Zum 100. Geburtstag: Kirchliche Würdigung Erwin Ringels

11. Mai 2021 in Chronik


Eisenstädter Diözesansprecher Orieschnig über Lebenswerk des 1994 verstorbenen "Seelendoktors der Nation" und dessen u.a. auch religiösen Hintergrund


Wien (kath.net/KAP) Am 27. April wäre der österreichische Psychiater und Individualpsychologe Erwin Ringel 100 Jahre alt geworden. Der Theologe und Pressesprecher der Diözese Eisenstadt, Dominik Orieschnig, hat in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Magazins "WienLive" das Lebenswerk des 1994 verstorbenen "Seelendoktors der Nation" gewürdigt. Er wies darin u.a. auch auf den religiösen Hintergrund Ringels hin und ortete angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen Bedarf an einem neuen heimischen Seelendoktor nach Vorbild Ringels.

Als Ringel 1994 verstarb, habe Österreich einen seiner glaubwürdigsten Mahner und Humanisten verloren, so Orieschnig: "Der kürzlich verstorbene Hugo Portisch hat uns die Oberflächenkarte Österreichs erklärt, Erwin Ringel das unterirdische Keller- und Kanalsystem des Landes." Ringels Kernthese: "Die nicht aufgearbeitete, verschwiegene und verdrängte Beteiligung und Mitschuld so vieler Österreicher am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen seien die Ursache weit verbreiteter psychosomatischer Krankheiten mit teils dramatischen Auswirkungen in unserer Gesellschaft."
Ringel habe die Verweigerung der Österreicher, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, stets öffentlich kritisiert, schrieb Orieschnig. "Die österreichische Seele", sein berühmtestes Buch, sei zum allgemein verwendeten Begriff geworden "und gehört zum Besten, was je über dieses Land geschrieben wurde". Es sei eine "Kampfschrift für ein gesünderes, weil ehrlicheres Österreich" gewesen.
Ringels lebenslange ärztliche Obsession: "Die Freilegung und Durchtrennung des gefährlichen roten Fadens, der die Neurosen von Individuen mit dem emotionalen Leben von Nationen verbindet." Orieschnig erinnerte an den Skandal, als Ringel Kaiser Franz Joseph I. als den "Totengräber Österreichs" und den Ersten Weltkrieg als Ergebnis einer in diesem Monarchen sich vollziehenden "lebenslangen neurotischen Selbstvernichtung auf allen Ebenen" bezeichnete. Diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts sah Ringel fortgesetzt im "kleinen, unbekannten Gefreiten" aus Braunau am Inn, "von allen verkannt und verstoßen, das ideale Identifikationsobjekt für den gedemütigten und sich getreten fühlenden Österreicher".

Hitlers menschliche Deformation im Elternhaus und später in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs habe laut Ringel gerade in einem Österreich so vieler ähnlich Beschädigter auf fruchtbaren Boden fallen und schließlich zur Nemesis Europas und der halben Welt werden müssen.

Weltweit erstes Suizidpräventionszentrum

Geleitet von dieser Einsicht in die Wechselwirkung individueller Todessehnsucht und kollektiver Selbstvernichtung habe Ringel 1948 das weltweit erste Suizidpräventionszentrum in Wien auf gebaut, ursprünglich im Rahmen der Wiener Caritas, wie Orieschnig betonte. 1975 wurde daraus das von der Kirche unabhängige "Kriseninterventionszentrum", das bis heute existiert. Nachdem er über 700 gerettete Selbstmordkandidaten untersucht hatte, beschrieb Ringel 1953 das "Präsuizidale Syndrom", bis heute ein Meilenstein in der Selbstmordforschung.
Mit der Suizidverhütung sei der Seelenarzt der Nation schließlich unweigerlich bei der Psychosomatik angekommen und unter Überwindung schwerster Widerstände habe Ringel 1954 in Wien die erste psychosomatische Station in Österreich gegründet. Orieschnig: "Seit Erwin Ringel hat ein Kulturwandel dafür gesorgt, dass heute mehr Menschen als früher psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen." Nun bräuchte es aber "dringend eine aktualisierte neue Rede über Österreich. Ein analytisches Update, das uns schonungslos ehrlich, aber respektvoll wie Ringel zeigt, wo wir heute wirklich stehen", hofft Orieschnig.

In katholischer Jugendbewegung engagiert

Der kirchliche Experte verwies in seinem Beitrag auch auf den kirchlichen Hintergrund des Psychiaters. Bereits in der Mittelschule hatte sich Ringel in der katholischen Jugendbewegung engagiert. 1938 sei für ihn klar gewesen, dass er dem Hitler-Regime nur mit Opposition begegnen kann. Er sei 1939 für einige Wochen von der Gestapo in Haft genommen worden, weil er im Oktober 1938 bei einer antinationalsozialistischen Großkundgebung am Wiener Stephansplatz im Anschluss an das Rosenkranzfest im Stephansdom - als Pfarrjugendhelfer - mitgewirkt hatte, erinnerte Orieschnig.

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