Die katholische Brüderlichkeit ist verwundet!

2. April 2021 in Aktuelles


Die Feier der Passion zusammen mit Papst Franziskus - Papstprediger Cantalamessa warnt vor Spaltungen in der Kirche: "Nein,es ist die politische Option, wenn sie die religiöse und kirchliche ablöst und eine Ideologie vertritt."


Rom (kath.net)

Am heutigen Karfreitag stand Papst Franziskus um 18 Uhr der Feier der Passion des Herrn am Kathedra-Altar der Vatikanbasilika vor. Nach der Anfangsprozession macht der Papst eine Niederwerfung vor den Stufen des Presbyteriums.

Die dreifache Enthüllung des Kreuzes ging dem Akt der Anbetung voraus. Nach der Anbetung des Kreuzes stand der  Papst der  stillen Anbetung der Versammlung vor.

Während des Wortgottesdienstes wurde der Passionsbericht nach Johannes gelesen, dann hielt der Prediger des Päpstlichen Hauses, P. Raniero Cantalamessa O.F.M.Cap. die Predigt. Er stellte sie ausgehehend von der Enzyklika "Fratelli tutti" von Papst Franziskus unter das Thema der Brüderllichkeit: "Der Erstgeborene unter vielen Brüdern" (vgl. Röm 8,29). Der Prediger konzentrierte sich auf die christologische Dimension der Brüderlichkeit.

 

Karfreitagspredigt 2021 im WORTLAUT:

 

Am 3. Oktober letzten Jahres hat der Heilige Vater am Grab des heiligen Franziskus in Assisi seine Enzyklika über die Brüderlichkeit „Fratres omnes" (Fratelli tutti) unterzeichnet. In kurzer Zeit hat das Schreiben in vielen Herzen die Sehnsucht nach diesem universellen Wert geweckt, es hat die vielen Wunden aufgezeigt, die ihm in der heutigen Welt entgegenstehen, es hat einige Wege aufgezeigt, um eine wahre und gerechte menschliche Brüderlichkeit zu erreichen, und es hat alle - Personen und Institutionen - ermahnt, dafür zu arbeiten.

Die Enzyklika richtet sich im Idealfall an ein sehr breites Publikum, innerhalb und außerhalb der Kirche: praktisch an die gesamte Menschheit. Sie erstreckt sich über viele Lebensbereiche: vom Privaten zum Öffentlichen, vom Religiösen zum Sozialen und Politischen. Angesichts dieses universalen Horizonts vermeidet sie zu Recht, den Diskurs auf das zu beschränken, was den Christen eigen ist und sie ausmacht. Es gibt jedoch gegen Ende der Enzyklika einen Absatz, in dem das Evangelien gemäße Fundament der Brüderlichkeit in wenigen, aber lebendigen Worten zusammengefasst wird. Hier steht:

„Andere trinken aus anderen Quellen. Für uns liegt diese Quelle der Menschenwürde und Brüderlichkeit im Evangelium Jesu Christi. Daraus entspringt für das christliche Denken und für das Handeln der Kirche der Vorrang der Beziehung, der Begegnung mit dem heiligen Geheimnis des Anderen, der universalen Gemeinschaft mit der ganzen Menschheit als Berufung aller.“ (FO, 277)

Das Geheimnis, das wir feiern, drängt uns, uns genau auf dieses christologische Fundament der Geschwisterlichkeit zu konzentrieren, denn es gründet im Kreuz.

Im Neuen Testament bedeutet „Bruder" in einem ursprünglichen Sinn die Person, die von demselben Vater und derselben Mutter geboren wurde. „Brüder" werden in zweiter Linie diejenigen genannt, die demselben Volk und derselben Nation angehören. So sagt Paulus, dass er bereit ist, anathema zu werden, getrennt von Christus, um seiner Brüder willen dem Fleische nach, die die Israeliten sind (vgl. Röm 9,3). Es ist klar, dass in diesem Zusammenhang, wie auch in anderen, der Begriff „Brüder" Männer und Frauen, Brüder und Schwestern mit einschließt.

