"Gesegnete Weihnachten! Was Weihnachten bedeutet, erkannte ich in meiner traumatischen Kindheit"

22. Dezember 2020 in Spirituelles


"Als Neunjähriger erlebte ich vor 76 Jahren in meiner westpreußischen Heimatstadt Neuteich ein unbeschwertes Weihnachtsfest. Einen Monat später, am 22. Januar 1945, flohen wir im eiskalten Morgengrauen mit Pferd und Wagen..." Von Günther Klempnauer


München (kath.net) Gesegnete Weihnachten! Was Weihnachten bedeutet, erkannte ich in meiner traumatischen Kindheit.

Weihnachten heißt nach Hause kommen


Weihnachten steht vor der Tür. Corona sollte draußen bleiben. Wer möchte nicht nach Hause kommen und mit seinen engsten Angehörigen feiern. Wenigstens einmal im Jahr dem angstmachenden Weltgetöse entfliehen und in die heimatliche Geborgenheit im trauten Familienkreis eintauchen und Weihnachtserinnerungen auszutauschen.


Als Neunjähriger erlebte ich vor 76 Jahren in meiner westpreußischen Heimatstadt Neuteich ein unbeschwertes Weihnachtsfest. Unsere wohlhabende Großfamilie scharte sich um den kunstvoll geschmückten Tannenbaum, sang Weihnachtslieder, verzehrte eine leckere Weihnachtsgans, verteilte wertvolle Geschenke und genoss die wohltuende Wärme in einer frostigen Winternacht. Für uns eine heile Innenwelt. Fast wie heute. Nur draußen tobte das katastrophale Kriegsende.

Einen Monat später, am 22. Januar 1945, flohen wir im eiskalten Morgengrauen mit Pferd und Wagen vor den Sowjetsoldaten, die uns in Danzig einholten und auch unsere harmonische Familienwelt zerstörten. Mein Vater kämpfte an der Ostfront, meine Großmutter verbrannte im Bombenhagel, mein Großvater verhungerte, meine Mutter sowie meine 12-jährige Schwester wurden von den Russen vergewaltigt. Als verzweifelte Flüchtlinge kehrten wir nach Neuteich zurück. Unsere prächtige Villa lag in Schutt und Asche. Auf der polnischen Kommandantur wurden wir als Kapitalisten beschimpft und verbannt in eine verkommene Kate mit Lehmfußboden und Ratten als Mitbewohner. Ohne Wasser, Licht und Heizung. Hier feierten wir Weihnachten 1945. An der Stubenwand hing ein Bild mit dem Spruch „Gott wird sorgen heut und morgen.“  Unsere Mutter sang „Ich steh an deiner Krippe hier, o Jesu, du mein Leben...“ Ihre tränenerstickte Stimme erfüllte die von Kerzenlicht erleuchtete stallähnliche Notunterkunft: „Ich lag in tiefster Todesnacht. Du warest meine Sonne…O Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht`. Wie schön sind deine Strahlen.“ Gott wird Mensch und ist auch in dieser armseligen Hütte unter uns. Welch ein Wunder! In dieser Heiligen Nacht fühlten wir uns - wie die Hirten auf dem Felde – von der Friedensbotschaft angerührt: „Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch große Freude; denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Friedrich von Bodelschwingh, der Waisenvater von Bethel, hat es treffend ausgedrückt: „Nach Hause kommen, das ist es, was das Kind von Bethlehem allen schenken will, die weinen, wachen und wandern auf dieser Erde.“

Inzwischen bin ich 84 Jahre auf dieser Erde gewandert, und der Stern von Bethlehem hat sich bis heute als ein zuverlässiger Navigator erwiesen, der mir immer wieder den Weg nach Hause zeigt und am Ende in den Himmel führt. Weihnachten, die Menschenfreundlichkeit des sich offenbarenden Gottes, ist für mich wie ein Leuchtturm auf dem Fels in der schäumenden Brandung. Wer sich im Glauben bei Gott zu Hause fühlt, hat eine kraftspendende Zukunftsperspektive, um die gegenwärtigen privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Konfliktsituationen zu bewältigen. Weihnachten heißt nach Hause kommen. Wir werden sehnsüchtig erwartet, nicht nur von unsern Lieben. Gesegnete Weihnachten!

Textauszug aus dem Buch: Günther Klempnauer – Als die Russen kamen. