Die Gläubigen der „Ausserordentlichen Form“ sind das Symptom, nicht die Krankheit

30. Juli 2021 in Kommentar


Der Tag, an dem man seitens der Kirchenleitung den Mut hat, den eigentlichen Problemen der Liturgie ins Auge zu sehen, wird kommen. Denn sie bestehen weiter - Gastkommentar von Martin Grichting / Bistum Chur


Rom (kath.net)

So lange die Kirchenleitung nicht in der Lage ist, für die ganze Kirche eine Form der Liturgie zu approbieren, die wieder wirklich hilft, das Herz zu Gott zu erheben, ist es unglaubwürdig, diejenigen anzuklagen, die ein Problem artikulieren, das die Kirchenleitung selbst verursacht hat. Der Tag, an dem man den Mut hat, den eigentlichen Problemen der Liturgie ins Auge zu sehen, wird kommen.

So richtig bewusst wurde mir, dass die nach dem II. Vatikanischen Konzil geschaffene Liturgie bedauerliche Mängel aufweist und die Gläubigen geistlich sowie emotional hungern lässt, als ich Generalvikar wurde. Denn nun war ich nicht mehr als Pfarrer Zelebrant, sondern bei Bischöflichen Liturgien viel öfter Konzelebrant. Funktional war ich damit den Laien, die an der Eucharistiefeier teilnahmen, nicht unähnlich: Mitbeter, säkular gesprochen: Zuschauer und vor allem Zuhörer. Da wurde mir bewusst, wie einseitig auf den Verstand diese Form der Liturgie ausgerichtet ist. Sie kann - gerade im deutschsprachigen Raum - mit echt geistlichen Liedern angereichert sein. Das Kirchgebäude kann majestätisch gebaut und schön geschmückt sein. Im Idealfall sind auch die liturgischen Gewänder etwas fürs Auge. Das Ohr mag bei brillanten Organisten zwischendurch auf seine Kosten kommen. Aber Architektur und Konzert ersetzen nicht Spiritualität. Und der Genuss von Ästhetik ist nicht mit der lebendigen Gottesbeziehung zu verwechseln. So bleibt es dabei, dass man in seiner Muttersprache während einer Stunde mit Worten berieselt wird, die man zwar versteht, aber beim besten Willen nur zum kleinen Teil verstandesmässig aufnehmen kann. Im Werktagsgottesdienst verschärft sich das Problem, weil er noch mehr vom Wort geprägt ist - und damit ist nicht das Wort Gottes gemeint. Selbst die Eifrigsten, die auf ihren Handys die gottesdienstlichen Texte mitlesen, um nicht allzu sehr abgelenkt zu sein, müssen irgendwann anerkennen, dass sie an ihre Grenzen kommen.

Wenn man selbst Zelebrant ist, stellt sich die Sache anders dar. Man muss sich auf die Texte konzentrieren, schon nur, um sie korrekt vorzutragen. Zudem ist man stets Handelnder. Das mildert das Problem der Aufmerksamkeit und lässt den Aspekt des Empfindens in den Hintergrund treten. Das hat wohl den Effekt, dass viele Bischöfe und Priester bisher zu wenig Verständnis empfunden haben für die Laien, die ununterbrochen einem Wortregen ausgesetzt sind. Dieser überfordert sie und generiert nicht selten das schlechte Gewissen, bei der Messe nicht aufmerksam gewesen zu sein. Zugleich lassen die fast pausenlos mit der Giesskanne über alle rieselnden Worte von unterschiedlichem Gewicht die Seele im Leeren baumeln. Das Herz wird selten wirklich erreicht. Es wird nicht erwärmt, sondern übergangen. Darunter leidet die Ahnung und Achtung vor dem Heiligen. Und nur wenn diese neben das intellektuelle Ertasten treten, wird der Mensch im Glauben gehalten. Denn sonst läuft der Glaube Gefahr, zur allenfalls interessanten intellektuellen Beschäftigung zu werden. Aber er zieht nicht mehr den ganzen Menschen in seinen Bann.

Der zum Volk gewandte Zelebrant, der ununterbrochen auf dieses einredet, tut sein übriges. Dazu ist schon viel gesagt worden. Selbst wenn man sich ausdrücklich zurücknimmt und sich weder als Unterhalter aufspielen will, noch durch politische oder andere gutmenschliche Einlagen das eigene Subjekt in den Vordergrund rückt: Dass man als Priester Jesus Christus repräsentiert, ist die theologische Wahrheit. Dass man trotzdem viel zu sehr mit seiner als mehr oder weniger einladend empfundenen Persönlichkeit im Vordergrund steht, ist die von den Gläubigen wahrgenommene Wirklichkeit.

