Kardinal Woelki übersteht „Vorverurteilungen und Nebelkanonen“

20. März 2021 in Kommentar


„Der Versuch, Kardinal Woelki, der möglicherweise wegen manch konservativer Glaubens- und Kirchenhaltung als störend empfunden wird, noch vor Veröffentlichung des Gutachtens waidwund zu schießen, misslang.“ Gastkommentar von Martin Lohmann


Köln (kath.net) In Köln wurde das bislang umfassendste Missbrauchsgutachten veröffentlicht. Das Erzbistum, namentlich sein Erzbischof und Kardinal, hat Wort gehalten und offensichtlich der Kanzlei alle vorhandenen Akten zur juristischen Untersuchung zur Verfügung gestellt. Noch während der Pressekonferenz zog Kardinal Rainer Maria Kardinal Woelki, dem persönlich kein Fehlverhalten nachgewiesen werden konnte, erste personelle Konsequenzen. Alle monatelang vor allem medial befeuerten Attacken gegen ihn, er wolle vertuschen, fielen wie ein billiges Kartenhaus zusammen und zerplatzen an der Faktenlage wie Seifenblasen.

Der Versuch, ihn – der möglicherweise wegen manch konservativer Glaubens- und Kirchenhaltung als störend empfunden wird, weil er in einigen sogenannten Reformprozessen nicht konform mitschwimmt – noch vor Veröffentlichung des für viele unangenehmen und beschämenden Gutachtens waidwund zu schießen, misslang. Es scheint auch nach diesem bisher umfassendsten Aufklärungsschritt eines deutschen Bistums noch ein langer Weg zu sein hin zu einem angemessenen, fairen und sachlicheren Umgang mit Woelki und dem, wofür er – auch kirchenpolitisch – steht. Vielleicht kommt das aber noch. Auch und gerade in und für andere Bistümer, für die Köln nun die Messlatte der Glaubwürdigkeit hoch gelegt hat. Daran wird man Köln selbst messen müssen, vor allem aber auch andere, auch und gerade jene, die überlegt unüberlegt „mitbrüderlich“ Richtung Woelki giftig geschossen hatten.  

Zu den auch medial betriebenen Ablenkungsmanövern, bei denen sich manche, die sich über ihre nicht bewahrheiteten Vorverurteilungen eines Kardinals möglicherweise ärgern und statt einer Selbstkorrektur lieber die Nebelkanonen bedienen, gehört eine bemerkenswerte Mentalakrobatik, die hier nur allgemein aufgegriffen werden kann und soll. Fangen wir bei der Inkriminierung der Sexualmoral der Kirche an. Es ist schon erstaunlich, wie geradezu krampfhaft manche alles (der)suchen, um Klarheit zu vermeiden.

Immer wieder höre ich – und werde gelegentlich auch entsprechend konkret gefragt –, dass eigentlich jeder Missbrauchsfall in der Kirche ein Beleg für die angeblich "veraltete", auf jeden Fall aber "falsche" katholische Sexualmoral sei und man diese schleunigst den "modernen" Gegebenheiten anpassen müsse. Offenbar wissen viele nicht, dass – spätestens seit der "Theologie des Leibes" von Johannes Paul II., der die Sexuallehre von (puritanisch) verstaubten Verklemmungen befreit hat – wieder (eigentlich!) klar sein müsste, dass es bei der Lehre der Kirche um Respekt, Verantwortung und Schönheit geht. Ja, auch um eine geordnete Sexualität, die eben etwas völlig anderes ist als Wollust und Triebhaftigkeit. So gesehen stand Johannes Paul II. sicher gegen den (damaligen) Zeitgeist, der uns ja einreden wollte, anything goes und Freiheit bestünde im Alles-machen-dürfen. Tatsächlich haben auch einige Geistliche die Herausforderung einer verantworteten Sexualität nicht verstanden und sich sträflich und verbrecherisch seelenschädigend verhalten. Das ist nicht zu rechtfertigen.