In dieser Horizonterweiterung kommen wir dazu, jeden Menschen einen Bruder zu nennen, weil er ein solcher auch ist. Der Bruder ist das, was die Bibel den „Nächsten" nennt. „Wer seinen Bruder nicht liebt..." (1 Joh 2,9) bedeutet: wer seinen Nächsten nicht liebt. Wenn Jesus sagt: „Was ihr für einen dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan". (Mt 25,40), meint er jeden hilfsbedürftigen Menschen.

Aber zusätzlich zu all diesen alten und vertrauten Bedeutungen wird das Wort „Bruder" im Neuen Testament immer deutlicher zu einem Hinweis auf eine ganz bestimmte Kategorie von Menschen. Mit „Brüder“ bezeichnen sie die Jünger Jesu, diejenigen, die seine Lehren annehmen. „Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, ist für mich Bruder und Schwester und Mutter" (Mt 12,48-50).

In dieser Linie markiert Ostern eine neue und entscheidende Etappe. Dank ihr wird Christus „der Erstgeborene unter vielen Brüdern" (Röm 8,29). (Röm 8:29). Die Jünger werden zu Brüdern in einem neuen und sehr tiefen Sinn: Sie teilen nicht nur die Lehre Jesu, sondern auch seinen Geist, sein neues Leben als der Auferstandene. Es ist bezeichnend, dass Jesus seine Jünger erst nach seiner Auferstehung zum ersten Mal „Brüder" nennt: „Geh zu meinen Brüdern", sagt er zu Maria von Magdala, „und sage ihnen: 'Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott'" (Joh 20,17). „Der, der heiligt, und die, die geheiligt werden", so lesen wir im Hebräerbrief, „stammen alle aus demselben Ursprung; darum schämt er [Christus] sich nicht, sie Brüder zu nennen". (Heb 2,11).

Nach Ostern ist dies die häufigste Verwendung des Begriffs „Bruder“; er bezeichnet den Glaubensbruder, ein Mitglied der christlichen Gemeinschaft. Brüder „dem Blute nach" wird hier als „durch das Blut Christi“ verstanden! Das macht die Geschwisterlichkeit in Christus zu etwas Einzigartigem und Transzendentem, verglichen mit jeder anderen Art von Geschwisterlichkeit, und ist darauf zurückzuführen, dass Christus auch Gott ist. Sie ersetzt nicht die anderen Arten von Brüderlichkeit, die auf Familie, Volk und Nation basieren, sondern überhöht sie. Alle Menschen sind Brüder, insofern sie Geschöpfe desselben Gottes und Vaters sind. Dem fügt der christliche Glaube einen zweiten entscheidenden Grund hinzu: Wir sind Brüder nicht nur durch die Schöpfung, sondern auch durch die Erlösung; nicht nur, weil wir alle denselben Vater haben, sondern weil wir alle denselben Bruder haben, Christus, den „Erstgeborenen unter vielen Brüdern".

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In Anbetracht all dessen müssen wir nun einige aktuelle Überlegungen anstellen. Die Brüderlichkeit beginnt beim Nächsten, bei uns, nicht mit großen Plänen, mit ehrgeizigen und abstrakten Zielen. Das bedeutet, dass die universelle Brüderlichkeit für uns mit der Brüderlichkeit in der katholischen Kirche beginnt. Ich lasse einmal den zweiten Kreis beiseite, der die Brüderlichkeit unter allen Gläubigen in Christus ist, also die Ökumene.

Die katholische Brüderlichkeit ist verwundet! Die Tunika Christi ist durch die Spaltungen zwischen den Kirchen in Stücke zerrissen worden; aber - was nicht weniger schwerwiegend ist - jedes Stück der Tunika wird oft in weitere Stücke zerrissen. Ich spreche natürlich von dem menschlichen Element der Tunika, denn die wahre Tunika Christi, sein mystischer, vom Heiligen Geist belebter Leib, wird niemals von jemandem zerrissen werden können. In den Augen Gottes ist die Kirche „eins, heilig, katholisch und apostolisch" und wird dies bis zum Ende der Welt bleiben. Das entschuldigt aber nicht unsere Spaltungen, sondern macht sie nur noch schuldhafter und muss uns noch stärker dazu antreiben, sie zu heilen.