Der englische Schriftsteller Gilbert K. Chesterton hat einmal gesagt, Protestanten seien der Meinung, dass man Gott nur durch Denken verehren könne. Katholiken würden es mit allen Sinnen tun. Er hat dies noch vor der Liturgiereform des II. Vatikanischen Konzils gesagt. Denn heute sind wir in etwa bei dieser protestantischen Position angekommen. Das gilt selbst dann, wenn die Liturgie nicht pädagogisch missbraucht wird für die Propagierung von sozial- oder umweltpolitischen Anliegen oder als Experimentierfeld dient, auf dem sich die Phantasie von Liturgiegestaltern auslebt.

Es gäbe noch viel zu sagen, zuerst zweifellos über den Opfercharakter der Hl. Messe, ihre Eigenschaft als Teilhabe an der göttlichen Liturgie statt als Versammlung von „Feiernden“, etc. Ich möchte mich hier mit der phänomenologischen Betrachtung begnügen, die sich vor allem in die Lage der Laien zu versetzen versucht.

Diese Laien lässt man geistlich hungern. Und was tun sie? Sie brechen aus der Herde aus. Sie suchen ihre Nahrung woanders. Je länger ich der Sache nach bald 29 Jahren Priestersein zusehe, komme ich zur Überzeugung: Die von den Mächtigen verachteten Gläubigen, welche in der ausserordentlichen Form Beheimatung gefunden haben, sind das Symptom, nicht die Krankheit. Statt sie mit dem Hirtenstab zu schlagen, sollte man einmal in Erwägung ziehen, dass sie - vielleicht manchmal auch auf ungelenke Art - ein Problem artikulieren. Wenn - wie man vor allem in Frankreich und den USA sieht - nun wieder verhältnismässig viele Junge (Priester und Ehepaare, die noch für Kinder offen sind) die ausserordentliche Form vorziehen, würde es im Sinne des Hl. Benedikt geistlicher Klugheit entsprechen, sich zu fragen, ob nicht der Geist Gottes auch aus diesen Jungen spricht.

Priester, die näher bei den Gläubigen sind als Liturgietheoretiker und Liturgiekuriale, spüren jedenfalls immer mehr, dass viele Laien gerade an der Feier der Eucharistie leiden, bewusst oder unbewusst. Nicht wenige, vor allem ältere, lassen liturgisch über sich ergehen, was für sie nicht mehr zu ändern ist. Sie bleiben treu bis zuletzt und prägen heute die Gottesdienstteilnehmer. Andere bleiben mit der Zeit enttäuscht weg. Denn sie haben lange genug die Erfahrung gemacht, dass sie nicht erbaut sowie getröstet wurden und dass sie nicht in ihrem heutzutage sowieso schwierigen Christsein unterstützt aus dem Kirchenraum heraus geschritten sind. Natürlich haben Überalterung und Wegbleiben noch andere Gründe, aber die Liturgie ist auch einer davon. Wer will es leugnen? 

 So lange die Kirchenleitung nicht in der Lage ist, für die ganze Kirche eine Form der Liturgie zu approbieren, die wieder wirklich hilft, das Herz zu Gott zu erheben, ist es unglaubwürdig, diejenigen anzuklagen, die ein Problem artikulieren, das die Kirchenleitung selbst verursacht hat. Statt diese Gläubigen zu drangsalieren, sollte die Kirchenleitung zu verstehen suchen, was der Geist Gottes durch diese Gläubigen, gerade auch durch die vielen Laien unter ihnen, sagt. So lange dies nicht geschieht, sollten die Diözesanbischöfe Vernunft walten lassen angesichts eines universalkirchlichen Disziplinargesetzes, das verletzt und spaltet. Am einfachsten wird dies auf der Ebene der Diözesen möglich sein durch grosszügige Dispensen von den Normen dieses Gesetzes.

Der Tag, an dem man seitens der Kirchenleitung den Mut hat, den eigentlichen Problemen der Liturgie ins Auge zu sehen, wird kommen. Denn sie bestehen weiter. Man kann sie nicht mit einem Gesetz aus der Welt schaffen. Wie auch immer man die natürliche Selektion nach Darwin beurteilt: Es gibt eine übernatürliche Selektion, und die ist am Werk.

Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit philosophischen und theologischen Fragen.

 

 

 


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