Der Dogmatiker Michael Seewald und der Katechismus

4. Mai 2021 in Kommentar


„Es gibt eine sprungbereite Feindseligkeit gegen den Katechismus der Katholischen Kirche vor allem in deutschen akademischen Kreisen“ - Gastkommentar von N.N.


Münster (kath.net) Der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald hat in der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“ vom 2. Mai 2021 unter dem Titel „Gute Katholiken sollten nicht päpstlicher sein als der Papst“ einen Text veröffentlicht, in dem er zu zeigen versucht, dass der „Katechismus der katholischen Kirche“ (im Folgenden: KKK) in Wahrheit gar nicht so verbindlich und gültig ist, wie das manche meinen. Wer glaube, im Katechismus das zu finden, was wahrhaft katholisch ist, quasi einen Maßstab, mit dem beurteilt werden kann, was katholisch ist, und was nicht, der unterliege, so Seewald, „einem Irrtum mit Blick auf den Inhalt des Katechismus“.

Seewalds Antwort auf den störenden Katechismus (mit dessen Existenz er offenbar schon sehr lange hadert) ist also nicht die aktuell viel diskutierte Änderung seiner unbeliebten Passagen, sondern seine Entsorgung als etwas Unwichtiges, Bedeutungsloses. (Stimmungsvoll ist dabei auf der ersten Seite des Artikels in der Mitte der KKK ganz klein auf weiter weißer Fläche abgebildet, vermutlich mit der unterschwelligen Botschaft: Der Katechismus ist eine Quantité négligeable…) Seine Grundgedanken wurden auch von katholisch.de (klick) und anderen Portalen verbreitet.
Auf fünf Punkte aus seinen Ausführungen möchte ich kurz eingehen.

1)    Von der Verbindlichkeit des Katechismus

Seewald behauptet, dass der Katechismus selbst gar nicht objektiv gültig und normativ sein möchte. KKK Nr. 12 zitierend schreibt er:
»Er [der KKK] sei ‚hauptsächlich für die bestimmt, die für die Katechese verantwortlich sind: in erster Linie für die Bischöfe‘, denen er als ‚Arbeitshilfe angeboten‘ werde. ‚Über die Bischöfe richtet er sich auch an die Verfasser von Katechismen, an die Priester und Katecheten‘. […] Erst an dritter Stelle, nach den Bischöfen und Katecheten, heißt es, dass der Katechismus ‚eine nützliche Lektüre für alle anderen gläubigen Christen‘ sein wolle.«

Der KKK sei, so Seewald, „ein Hilfsinstrument für diejenigen, die den Verkündigungsdienst wahrnehmen.“ Soweit, so richtig. Doch anhand der Worte „Arbeitshilfe“ und „angeboten“ macht Seewald nun einen gedanklichen Sprung, den wir genauer betrachten müssen:
»Der Charakter dieses Buches als ‚Arbeitshilfe‘, die ‚angeboten‘ werde und ‚nützlich‘ sein könne, ist in den vergangenen Jahren aus dem Blick geraten. Der Katechismus ist zu einem normativ aufgeladenen Text geworden, zu einer Art lehramtlichem Superdokument, das nicht selten als Markstein des wahrhaft Katholischen betrachtet wird.«

Haben Sie den Sprung bemerkt? Von dem Buch (dem Medium) ist Seewald unversehens zum Text (also dem Inhalt des Buches) gesprungen. Seewald behauptet, dass ein Medium (in diesem Fall ein Buch), das als „Hilfe“ für die konkrete katechetische „Arbeit“ dienen soll (Arbeitshilfe), und dass zu allem Überfluss auch noch nur als „nützlich“ „angeboten“ und nicht etwa verpflichtend verordnet wird, folglich keine verbindlichen – oder, mit Seewald gesprochen: normativen – Aussagen enthält: Wenn es nur eine Hilfe sein soll und nur angeboten wird, dann ist es nicht verbindlich, denn, so Seewald, ein „Angebot kann man zurückweisen.“ Aber mit dieser Zurückweisung meint er nun eben nicht mehr das Buch, sondern das was drinsteht, seinen Inhalt!

