“ besser rechnen als ein Mensch. Und trotzdem: Er ist kein Lebewesen und schon gar nicht ein geistbegabter Mensch in sittlicher Verantwortung für sein Tun und Lassen, dessen individuelle Besonderheit man „Person“ nennt. Nimmt man die Intelligenz eines Menschen, um diesem das Prädikat „Person“ zu verleihen, setzt man sich sofort in Konkurrenz zur Maschine, die schließlich einen höheren Grad an Intelligenz aufweisen kann. Um einen Menschen auf Grund einer Eigenschaft, über die jeder Computer verfügt, als rechtswürdige Person einzustufen, entbehrt jeglicher Stringenz in der Argumentation, schließlich müsste dann auch die Maschine als Person angesehen werden – was aber nicht möglich ist.

Rilinger: Ist die aktive Sterbehilfe die letzte Möglichkeit, um einen Kranken vom Schmerz und Leid zu erlösen? Oder ist es nicht vielmehr ein Akt größter Unmenschlichkeit?

Kardinal Müller: Auch wenn das Wort aktive Sterbehilfe nach Hilfe und Empathie klingt – die wahrhaft menschenfreundliche Hilfe für einen Sterbenden besteht darin, dessen Würde als Mensch in der letzten Phase des Lebens zu achten. Sie soll ihm in seiner Angst Mut machen und ihm die Hoffnung vermitteln, dass unser Schöpfer uns auch im und nach dem Tod nicht alleine lässt. Dieser Trost, der das Leiden und das Nahen des Todes erträglicher werden lässt, hat uns Jesus Christus geschenkt und hat uns dadurch eine neue Heimat in der ewigen Gemeinschaft mit ihm geoffenbart. Die medizinische Erleichterung des Schmerzes durch Medikamente soll jedem Sterbenden zuteilwerden, auch wenn dadurch sein Kreislauf geschwächt werden könnte. Die Pflege seitens der Angehörigen und der geistliche Beistand des Seelsorgers helfen dem Kranken mehr als ihn bewusst und gezielt zu töten. Das absichtsvolle und bewusste Töten eines Kranken ist der schlimmste Angriff auf seine Würde, weil man ihm bedeutet, dass er nicht um seiner selbst willen als Person existiert und von uns geliebt wird, sondern – unter den Gesichtspunkten des Utilitarismus – nur soweit er für die Gesellschaft von Nutzen ist. Und perfide verlangt man von ihm auch noch das suizidale Einverständnis, den Mitmenschen keine unnötige Belastung mehr sein zu wollen.

Rilinger: Könnte die Straflosstellung der Abtreibung in den ersten drei Monaten und nach Beratung als eine Art von Gesundheitsmaßnahme angesehen werden?

Kardinal Müller: Die Tötung eines Menschen im Mutterleib ist ein grauenvolles Verbrechen gegen die Würde dieses Menschen in seiner absoluten Einmaligkeit. Die Tatsache, dass er sich in den ersten Phasen seiner leiblichen Entwicklung befindet, ändert nichts an seiner Existenz als individuelles menschliches Wesen, das schon – eingeschränkt – als ein Rechtssubjekt angesehen wird. Wenn eine Mehrheit von Abgeordneten im Europäischen Parlament in diabolischer Pervertierung des Begriffs ein Menschenrecht auf Abtreibung fordert, also ein Recht auf Tötung eines Menschen – im gleichen Atemzug aber das Schreddern von männlichen Küken als höchst verwerflich apostrophiert wird –, hingegen die Verteidiger des Lebensrechtes eines jedes Menschen, gerade auch desjenigen im Mutterleib, kriminalisieren will, dann ist dies nichts anderes als ein offener Rückfall in die Barbarei. Diese Pervertierung des Rechts stellt sich uns als schlimmer suizidale Anschlag des Rechtsstaates auf sich selbst dar.

Rilinger: Müssen in der Diskussion über die Freigabe der aktiven Sterbehilfe und der Abtreibung auch Argumente berücksichtigt werden, die dem Recht vorausliegen und die wir in der jüdisch-christlichen Religion finden?

Kardinal Müller: Der positiven Rechtsetzung in den veränderbaren staatlichen Gesetzen und der entsprechenden Rechtsprechung muss ein sittliches Bewusstsein vorausgehen, das auch durch die christliche Religion geprägt ist, schließlich ist Europa und damit die westliche Kultur auch aus dem Christentum hervorgegangen. Allerdings können die positiven Gesetze nicht immer formalistisch angewendet werden. Wenn ein Fußgänger bei Rot über die Ampel geht, darf der Autofahrer, dem die Ampel grün zeigt, dennoch nicht auf sein Recht pochen und den Fußgänger gefährden. Anders gesagt: Niemand hat das Recht, seine sittliche Vernunft auszuschalten und sich auf sein formales Recht zu berufen, um der Verantwortung für die negativen Folgen seiner Handlungen zu entgehen. Auch wenn einem europäischen Arzt eine Abtreibung per Gesetz befohlen wird, ist er für den Tod des Kindes verantwortlich und muss sich vor Gott rechtfertigen, ja, er ist genauso verantwortlich für sein tödliches Handeln wie sein Kollege in China für staatlich angeordneten Organraub.

Rilinger: In einigen europäischen Staaten ist die aktive Sterbehilfe freigegeben worden. Der französischen Literat Michel Houellebecq hat festgestellt, dass ein Staat, der – was in Europa schon der Fall ist – die Euthanasie legalisiere, jeden Respekt verloren habe, so dass er aufgelöst werde müsse, um einem anderen System Platz zu machen. Können Sie diese Einschätzung teilen?

Kardinal Müller: Ja. Ich kann ihm ohne weiteres zustimmen. Er ist nicht der einzige Denker, der auch ohne explizite Berufung auf Gott im jüdischen und christlichen Sinn die Grundlagen der europäischen Kultur der Vernunft und Humanität gefährdet sieht. Die politisch-mediale Elite hat mit ihrem Programm, die systematische Dechristianisierung der europäischen kulturellen Grundlagen durchzusetzen, das Ende Europas, das sie zu repräsentieren vorgeben, eingeläutet. Europa ist auf dem Christentum aufgebaut. Trägt man dieses Fundament ab, entzieht man diesem Kontinent die Stütze, die alles zusammenhalten kann.

Nur eine mächtige Renaissance der Wahrheit von der unveräußerlichen Würde, die bedingungslos jedem individuellen Menschen – ob geboren oder ungeboren – von Natur aus zukommt, ihm also intrinsisch ist, kann uns retten vor den Abgründen einer Orwell'schen Diktatur der nackten Macht ohne Geist und des materialistischen Kalküls der Nützlichkeit ohne Moral – vor den Verwerfungen, die sich aus der Negierung des natürlichen Sittengesetzes ergeben und die die faschistischen und stalinistischen Systeme im 20. Jahrhundert, wie als Präludium einer uns drohenden grausamen Zukunft, der Welt in einer unfassbaren und unvorstellbaren Weise vor Augen geführt haben.

Gläubige Menschen wissen, dass die Feinde des Gottesvolkes seit jeher „ihr Vertrauen setzen auf Wagen und Rosse“ (Ps 20,8), also heute auf die Finanzmacht der Eliten und die Gehirnwäsche für die Massen. Aber gegen alles bloß irdische Kalkül „bekennen wir den Namen des Herrn unseres Gottes. Zu ihm ruft der Beter: Rette mich vor dem Rachen der Löwen und vor den Hörnern der Büffel.‘“ (Ps 22, 22).

Rilinger: Vielen Dank!

Archivfoto Kardinal Müller (c) kath.net


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