Parsifal und die Kirche in Deutschland

16. April 2021 in Kultur


Manch ein Wagner-Fan genießt gerne am Karfreitag die erhebende Musik von Richard Wagners „Parsifal“. Wie aktuell spiegelt die Oper die Situation der Kirche vor allem in Deutschland wieder - Gastkommentar von Pfarrer Stefan Thiel


Dresden (kath.net)

Manch ein Opern-Liebhaber und Wagner-Fan genießt gerne am Karfreitag die erhebende Musik von Richard Wagners „Parsifal“, auch wenn das in diesem Jahr nur digital möglich war. Dafür konnte dem aufmerksamen Hörer auffallen, wie aktuell sich diese Oper auf die gegenwärtige Situation der Kirche vor allem in Deutschland deuten läßt:

Wir befinden uns auf einer Grenze, zwei Reiche liegen nebeneinander, die sich feindlich  gegenüberstehen. Die Gralsburg, die in dieser Überlegung für die Kirche steht, soweit sie noch dem Glauben treu ist, nach Norden hin, in grünem Pflanzenwuchs, ein heiliger Hain, Heimat der Gralsritter, die im Namen Christi in die Welt ziehen, um Hilfe zu bringen, gestärkt immer wieder durch die heilige Eucharistie, durch den heiligen Gral, der während dieser Handlung enthüllt wird und seinen geheimnisvollen Schimmer sehen läßt, erleuchtet von oben, vom Geist Gottes, von Christus selbst, der verborgen in der heiligen Eucharistie unsichtbar bleibt, sichtbar nur in dem Licht und, wie sich zeigen wird, in seiner Klage. Der Gral ist bekanntlich der Kelch des letzten Abendmahls, der bei der Kreuzigung Jesu dessen Blut auffing, das Blut, das aus der Seitenwunde strömte, die ihm der römische Soldat mit einem Speer versetzte. Dieses Gefäß und auch dieser Speer, heilige Gegenstände, sind nach langen Jahrhunderten nun der Gralsritterschaft anvertraut. Es ist dies eine Gemeinschaft asketisch lebender, vor allem aber keusch lebender Männer, die nur ihrem einen Zweck nachstreben, hilfreich zu sein, in der Nachfolge des gekreuzigten Christus tätigen Glauben zu beweisen, also eine Kirche, die noch den Zölibat verteidigt.

Dem nun stellen sich Hindernisse in den Weg, innere und äußere. Das innere Hindernis ist die Versuchung, das äußere ist das andere der beiden Reiche, das Reich Klingsors, des großen Zauberers, der vom Priestertum abgewiesen wurde, weil er die Probe der Keuschheit und Enthaltsamkeit nicht bestanden hat. Daraufhin hat er sich selbst entmannt, läßt sich gender-mäßig keinem Geschlecht mehr zuordnen. Doch auch so wurde er abgewiesen, da er Priester werden will, um zu herrschen, nicht um zu dienen. Und nun zieht er gegen die Ritterschaft mit lockenden, üppigen Versuchungen zu Felde. Er steht für die Modernisten, die die Kirche an die Welt anpassen wollen und das mit Erfolg. Viele der treuen Gralsritter, Priester und Laien, sind seinen sinnenfrohen Blumenmädchen erlegen. Und sogar der Anführer und König des Heiligtums, Amfortas, erlag der verführerischsten unter Klingsors Geschöpfen, Kundry, eine aus Urzeiten herstammende Verfluchte. Amfortas, ein Bischof oder Papst, verlor den heiligen Speer, er erlitt eine Wunde im Kampf, an der er seither leidet. Doch sein eigentliches Leiden ist kein äußeres, es ist das Bewußtsein der schuldhaften Verfehlung, des Versagens, das ihn quält. Er versäumt darüber seine rituellen Pflichten, die Ritterschaft droht einem langen quälenden Siechtum entgegenzugehen, der spirituellen Auszehrung zu erliegen, wie es ja jetzt mit der Kirche geschieht, weil der Glaube an die heilige Eucharistie nicht mehr gestärkt und ihre Verehrung nicht mehr gefördert wird, weil das Opfer nicht mehr gepredigt wird.