In Wahrheit ist der Katechismus von Anfang an ausdrücklich als normativ gedacht gewesen hinsichtlich dessen, was katholische Lehre ist: was im KKK drinsteht, ist kein Angebot, sondern gibt authentisch Auskunft über den katholischen Glauben. Das Buch selbst wird derweil als Arbeitshilfe angeboten, insofern es Orientierung darüber bietet, was in der Katechese zu lehren und zu lernen ist. Johannes Paul II. schreibt daher anlässlich der Veröffentlichung des KKK in der Konstitution Fidei depositum, die vorne im Katechismus immer mit abgedruckt ist (die online verfügbare Übersetzung ist gleichen Sinnes, wahrt aber mehr die lateinische Satzstruktur:):

»Der ‚Katechismus der katholischen Kirche‘ [...] ist eine Darlegung des Glaubens der Kirche und der katholischen Lehre, wie sie von der Heiligen Schrift, der apostolischen Überlieferung und vom Lehramt der Kirche bezeugt oder erleuchtet wird. Ich erkenne ihn als sichere Norm für die Lehre des Glaubens an und somit als gültiges und legitimes Werkzeug im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft. […] Dieser Katechismus [… ist] sicherer und authentischer Bezugstext für die Darlegung der katholischen Lehre […] Der ‚Katechismus der katholischen Kirche‘ ist endlich einem jeden Menschen angeboten, der uns nach dem Grund unserer Hoffnung fragt (vgl. 1 Petr 3, 15) und kennenlernen möchte, was die katholische Kirche glaubt.« (Seite 33-34, Hervorhebung von mir)

2) Ratzinger als Gewährsmann?

Seewald behauptet, dass der KKK selbst keine bleibend gültige Wahrheiten bieten will, er sei eben nur eine Arbeitshilfe die unverbindlich angeboten wird. Er beziehe sozusagen nur tagesaktuell zu einem gleichfalls tagesaktuellen Problem Stellung (postkonziliare Wirren), wolle aber nicht bleibend Gültiges aussagen. Seewald möchte das mit Joseph Ratzinger belegen:
»Es ist naiv zu meinen, der Katechismus der Katholischen Kirche sei lediglich eine neutrale, objektive Zusammenfassung katholischer Glaubensinhalte. Dass er das nicht ist, hat kein Geringerer als Joseph Ratzinger zu bedenken gegeben.«

Dazu zitiert Seewald eine kurze Stelle von Ratzinger (aus einem Text, der die Vorgeschichte des KKK überblickartig beleuchtet), in der dieser beschreibt, dass in den Jahren unmittelbar nach dem letzten Konzil noch zuviel in Bewegung gewesen, und darum die Zeit noch nicht reif gewesen sei für „ein neues gemeinsames Wort“; ein „Prozess der Gärung“ habe gerade erst eingesetzt und war noch nicht zu einer „Klärung“ gekommen (Seewald zitiert JRGS 9/2, 1006; der Text wurde zuvor veröffentlicht in Ratzinger/Schönborn, Kleine Hinführung zum KKK, 9-13).

Woran sich Seewald besonders aufhängt, ist die Tatsache, dass Ratzinger geschrieben hat, es ginge um ein „neues[!] gemeinsames Wort“. Offenbar ist er der Meinung, das Wörtchen „neu“ müsse hier „etwas Neues/Anderes“ meinen (das sich dann hoffentlich wunschgemäß vom „Alten“ unterscheidet). Nicht in den Sinn kommt Seewald dabei, dass etwas bleibend Gültiges er-neut oder auf neue Weise gesagt werden kann. Für ihn bedeutet „neu“ „etwas Neues/Anderes“ (und zwar hoffentlich wunschgemäß), Punkt. Dass Joseph Ratzinger da anders denkt, kann man – beginnend auf der selben Doppelseite, von der Seewald zitiert hat – einfach nachlesen (JRGS 9/2, 1007-1008, Hervorhebung von mir):
»Aber [die zuvor dargelegte Erfahrung katechetischer Praxis] lässt doch die Problematik der Katechese in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren erkennen, in denen sich eine gewisse Abneigung gegen bleibende Inhalte breit machte und die Anthropozentrik alles beherrschte. So gab es eine Müdigkeit gerade der Besten unter den Katecheten und natürlich eine entsprechende Müdigkeit auch unter den Empfängern der Katechese, unseren Kindern. Die Einsicht, dass die Kraft der Botschaft selbst wieder neu zum Leuchten kommen muss, breitete sich aus. Die Bischöfe der Synode von 1985 haben dieser Einsicht Stimme gegeben: Die Zeit für einen Katechismus des Zweiten Vatikanischen Konzils war reif.« (Der letzte Teil ist eine Anspielung auf den Catechismus Romanus, der als der Katechismus des Trienter Konzils gilt.)

