Kann defekte Gesetzgebung verbindlich sein?

20. Juli 2021 in Kommentar


Wo ein Papst die Grenzen seines Amtes strapaziert, werden ihn die Tatsachen korrigieren - Papst Franziskus hat sich selber blamiert, ohne Not - Ein kath.net-Kommentar von Franz Norbert Otterbeck


Köln (kath.net)

Ein Verfassungsgericht ist letzte Instanz. Begrifflich kann es verfassungswidrige Verfassungsrechtsprechung also kaum geben. Das deutsche BVerfG hat allerdings schon einige Male mit Entscheidungen auf sich aufmerksam gemacht, die der weniger subtile Interpret mit dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht vereinbaren kann, etwa zur Öffnung des Familienbegriffs in Art. 6 GG. Schwer zu begründen ist es auch, aus den Freiheitsrechten ein bestimmtes Konzept von Klimapolitik herzuleiten. Notfalls könnte der Verfassungsgesetzgeber das Gericht aber korrigieren. In der Kirche ist der Papst jedoch Gesetzgeber und höchster Richter zugleich. Wie ist eine Korrektur möglich, wenn einmal ein "Betriebsunfall" eingetreten ist?

Man erinnere sich an das Konklave von 1378. Die Kardinäle wählten einen Bischof, den sie kaum kannten, Urban VI. Der möglicherweise einer Art "Cäsarenwahn" erlegene neue Papst erwies sich als sehr ungeeignet für sein Amt. Einige seiner Wähler wollten ihn wieder loswerden und wählten einen Gegenpapst für Avignon. Die Krise konnte erst vom Konzil zu Konstanz beigelegt werden, nachdem noch eine dritte Partei ihren Papst gekürt hatte. Für die Lösung des Problems hatten zuvor einige die "via facti" ins Auge gefasst: Tatsachen schaffen! Tatsächlich erachtet die Kirchengeschichte heute Urban VI. für legitim, trotz erheblicher kirchenrechtlicher Zweifel, weil er tatsächlich in Rom regierte.

An der Zuständigkeit des Papstes Franziskus für die Kirchengesetzgebung heute zweifeln die wenigsten. Er hat das Ansehen seines Amtes jedoch schon nachhaltig beschädigt, indem er sich mit besonderer Vehemenz für die Entsakralisierung desselben engagiert hat. Man kritisiert ihn daher freimütiger als seine Vorgänger. Er hat es so gewollt. Die Gesetzgebung vom 16. Juli stellt also nur einen neuen Tiefpunkt der durchgehenden Tendenz dar. Nach dem Beispiel von J.M. Bonnemain (Chur) werden etliche Bischöfe die "Klarstellung" begrüßen, den altrituellen Katholiken aber weiterhin die Heimat in der Kirche gewähren, die ihnen Benedikt XVI. 2007 mit Klugheit und Gerechtigkeit gewährt hat. Das ist das Mindeste.

Einige rufen zum Widerstand auf. Aber lohnt sich das? Die schlechte Qualität des Motu propio 'Traditionis custodes' wird ihm schon sehr viel Durchschlagskraft nehmen. Es befiehlt ja autoritär an den Realitäten vorbei! Das war für die päpstliche Gesetzgebung noch nie ein vernünftiger Weg. Die unverzichtbare Machtfülle der Päpste, notwendig, um überhaupt etwas bewirken zu können, vollzieht sich nämlich innerhalb der Lebenswirklichkeit der Kirche, deren Rechtsverfassung nur ein Aspekt ist. Die höhere Sicht der Dinge wurde früher ungeniert als übernatürliche Dimension erläutert. Insofern existiert ein Kräftespiel, indem päpstliche Anordnungen immer nur ein Faktor des Geschehens sind. Der Gehorsamsanspruch besteht. Wird er aber überstrapaziert, so machen sich die inneren Grenzen päpstlicher Willkür bemerkbar. Kein Papst war jemals absoluter, losgelöster Herrscher über die ganze Kirche, weil er losgelöst von Bischöfen, Klerus und Volk nichts hat, was er beeinflussen kann. Als Paul VI. der Konzilskonstitution 'Lumen gentium' 1964 eine erläuternde Vorbemerkung voranstellen ließ, hat Joseph Ratzinger diese durchaus zurückhaltend kommentiert und vorsichtig an diese inneren Begrenzungen der päpstlichen Autorität erinnert. Der heilige Konzilspapst legte großen Wert darauf, sich nicht in das Kollegium der Bischöfe einklemmen zu lassen wie in ein Kollektiv. Denn kollektive Führung funktioniert in der Kirche nicht, wie man am Schicksal vieler nachkonziliarer Bischofskonferenzen leidlich erfahren hat. Autorität in der Kirche muss immer persönlich verantwortet werden. In diesem Sinne nahm Paul VI. hochautoritative Entscheidungen auf sich, etwa die Enzyklika 'Humanae vitae' (1968), aber auch die Liturgiereform.