Interessant ist auch die Figur des Titurel, Amfortas‘ Vater und ehemaliger Gralskönig, der noch immer lebt, weil er immer wieder aus dem Gral trinkt. Doch es ist ein Leben im Grab. Er besteht darauf, daß Amfortas immer wieder den Gral enthüllt, damit er sein irdisches Leben verlängern kann. Dabei kümmert es ihn nicht, daß dadurch Amfortas solche Qualen leidet, obwohl doch die eigentliche Aufgabe des heiligen Grals und des Blutes Christi ist, nicht unser irdisches Leben zu erhalten, sondern uns ewiges Leben im Himmel zu schenken, was auch in der jetzigen Situation viele Vertreter der Kirche nicht mehr sehen und verkündigen.

Nun gibt es eine Privatoffenbarung, die Hilfe verheißt. Geheimnisvoll ist das Wort: „Durch Mitleid wissend, ein reiner Tor. Harret sein, den ich erkor“. Es ist Parsifal, der sich im ersten Akt wie von ungefähr ins Territorium der Ritterschaft verirrt. Ein törichter, unwissender Jugendlicher aus einer Multikulti-Patchwork-Familie – sein Vater hatte vor seiner Mutter schon mit einer Orientalin ein Kind. Er schießt unschuldige Schwäne in eigener naiver Unschuld mit dem Pfeil und zockt quasi gerne Ritterspiele. Lang wird der Weg sein, den er zu gehen hat, bis er die Wahrheit erkennt. Er tritt ihn an, nachdem er von dem alten, weisen Ritter und Einsiedler Gurnemanz, der sich seiner zunächst annahm, hinausgeworfen wurde. Dieser Weg führt Parsifal – im II. Akt – in das Reich Klingsors, in das Reich der verführerisch singenden und ihn umschmeichelnden Blumenmädchen. Er gerät in die Pornographie-Falle, ist der Übersexualisierung der westlichen Welt ausgesetzt. Hier trifft er auf Kundry. Sie ist die einzige, die in der Lage ist, diesen reinen Toren, rein auch in all seiner unwissenden Unschuld, zu verführen, ihn zu vernichten. Sie verstrickt ihn in ein ausgetüfteltes, teuflisches Netz von moderner Psychologie und Seelenführung, eine der abgründigsten Szenen der Opernliteratur – abgründig auch in der Gefahr, in der sich Parsifal befindet wie so viele Jugendliche in unserer Zeit. Doch er fällt – nicht! Im letzten Moment, wo ihn schon die Arme der Verführerin umfangen und er schon unter ihrem Kuß erliegt, da begreift er plötzlich: Er versteht, was er vorher als unwissender Junge nicht verstanden hatte, nämlich die unauslotbare Schuld, an der Amfortas leidet, die Verfallenheit an die Verfehlung, an die Sünde. Und es ist eine unfaßbar schmerzliche Klage, die in ihm nun erklingt, die Klage des Heilands selbst, der in seinem Heiligtum, in den Ritualen und Zeremonien entweiht zu werden droht, weil er von dem Priester verunehrt wird, anstatt, daß der die Sünde beim Namen nennt, sie bekämpft und Vergebung erlangt. Der Heiland klagt: „Erlöse, rette mich aus schuldbefleckten Händen!“ Parsifal erkennt die Schuld des Amfortas, er hört die Klage des Erlösers und er erkennt erstmals seine eigene Berufung, seine Aufgabe. Er muß der Ritterschaft Rettung bringen, er muß das große Werk Gottes wieder ins Reine bringen, die Verfallenheit in der Kirche an die Schuld überwinden.