Ratzinger wollte die Botschaft neu zum Leuchten bringen, er wollte keine neue Botschaft!

Übrigens wendet sich Ratzinger etwas später auch dagegen, den Katechismus als „Superdogma“ (JRGS 9/2, 1016) zu bezeichnen – wie dies, so Ratzinger, seine Gegner tun! – als er sich der Frage nach der Autorität des KKK zuwendet. Zur Beantwortung dieser Frage zitiert er das, was ich oben aus Fidei depositum zitiert habe: Der KKK ist „sichere Norm für die Lehre des Glaubens“. Und er führt näher aus (Hervorhebung von mir):
»Die einzelnen Lehren, die der Katechismus vorträgt, erhalten kein anderes Gewicht als dasjenige, welches sie schon besitzen. Wichtig ist der Katechismus als Ganzheit: Er gibt das wieder, was Lehre der Kirche ist; wenn man ihn als Ganzes ablehnt, trennt man sich unzweifelhaft vom Glauben und von der Lehre der Kirche.«

Der Katechismus hat selbst kein dogmatisches Gewicht, aber was darin enthalten ist schon! So kann er problemlos als „Arbeitshilfe angeboten“ werden und zugleich inhaltlich verbindlich sein, nämlich weil und insofern das darin Vorgelegte verbindlich ist. Alles, was darin steht, findet sich vermutlich auch anderswo (Bibel, Denzinger, Messbuch etc.), aber nur hier ist eben alles beisammen.

Ein „Superdogma“ oder „Superdokument“ ist der KKK nur für diejenigen, die ihn ablehnen, wie Seewald eindrücklich beweist. Diejenigen Katholiken, die den Katechismus zu schätzen wissen, und dazu gehört auch der, der dies schreibt, wissen, dass dieses Buch nicht perfekt ist, und dass er natürlich auch nicht alle Phänomene (z.B. alle Gebete, alle Ordensgemeinschaften, alle Spiritualitäten, alle Kunstwerke etc.) behandeln kann, die in der katholischen Kirche anzutreffen sind. Soetwas ist unmöglich. Aber der Katechismus bietet eine übersichtliche, eingängige, oft sogar ausgesprochen schöne, erhebende und ermutigende – und seit seinem Erscheinen die alternativlos beste und zuverlässigste („sichere Norm“) – schriftliche Darlegung dessen, was den katholischen Glauben und das aus ihm gespeiste Leben ausmacht. Ich habe es selbst oft erlebt: Gottsuchende, die offen für das Katholische und neugierig sind, wissen ihn als Ressource sehr zu schätzen; im wahsten Sinne, denn er bietet sozusagen das Brennholz (fides quae), damit das Feuer des Glaubens (fides qua) brennen kann.

3) Dogmen und Wahrheiten

Nachdem Michael Seewald also dargelegt hat, dass der Katechismus in Wahrheit keine über bestimmte Zeitumstände hinausgehende lehrmäßige Autorität oder Verbindlichkeit besitzt oder beansprucht, was auch die Ansicht desjenigen Mannes sei, der diesen Katechismus letztlich (wenn auch v.a. als Koordinator) zu verantworten hatte, erzählt er sodann seinen Lesern, inwiefern der selbe Katechismus das Lehrgebäude der Kirche in seinen Grundfesten erschüttert und regelrecht in seinen Prinzipien verwandelt hat.