Aber die Pseudologik, für ein der Sexuallehre diametral entgegengestelltes (Fehl)Verhalten nun die Lehre der Kirche verantwortlich machen zu wollen, hat letztlich dieselbe (Un)Logik wie der Hinweis, dass jemand im Straßenverkehr durch massives Übertreten der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit einen schweren Unfall verursachte und daher ein Beleg für die Falschheit der Straßenverkehrsordnung sei. Wer sich mit (seelen)tödlichen Folgen nicht an die Regeln hält, handelt verantwortungslos und verstößt gegen eine notwendige und schützende Ordnung, die selbstverständlich dann nicht einfach abgeschafft oder verändert werden sollte. Im Gegenteil. Logischerweise belegen Verstöße mit erkennbaren Schäden die Notwendigkeit der Ordnung und der Lehre.

Wer erinnert sich eigentlich noch, dass die Kirche sich in den damals als so fortschrittlich empfundenen 70er und 80er Jahren von ganz „Aufgeklärten“ der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, weil sie sich nicht in der Lage sah, jede Form der Verantwortung beiseite zu schieben? Während zum Beispiel prominente Grüne forderten, die Pädophilie endlich freizugeben und den Trieben freien Lauf zu gönnen, wurde nicht selten die Kirche mit ihrer Überzeugung von einer in Verantwortung gestalteten Sexualität verspottet und als ewig gestrig verhöhnt. Heute wird ausgerechnet diese Lehre – von denselben, die damals für eine verantwortungslose und vermeintliche Freiheit plädierten? – als überkommen und gestrig diskreditiert. Ist das logisch? Ist das aufrichtig? Ist das ehrlich? Ist das dem gebotenen Respekt, den jeder nicht zuletzt im Blick auf Sexualität verdient, entsprechend?

Es ist übrigens sicher auch verständlich, dass nach der Veröffentlichung des Gutachtens in Köln eifrig darauf verwiesen wird, dieses reiche nicht. Aber auch hier darf mal nachgefragt werden, warum dieses Bohren exklusiv im Blick auf Köln und Woelki betrieben wird. Was ist mit anderen Bistümern, anderen Bischöfen? Und überhaupt, um mal den Blick etwas zu weiten: Warum beginnen nicht auch andere Institutionen endlich mit der ehrlichen Aufarbeitung ihrer sexuellen Missbrauchsgeschichte? Was ist mit den Grünen? Was mit den evangelischen Kirchen? Was ist mit den Sportverbänden? Was mit den Medienhäusern? Wäre es jetzt nicht an der Zeit, auch in diese Richtungen zu leuchten und bohrend nachzufragen?

Nicht die Straßenverkehrsordnung ist schuld, wenn es kriminelle und lebensgefährdende Falschfahrer gibt. Nicht die Sexuallehre ist schuld, wenn es hier seelenzerstörende Falschfahrer und hemmungslose Verbrecher gibt. So wenig, wie der von vielen unverstandene Zölibat als Zeichen der möglichen Enthaltsamkeit und Treue schuld daran ist, wenn zum Zölibat verpflichtete Personen überfordert sind und sich sträflich vergehen. Wer jetzt ernsthaft meint, die Abschaffung dieser Verpflichtung für Priester und Ordensleute sei Teil einer Lösung des Problems, muss schon erklären können, warum es sexuellen Missbrauch auch und sogar mehr dort gibt, wo keine Verpflichtung zum Zölibat gegeben ist. Wie will man bei dieser schrägen Logik eigentlich erläutern, warum es ausgerechnet bei Familien überdurchschnittlich viele Missbrauchsfälle gibt?

Die Konsequenz, die Köln versprochen und gehalten hat und die augenscheinlich vom dortigen Kardinal weiter handelnd gelebt werden soll, wäre für viele in und außerhalb der Kirche nunmehr eine gute Gelegenheit, sich dem beschämenden und auch schrecklichen Thema scheuklappenfrei und den Opfern gerecht werdend mutig zu stellen – unabhängig von der jeweiligen konservativen oder sogenannt reformorientierten Überzeugung in anderen Fragen. Übrigens auch unabhängig davon, ob man Rainer Kardinal Woelki mag oder nicht. Denn darum geht es nicht wirklich. Es geht im Kern um Mut, Aufklärung, Opferschutz, Selbstkorrektur, Respekt und Glaubwürdigkeit. Überall.

Archivfoto Martin Lohmann (c) Lohmann Media
 


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