Das Konzil hatte für die Erneuerung der Liturgie nur eine grobe Richtung angegeben. Der Papst sah sich veranlasst, darüber hinauszugehen. Im Licht der weiteren Entwicklung, angesichts des Zerfalls der liturgischen Praxis der Kirche, insbesondere im Raum des ehemals christlichen Abendlands, muss man den Widerstand gegen die Reform heute als überraschend gering und überdies als im Wesentlichen nicht illegitim bewerten. Faktisch ist die "alte Liturgie" in der Kirche präsent und lebendig geblieben. Die "neue Liturgie" sollte allgemein durchgesetzt werden, was die disziplinarische Außerkraftsetzung des älteren Gebrauchs einschloss. Ein lehrmäßiges Verbot war nicht möglich und ist nicht möglich, weil die Kirche heute nicht verdammen kann, was ihr gestern noch heilig war. Zugleich mit der - quantitativ geringfügigen - Widerstandsbewegung gegen die Liturgiereform traten einige Defizite in ihrer Durchführung zutage, insbesondere der vom Konzil nicht gewollte und nicht legitimierte fast völlige Verzicht auf die lateinische Liturgiesprache. Widerstand einerseits und unvorhergesehener Verfall andererseits mussten als "Zeichen der Zeit" verstanden und von der kirchlichen Autorität aufgegriffen werden. Das haben die Päpste versucht, die auf den Papst der Liturgiereform folgten, bis zum 16. Juli 2021.

Nicht zuletzt weil es sich gezeigt hat, dass der neue römische Ritus in seinem kommunikativen Grundkonzept kaum noch in lateinischer Sprache praktiziert werden kann, möchte ich die Rückkehr des älteren lateinischen Gebrauchs in die Mitte der Kirche (schon seit 1984) als neue Weise verstehen, als "aggiornamento", um der Anordnung des Konzils zu folgen, dass die lateinische Liturgie in der Kirche erhalten bleiben muss. In diesem Sinne verstößt das Motu proprio vom 16. Juli direkt gegen das Gebot des Zweiten Vatikanums. Dem Kirchenlatein muss zumindest bei der Minderheit altliturgisch geprägter Katholiken eine Chance auf Zukunft gegeben werden.

Artikel 1 von 'Traditionis custodes' lautet in der italienischen Originalsprache: "I libri liturgici promulgati dai santi Pontefici Paolo VI e Giovanni Paolo II, in conformità ai decreti del Concilio Vaticano II, sono l’unica espressione della lex orandi del Rito Romano." Dieser Satz wirft geradezu rechtsphilosophische Fragen auf. Soll da eine Tatsache beschrieben werden? Die nachkonziliaren liturgischen Bücher seien "unica espressione" (einziger Ausdruck) der 'lex orandi', für das Gesetz des Betens, im römischen Ritus? Tatsächlich sind auch ältere liturgische Bücher stets Ausdruck des römischen Ritus, auch heute noch beispielsweise das Missale Romanum von 1920, in Kraft getreten nach der Publikation des Codex iuris canonici von 1917 (beides geschehen unter Benedikt XV.). Erkennbar will diese Weisung neue Realitäten schaffen. Von nun an sollen diese Bücher als "einziger Ausdruck" gelten! Die von Papst Benedikt XVI. vorgeschlagene Wertung des älteren Gebrauchs wie auch des neueren Gebrauchs als zwei Formen desselben Ritus soll damit "abgeschafft" werden. Aber ist das möglich? Die Redeweise von der außerordentlichen neben der ordentlichen Form desselben Ritus war ein Schwachpunkt in der Gesetzgebung von 2007. Es wäre vielleicht besser gewesen, die auf Konvergenz und Kontinuität ausgerichtete Betrachtungsweise aufzugeben und offen zu konstatieren: Tatsächlich existieren in der lateinischen Kirche heute der traditionelle römische Ritus einer Minderheit und der neue lateinische Ritus, der römische Traditionen weiterentwickelt, aber vor allem Modellcharakter für die Vielfalt volkssprachlicher Ausprägungen der katholischen Liturgie hat. Neben die traditionelle römische Messe ist eine in Rom neu entworfene Messe getreten, deren Lebenswirklichkeit vor Ort jeweils variiert. Es kommt aber letztlich nicht auf die begrifflichen Definitionen an. Unumstößlich gilt, dass ein Faktum nicht durch einen Rechtsbefehl beseitigt werden kann. Es spielt tatsächlich überhaupt keine Rolle, was ein Verfassungsgericht neu definiert: Nur eine Familie ist eine Familie. Jeder Ausdruck des römischen Ritus ist ein Ausdruck des römischen Ritus. Im Zweifel ist der ältere römische Ritus sogar mit mehr Recht römischer Ritus als der neue. Diese liturgischen Tatsachen können durch Gesetzgebung gar nicht aus der Welt geschafft werden, allenfalls disziplinarisch unterdrückt: und da wird sich "via facti" zeigen, wieweit das in einer rechtlich längst zerfallenden Kirche überhaupt noch durchsetzbar ist. Übrigens werden auch liberale Bischöfe und Theologen mit dem liturgiebezogenen Tollwutanfall nicht glücklich sein. Denn so ein Kirchenregime will doch niemand mehr; kein Tradi, kein Neokonservativer - und auch kein Kirchenrebell.