Dieser Punkt betrifft einen Gedanken, der bereits eine Grundthese Seewalds in seinem Buch „Dogma im Wandel“ von 2018 war. Eigentlich passt er nicht ganz zum Thema des Beitrags in „Christ in der Gegenwart“, aber er scheint so eine Art Grundaxiom in Seewalds Denken zu sein, jedenfalls verwendet er ihn z.B. auch gerne in Vorträgen. Und zwar Folgendes: Seewald ist der Meinung, der KKK habe dem Lehramt der Kirche eine Kompetenz zugesprochen, die es bis dato nie gehabt habe. Vorher, so Seewald, habe gegolten „Die Grenze der Offenbarung ist auch die Grenze des Dogmas.“ Es könne daher nur etwas verbindlich (etwa vom Papst) gelehrt werden, was unmittelbar in der Offenbarung enthalten sei. Aber, so Seewald, unter Johannes Paul II. sei versucht worden „den Geltungsbereich dogmatischen Lehrens über die Offenbarung hinaus auszuweiten.“ Der Katechismus habe zu diesem Zweck die (unfehlbare) Lehrvollmacht ausgedehnt „auf den Sekundärbereich dessen, was mit der Interpretation der Offenbarung – in geschichtlich wechselhafter Weise – zusammenhängt“.

„Dogmen“ werden im KKK Nr. 88 definiert als „Wahrheiten“, die vom Lehramt „in einer das christliche Volk zu einer unwiderruflichen Glaubenszustimmung verpflichtenden Form“ vorgelegt werden. Diese nähere Bestimmung ist es, worum es Seewald geht, nicht das Wort „Dogma“ an sich. Ihm geht es darum, dass das Lehramt Gehorsam einfordern kann für Wahrheiten, die nicht unmittelbar in der Offenbarung enthalten sind, sondern lediglich „in einem notwendigen Zusammenhang [mit ihr] stehen“ (KKK Nr. 88, von Seewald zitiert). So will Seewald mit seiner Argumentation z.B. die von Johannes Paul II. festgestellte Unmöglichkeit der Priesterweihe für Frauen aushebeln, die in Ordinatio sacerdotales (klick) nicht als „Dogma“ bezeichnet wird, gleichwohl „sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben“ (OS 4). Erst seit dem KKK (also seit 1992) gehöre so eine Feststellung überhaupt zum Bereich der (unfehlbaren) päpstlichen Lehrautorität, und diese Ausweitung sei damals, so suggeriert Seewald seinen Lesern, mit dem KKK gewissermaßen unter der Hand in das Lehrgebäude der Kirche hineingeschmuggelt worden: Vorher habe es das nicht gegeben, dass Lehren, die bloß mit der Offenbarung im „Zusammenhang“ stehen, unfehlbar gelehrt werden konnten und von den Gläubigen eine entsprechende gläubige Zustimmung verlangten.

Kurz und schmerzlos: Was Seewald suggeriert ist falsch. Nur zwei Beispiele (sie ließen sich beliebig vermehren). Bei Michael Schmaus lesen wir 40 Jahre vor Veröffentlichung des KKK in seiner großen Dogmatik (fünfte Auflage von 1952, Bd. 1, S. 73 [§ 9]; Hervorhebung von mir) das Folgende:

»Außer den Dogmen sind Gegenstand der kirchlichen Lehrverkündigung, der Glaubensverpflichtung und der Dogmatik die sogenannten katholischen Wahrheiten. Man versteht darunter solche Wahrheiten, welche nicht unmittelbar von Gott geoffenbart sind, aber infolge ihres engen Zusammenhangs mit der Offenbarung von der Kirche verbürgt werden. Ihre Geltung sieht der Katholik gewährleistet nicht unmittelbar in der Autorität Gottes, sondern in der durch die Autorität Gottes geschaffenen und gestützten Autorität der Kirche. Er bejaht sie daher zunächst um der Kirche willen, zuletzt freilich um Gottes willen, weil er auch die Kirche um Gottes willen bejaht (fides catholica).«