Diese gerade erst erkannte Berufung nun wird auf eine denkbar schwere Probe gestellt. Denn Kundry gibt sich nun auch zu erkennen als eine seit langem Verfluchte, nämlich vom Tag der Kreuzigung her, als sie Jesus auf seinem Weg zur Richtstätte, beladen mit dem Kreuz, verlästert von der Menge, gepeinigt von den Soldaten, sah – und lachte. Das Unfaßbare dieses Frevels wird durch einen musikalischen Höllensturz faßlich gemacht: ohne jede instrumentale Begleitung stürzt die Stimme Kundrys über viele Oktaven hinab ins Nichts. Jesus schaute sie an, sein Blick traf sie, ein Blick, der sie nun seit diesem Tag verfolgt, über Jahrhunderte, von Welt zu Welt, beladen mit Schuld und Fluch, sich sehnend mit allen Fasern ihres Daseins nach Erlösung. Sie erweist sich damit als die legendäre Figur des „ewigen Juden“, der so verflucht wurde, nicht zu sterben, bis Jesus wiederkommt. Damit steht sie aber auch für die Bekehrung der Juden am Ende der Zeit.

Doch Parsifal, kann ihr nicht helfen, nicht auf die Art, die sie sich zurechtlegt. Sie ist zu sehr in die Schuld verstrickt. Sie muß sich von diesem versklavten Willen abwenden, muß das Sehnen überwinden, sich ergeben, sich loslassen. Das ist es, was Parsifal erkennt, daher vermag er diese erste und schwerste Probe seiner Berufung zu bestehen. Am Ende eilt Klingsor herbei, doch vergeblich. Der von ihm geworfene Speer schwebt über Parsifal, der ihn ergreift und mit ihm das Zeichen des Kreuzes schlägt. Donnernd fällt Klingsors Reich in sich zusammen. Von Kundrys bitterem Fluch auf lange Irrfahrt geschickt, tritt Parsifal den letzten Teil seines Weges an.

Das Vorspiel zum III. Akt zeichnet den langen Weg gefahrvollen Irrens nach, eine Musik, die selber um ihr tonales Zentrum herumirrt, es erst am Ende erreicht, so wie Parsifal, der seine Berufung vor Augen hat und nun die Gralsburg wieder betritt, den heiligen Hain, der aber in tiefem Schlaf, in Mattigkeit und Erschöpfung dahinsiecht. Es ist ein Tiefpunkt der Kirche, den wir erreicht haben, wie er tiefer kaum noch gedacht werden kann. Hier kann nur ein von Grund auf neues Bauen, Erbauen helfen, „alles in Christus erneuern“, wie schon der Wahlspruch des heiligen Papstes Pius X. war.

Nur drei Personen sind in der ersten Hälfte dieses Schlußaktes auf der Bühne: Gurnemanz, Kundry und Parsifal. Kundry selbst ist gebrochen, stumm. Nur zwei Worte sagt die ehemals so Wortreiche: „Dienen, dienen.“ Sie hat sich von allem Sehnen und versklavten Wollen abgewendet, hat sich zurückwerfen lassen auf ein schlichtes Dasein für Gott, das, was Luzifer und die aufgeklärte moderne Welt nicht wollen. Ihr wird geholfen werden.

Der greise Gurnemanz empfängt den fremden Ritter mit schmerzlicher Verwunderung. Es ist schließlich der Morgen des Karfreitags, da zieht man nicht mit Waffen umher. Parsifal bleibt zunächst stumm. Er steckt den heiligen Speer aufrecht, die Spitze nach oben gerichtet, in den Boden, setzt den Helm ab und verrichtet ein stilles Gebet. Nun erkennt Gurnemanz den ehemaligen Jugendlichen, erkennt aber vor allem auch den heiligen Speer. Eine Ahnung überkommt ihn, eine Hoffnung auf Rettung aus tiefer Not. Wir sehen nun die ersten Anfänge der Erhebung Parsifals zum neuen Anführer der Gralsritterschaft, zum neuen König und zum Verwalter des heiligen Grals. Das Waschen der Füße Parsifals und das Salben des Haars zeigen die  Priesterweihe und die Salbung zur königlichen Würde sinnenfällig an. Die erste Handlung, die Parsifal selbst vollzieht, ist die Taufe Kundrys: „Die Taufe nimm’, und glaub’ an den Erlöser.“ Sie ist nun reingewaschen von ihrer uralten Schuld, still schaut sie auf zu ihrem Retter, später dann, am Ende des Aktes wird sie still entschlafen. Doch nun geschieht etwas Wunderbares. Die Welt beginnt zu leuchten. „Wie dünkt mich doch die Aue heut’ so schön!“ Wie zum ersten Mal schaut Parsifal in die Welt, wie zum ersten Mal bemerkt er das Blühen und Wachsen der Gräser und Blumen. Das Walten des Frühlings. Und Gurnemanz erklärt ihm: „Das ist Karfreitags-Zauber, Herr!“ Hier aber stutzt Parsifal. Er versteht das tiefe Sinnbild noch nicht. Ihm stellt sich der Karfreitag, der höchste Schmerzenstag, als ganz und gar unvereinbar dar mit allem frohen und farbenprächtigen Gedeihen und Wachsen. Trauer, Klage, Niedergeschlagenheit sollten eigentlich die ganze Schöpfung an diesem Tag kennzeichnen. Doch Gurnemanz erklärt ihm:

„Du sieh’st, das ist nicht so.

Des Sünders Reuethränen sind es,

die heut’ mit heil'gem Thau

beträufet Flur und Au':

der ließ sie so gedeihen.

Nun freut’ sich alle Kreatur

auf des Erlösers holder Spur,

will ihr Gebet ihm weihen.

Ihn selbst am Kreuze kann sie nicht erschauen:

da blickt sie zum erlös’ten Menschen auf;

der fühlt sich frei von Sünden-Angst und Grauen,

durch Gottes Liebesopfer rein und heil:

das merkt nun Halm und Blume aus den Auen,

daß heut’ des Menschen Fuß sie nicht zertritt,

doch wohl, wie Gott mit himmlischer Geduld

sich sein’ erbarmt und für ihn litt,

der Mensch auch heut’ in frommer Huld

sie schont mit sanftem Schritt.

Das dankt dann alle Kreatur,

was all’ da blüht und bald erstirbt,

da die entsündigte Natur

heut’ ihren Unschulds-Tag erwirbt“.

Noch bevor Parsifal dem Amfortas Vergebung und der Gralsritterschaft Erlösung bringt, wird hier die schließliche Versöhnung aller Schmerzen, alles Zorns und aller Leiden im Blühen der Aue, im sanft schwellenden Klingen der Musik, den Sinnen nahegebracht. Vom Tod Jesu wird der Schöpfung ein neuer Anfang gemacht. In der Mitte zwischen dem Kreuz und der Kreatur steht der Mensch, der erlöste Sünder, dessen „Reuethränen“ das Blühen und Wachsen befördern. Diese Reue, diese tiefste Seelenregung, ist in allem Schmerz auch eine helle Freude. Und die Kreatur, die das auf eine ganz eigene unmittelbare Weise spürt, freut sich mit, sie „blickt auf“, zum Menschen, zum von Angst und Grauen befreiten Menschen. Das Licht der Osternacht wird bereits am Karfreitag leise sichtbar.

Wagner selbst hat mit dem „Parsifal“ die Hoffnung verbunden, daß es nachdenkliche Menschen gibt, die sich davon anregen lassen, ihr Leben von dieser Sicht her neu zu sehen, neu zu besinnen. Eine solche Besinnung muß am Ende jede und jeder selbst vornehmen. Doch die Kirche darf nicht vergessen, danach zu streben diese erneuerte Gralsbruderschaft zu werden, die den wahren heiligen Gral, der ewiges Leben schenkt, immer vor Augen hat, zum Mensch gewordenen Gott aufschaut und die Menschen von Klingsors Verblendung wegführt. Auch wenn Klingsors Reich schon so viel Schaden in der Kirche angerichtet hat, wird es doch durch Kreuz und Leiden besiegt, wird alles in Christus  erneuert und können wir dazu mitwirken, indem wir die Erlösung, die heilige Eucharistie wieder in den Mittelpunkt stellen und den Vorrang des Überirdischen und Ewigen vor dem Irdischen und Zeitlichen verkünden!.

 

Foto: (c) Wikipedia


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