Auch wenn die nachkonziliare Liturgiereform im Allgemeinen weltweit akzeptiert ist und funktioniert: Papst Paul VI. hat möglicherweise fühlbar die Grenzen seiner Autorität strapaziert und die inneren Schranken seines Amtes zu spüren bekommen. Er starb im August 1978 ziemlich einsam. Erst nach und nach wurden seine Größe und sein Weitblick wieder mehr erkannt, seine persönliche Heiligkeit sogar erst sehr spät. Nicht überdehnt hat er sein Amt übrigens mit 'Humanae vitae', obwohl damals fast alle hierzulande so urteilten. Er hat wenig Gehorsam gefunden. Aber in der Enzyklika ging es nicht um Gesetzgebung, sondern um ein sittliches Urteil. Das ist gar nicht mit Regierungsgewalt umsetzbar, sondern appelliert immer an die Einsicht der Vernunft. Heute sehen viele ein, dass der "eheliche Akt" gar nicht anders definiert werden kann als "offen für die Weitergabe des Lebens". Jede Statistik zur Geburtenrate in Europa bestätigt das. Es hat auch jede/r verstanden, dass der Papst damals eigentlich nur eine wahre Tatsache festgehalten hat, die für das moderne Leben unbequem ist, aber von Eheleuten guten Willens allgemein hätte befolgt werden müssen, wenn auch stets freiwillig.

Die Freiwilligkeit der Nachfolge Christi ist ein noch zu wenig beleuchtes Zentralthema im Hintergrund des jüngsten Konzils. Diese Freiheiten nehmen auch die "Traditionalisten" gewissermaßen in Anspruch und tragen mit ihren quasi freikirchlichen Institutionen sogar konstruktiv zur Rezeption des Konzils bei, wenn auch sozusagen im Nebeneffekt. Es führt auch kein Weg daran vorbei, die Kirche der Zukunft auf der persönlichen Entscheidung des Einzelnen aufzubauen, einer Entscheidung allerdings für das "ganze Paket". Uns stützen keine äußeren Autoritäten mehr. Die Deutung des Konzils als Projekt des Umsturzes älterer Parteitagsbeschlüsse und deren Ersetzung durch ein neues Programm war immer schon verfehlt. Die alte Kirche wollte ihr altes Programm mit neuen, anscheinend erfolgversprechenden Methoden umsetzen. Das war ein vielleicht zu anspruchsvolles Vorhaben. Es ist aber noch nicht verloren. Trotz allen Ärgers, die der gegenwärtige Pontifikat für konzilstreue Christen (im Vollsinn desselben) einbrachte: Angesichts des fulminanten Starts 2013 waren doch fast alle bereit, neue Akzente und Ideen für denselben Weg, voran zu einem intensiveren, radikaleren Christsein, gern zu integrieren. Es folgt seither eine Pleite der nächsten und aus den Vereinigten Staaten ist schon zu hören: Dieser Papst ist irrelevant geworden! Neben der kaum verhüllten Bosheit, die eine anlasslose Gesetzgebung gegenüber einer kleinen Minderheit offenbart, lässt auch die enorme Dummheit dieser Aktion den Zeitzeugen sprachlos zurück. Gab es keine Geduld mehr, die wenig aufregenden Friktionen, ganz am Rande des liturgischen Lebens, vertrauensvoll dem Nachfolger zur Bearbeitung zu überlassen?

Papst Franziskus hat sich selber blamiert, ohne Not. Und er hat jetzt schließlich doch noch durchblicken lassen, dass er das Zweite Vatikanische Konzil und seine Ekklesiologie anscheinend nicht begriffen hat, weder das Ereignis noch das Ergebnis. Vielleicht war das den Jesuiten insgesamt bis heute nicht möglich, denn "das Konzil" hat vor allem ihren Führungsanspruch entthront. J.M. Bergoglio war seinerzeit ja noch nicht einmal Priester und weit weg vom Geschehen. Insoweit passt es ins Bild, dass er immer noch im Gästehaus wohnt. Dieser Papst ist in Rom immer ein Gast geblieben; vielleicht auch zu fremd der römischen Liturgie, obwohl er den älteren Gebrauch noch aus seiner Jugend kennt. Man kann spekulieren, ob etwa persönliche Brüche in der Vita ihm die "Hermeneutik des Bruchs" jetzt günstig erscheinen lassen? Wer der Kirche dienen will, der muss in Rom jedenfalls anders denken, führen und handeln, in der Kontinuität des Amtes. Da nützt kein exzentrisches Gehabe, auch nicht wenn es originell volksnah daherkommt. Das nächste Konklave wird sich auf die Suche begeben, der Kirche von Rom wieder eine integre Persönlichkeit voranzustellen. Propaganda für einen Unbekannten wird jedenfalls nicht mehr zünden, wie zuletzt 1378 und 2013 geschehen.

 


© 2021 www.kath.net