In „ Wetzer und Welte‘s Kirchenlexikon“ (zweite Auflage von 1884, Bd. 3, S. 1882; Hervorhebung von mir) ist zum Thema „Dogma“ über 100 Jahre vor Veröffentlichung des KKK u.a. zu lesen:
»Die Kirche ist auch unfehlbar in Erklärung der mit den Offenbarungswahrheiten connexen [d.h. verbundenen, zusammenhängenden] Vernunftwahrheiten, in Verwerfung der mit ihnen in Widerspruch stehenden Irrthümer, im Urtheile über facta dogmatica. Deßgleichen kommt der Kirche nach der sententia communis et pia in einer gewissen Beziehung Unfehlbarkeit bezüglich der allgemeinen, die ganze Kirche verpflichtenden Gesetze der Disciplin und des Cultus, deßgleichen bezüglich der Approbation der Orden und der Canonisation der Heiligen zu. Bezüglich dieser Dinge kann der Inhalt der deßfallsigen kirchlichen Entscheidungen nicht Gegenstand eigentlicher fides divina, wohl aber einer aus dem Glauben entspringenden rückhaltlosen Zustimmung zur Entscheidung der Kirche sein.«

Wir lernen: Mit der Offenbarung in Zusammenhang stehende Wahrheiten, die eine gläubige Zustimmung verlangen, sind nicht erst seit 30 Jahren Gegenstand des (unfehlbaren) Lehramts… eher seit (mindestens) 130 Jahren.

4) Papst Franziskus und der Katechismus

Seewald möchte seine Leser davon überzeugen, den Katechismus, „angebotene“ „Arbeitshilfe“ die er ist, zurückzuweisen, mit dem Argument, der Papst tue dies doch auch. Gemeint ist Franziskus. Daher der Titel seines Beitrags, gute Katholiken sollten nicht päpstlicher als der Papst sein. Als Beweis führt er eine Äußerung in der Enzyklika Fratelli tutti (FT; klick) an, worin der Papst sich angeblich die Freiheit nahm „den Katechismus offen zu kritisieren“. Der Papst schreibt in FT 258:

»In der Tat gaben in den letzten Jahrzehnten alle Kriege vor, ‚gerechtfertigt‘ zu sein. Der Katechismus der Katholischen Kirche spricht von der Möglichkeit einer legitimen Verteidigung mit militärischer Gewalt, was den Nachweis voraussetzt, dass einige ‚strenge Bedingungen‘ gegeben sind, unter denen diese Entscheidung ‚sittlich vertretbar‘ ist. Aber es ist leicht, in eine allzu weite Auslegung dieses möglichen Rechts zu verfallen.«
Seewald musste in seinem Beitrag diesen Passus bruchstückhaft zitieren, andernfalls wäre seinen Lesern aufgefallen, dass der Papst gar nicht den Katechismus kritisiert, sondern die „allzu weite Auslegung“ von dem, was Franziskus selbst als ein mögliches Recht (nämlich das Recht auf Selbstverteidigung) bezeichnet.

Seewald suggeriert seinen Lesern, der KKK (Nr. 2309) würde einen „gerechten Krieg“ rechtfertigen, und der Papst würde sich daher gegen den KKK wenden. In Wahrheit spricht dieser (im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil, GS 79,4) nur davon „sich in Notwehr militärisch zu verteidigen“ und nennt dafür „strenge Bedingungen“, die im Kleingedruckten ausgewiesen werden als „die herkömmlichen Elemente, die in der sogenannten Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ angeführt werden“ – der KKK macht sich diese Terminologie also gerade nicht zu eigen, sondern referiert sie nur! Statt einen „gerechten Krieg“ zu befürworten, was der Katechismus nicht tut, „fordert die Kirche alle eindringlich zum Beten und Handeln auf, damit die göttliche Güte uns von der alten Knechtschaft des Krieges befreit.“ (Nr. 2307)

Es ließe sich argumentieren, dass KKK Nr. 2309 „die herkömmlichen Elemente [für einen] ‚gerechten Krieg‘“ ohne nähere Erklärungen als Kriterien für den Verteidigungsfall referiert, womit tatsächlich eine gewisse Unschärfe entsteht. Sinnvoller wäre hier eine deutlichere Unterscheidung gewesen, gepaart mit einem Verweis auf die Enzyklika Pacem in terris Johannes' XXIII. Von 1963 (klick), wo zu lesen ist: „Darum widerstrebt es in unserem Zeitalter, das sich rühmt, Atomzeitalter zu sein, der Vernunft, den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten.“ (67) Doch Seewald geht es nicht um berechtigte Kritik an nicht ganz geglückten Formulierungen, er möchte belegen, dass der Papst den Katechismus als solchen zurückweist, um sich selbst auch dazu berechtigt zu fühlen (was er aber wohl schon vorher tat) und andere dazu zu ermutigen. Er fabuliert sogar, dass der Papst den Katechismus „vielleicht“ für so unbedeutend halte (eben eine Quantité négligeable), dass er ihn nicht entsprechend seiner angeblichen Kritik in FT abgeändert habe. Seewalds Grundintention: Wenn man ihn nicht wunschgemäß ändern kann, dann muss man ihn für bedeutungslos erklären.