Was ist die häufigste Ursache für Spaltungen unter Katholiken? Es ist nicht das Dogma, es sind nicht die Sakramente und die Ämter: alles Dinge, die wir durch die einzigartige Gnade Gottes unversehrt und einstimmig bewahren. Nein,es ist die politische Option, wenn sie die religiöse und kirchliche ablöst und eine Ideologie vertritt. Dies ist der eigentliche Faktor der Spaltung in bestimmten Teilen der Welt, auch wenn er verschwiegen oder verächtlich geleugnet wird. Dies ist eine Sünde, im wahrsten Sinne des Wortes. Es bedeutet, dass das „Reich dieser Welt" im eigenen Herzen wichtiger geworden ist als das Reich Gottes.

Ich glaube, dass wir alle aufgerufen sind, diesbezüglich eine ernsthafte Gewissensprüfung vorzunehmen und uns zu bekehren. Denn das ist schlechthin das Werk dessen, dessen Name „diabolos" ist, d.h. der Spalter, der Feind, der Unkraut sät, wie Jesus ihn in seinem Gleichnis definiert (vgl. Mt 13,25).

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Wir müssen aus dem Evangelium und aus dem Beispiel Jesu lernen. Um ihn herum gab es eine starke politische Polarisierung. Es gab vier Parteien: die Pharisäer, die Sadduzäer, die Herodianer und die Zeloten. Jesus ergriff für keinen von ihnen Partei und widerstand energisch den Versuchen, ihn auf die eine oder andere Seite zu ziehen. Die frühe christliche Gemeinde folgte ihm in dieser Wahl treu. Dies ist ein Beispiel vor allem für Hirten, die sich um die ganze Herde kümmern, nicht nur um einen Teil davon. Sie sind daher die ersten, die eine ernsthafte Gewissensprüfung vornehmen und sich fragen müssen, wohin sie ihre Herde führen: ob auf die eigene Seite oder auf die Seite Jesu. Das Zweite Vatikanische Konzil vertraut vor allem den Laien die Aufgabe an, die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Erwägungen des Evangeliums in Entscheidungen zu übersetzen, die auch anders ausfallen können, sofern sie immer respektvoll gegenüber den anderen und friedvoll sind.

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Wenn es eine Gabe oder ein eigenes Charisma gibt, das die katholische Kirche zum Nutzen aller Kirchen kultivieren muss, dann ist es das der Einheit. Die jüngste Reise des Heiligen Vaters in den Irak ließ uns aus erster Hand erfahren, was es für diejenigen bedeutet, die unterdrückt werden oder nach Krieg und Verfolgung zurückkehren, sich als Teil eines universalen Leibes zu fühlen, sich mit jemandem verbunden wissen, der ihrem Schrei in der ganzen Welt Gehör verschaffen und die Hoffnung wieder aufleben lassen kann. Wieder einmal wurde der Auftrag Christi an Petrus erfüllt: „Stärke deine Brüder". (Lk 22,32).

Zu dem, der am Kreuz gestorben ist, „um die zerstreuten Kinder Gottes zu sammeln" (Joh 11,52), erheben wir an diesem Tag „mit zerknirschtem Herzen und demütigem Sinn" das Gebet, das die Kirche bei jeder Messe vor der Kommunion an Ihn richtet:

Herr Jesus Christus, du hast zu deinen Aposteln gesagt: „Frieden hinterlasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch". Schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche und schenke ihr nach deinem Willen Einheit und Frieden. So bitten wir dich, der du lebst und herrschst in alle Ewigkeit. Amen.

 


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