Papst Franziskus bezeichnet in FT nicht den KKK oder seinen Inhalt als „untauglich“, wie es Seewald ausdrückt, sondern er prangert es an, wenn Staaten Kriege „unzulässigerweise rechtfertigen“ anhand einer „allzu weite[n] Auslegung“ jener „herkömmlichen Elemente, die in der sogenannten Lehre vom ‚gerechten Krieg‘ angeführt werden“; mehr nicht. Übrigens zitiert der selbe Papst in seinen Mittwochskatechesen regelmäßig (und ausdrücklich) den Katechismus, nutzt ihn also genau dafür, wofür er gedacht ist.

5) Nicht „neutral“ – aber „objektiv“

Wie bereits erwähnt, charakterisiert Seewald es als „naiv zu meinen, der Katechismus der Katholischen Kirche sei lediglich eine neutrale, objektive Zusammenfassung katholischer Glaubensinhalte“.

Dass die Frage der Machbarkeit eines der Weltkirche gerecht werdenden Katechismus seinen gesamten Entstehungsprozess begleitet hat, ist ebenfalls bei Ratzinger sehr schön nachzulesen (JRGS 9/2, 1010-1016). Es ist das große Verdienst dieses Werkes, dass es eben gerade nicht lokale oder zeitbedingte Befindlichkeiten wiedergibt. Er enthält nicht theologische Meinungen, er folgt keiner theologischen Schule und stützt sich nicht auf momentane „wissenschaftliche Erkenntnisse“. (Ein Fehler, dem die Verantwortlichen bei der Erstellung der neuen liturgischen Bücher nach dem letzten Konzil wohl erlegen sind, und den wir heute erkennen; vgl. etwa die den biblischen Kontext zerfleddernde Anordnung der Psalmen im Stundenbuch, oder den ehemals als solchen geglaubten Kanon des Hippolyt [Vorbild für das 2. Hochgebet], den man als idealtypisches römisches Hochgebet ansah, von dem wir aber inzwischen wissen, dass er weder idealtypisch noch römisch ist.) Der Katechismus ist der (m.E. gelungene) Versuch, das allzeit Gültige für heute – und womöglich noch für Jahrhunderte – auszusagen. Die Gläubigen, an die sich der Katechismus ja auch richtet, sollen mit seiner Hilfe, so Ratzinger, „auch selbst sagen: Das ist unser Glaube.“ Er führt aus:
„Der Katechismus will nicht Gruppenmeinungen wiedergeben, sondern den von uns [Menschen] nicht erfundenen Glauben der Kirche. Erst eine solche Einheit im Grundlegenden und Tragenden macht dann auch lebendige Vielfalt möglich. […] Es war klar: Dies musste ein wirklich ‚katholisches‘ Buch sein, gerade auch schon von der Art der Abfassung her. Aber es musste auch ein lesbares und einigermaßen einheitliches Buch werden. Der Grundentscheid stand schnell fest: Der Katechismus sollte nicht von Gelehrten, sondern von Hirten geschrieben werden, aus ihrer Erfahrung von Kirche und Welt heraus, als Buch der Verkündigung.“ (JRGS 9/2, 1011-1013)

Ich persönlich vermute ja, dass diese letztgenannte Tatsache ein Grund für die schon vor Erscheinen des KKK spürbare sprungbereite Feindseligkeit gegen den Katechismus v.a. in deutschen akademischen Kreisen ist: Die (geradezu freudsche) Kränkung, nicht selbst mit der Erarbeitung des maßgeblichen nachkonziliaren Glaubenskompendiums betraut worden zu sein, wo man sich doch so klug und maßgeblich wähnt(e).
Was erschreckend viele Theologen offenbar nicht verstehen (können): Der Katechismus ist kein theologisches Buch, sondern ein Glaubensbuch – das bedeutet, er will nicht dekonstruieren und diskutieren, sondern bezeugen und bekennen. Die Perspektive Michael Seewalds ist, wie die der anderen insbesondere deutschen Kritiker (der weitaus größte Teil der Weltkirche ist da anderer Ansicht), die eines sehr eng umgrenzten deutsch-akademischen Horizonts, in dem das Bekenntnis bestenfalls noch als „Bekenntnis zur Menschlichkeit“ oder „zu Werten“ vorkommt, und Jesus Christus oft genug gerade noch als „Vorbild“ taugt. Die Kritiker haben zudem von Anfang an nicht anerkennen wollen, dass der KKK das Gemeinschaftswerk unzähliger Beteiligter aus der ganzen Weltkirche ist (kein zentralistisch-römisches Machwerk) und darum das Dokument, dass noch am ehesten das Ganze der Kirche – inklusive der viel beschworenen Peripherie – in seiner Vielfalt abbildet. In Literatur und Internet finden sich reichlich Erfahrungsberichte beteiligter Personen, die dies bestätigen (z.B. hier: klick).

Für die rechte Perspektive auf den Entstehungsprozess nennt Ratzinger etwa dies:
»Nehmen wir hinzu, dass auf das im November 1989 versandte revidierte Projekt des Textes [d.h. eine fortgeschrittene Entwurfsfassung] über tausend Bischöfe geantwortet haben, deren 24.000 Modi im Text berücksichtigt worden sind, so sieht man, dass dieses Buch ein Ergebnis der ‚Kollegialität‘ der Bischöfe darstellt und dass in ihm die Stimme der Weltkirche in ihrer ganzen Fülle ‚wie die Stimme vieler Wasser‘ zu uns spricht.«

Der Katechismus ist ein Werk der Weltkirche, nicht eines deutschen akademischen Arbeitskreises. Er ist nicht „neutral“ und kann es nicht sein, denn er ist ein glühendes Bekenntnis des katholischen Glaubens. Aber er ist so „objektiv“ wie er es in einer weltumspannenden Kirche nur sein kann, in dem Sinne, dass er eben nicht bestimmte (Schul)Meinungen darbietet, die nur von bestimmten Interessensgruppen (zumal auf wohldotierten deutschen Universitätslehrstühlen) vertreten und in einem Jahrzehnt wieder veraltet sein werden, und indem er sich nicht auf flüchtige gesellschaftliche Trends und Moden stützt, sondern den Menschen als solchen im Blick hat.

Noch einmal Ratzinger (JRGS 14/2, 1132):
»Ich bin überzeugt, dass dieser Katechismus [der katholischen Kirche], der uns jetzt an der Schwelle des dritten Jahrtausends gegeben wird, ein providentielles Geschenk der Kirche für uns ist. Auf dem langen Weg der sechs Jahre, auf dem wir diesen Text, nicht ohne Schwierigkeiten, ausgearbeitet haben, glaubten wir oft förmlich die höhere Hand zu spüren, die uns führte, wenn es darum ging, jemanden zu finden, der einen bestimmten Teil schreiben könne, wer über einen anderen aufklären könne, wer gegensätzliche Geister koordinieren und befrieden könne, wer zwischen zwei anscheinend unvereinbaren Positionen die Verbindung herstellen könne. Wenn es uns schien, keine Antwort finden zu können, ist sie plötzlich von einem anderen gekommen. Ein Unternehmen, das am Anfang als fast unmöglich eingeschätzt werden konnte, wurde möglich mit einer ständig vorhandenen spürbaren und gleichsam berührbaren göttlichen Hilfe, der Vorsehung unseres Herrn.

Aber wir wissen auch, dass ein Buch für sich genommen toter Buchstabe bleibt, dass ein Buch nur Gegenwart des Evangeliums sein kann, wenn es gegenwärtig wird durch Personen, die seinen Inhalt leben und mitteilen, weil es in ihrem Leben gegenwärtig ist und verwirklicht wird. Das Buch allein, das Buch, das nur Buch bleibt, ist toter Buchstabe.«

 

*Der Name des Verfassers ist der Redaktion bekannt


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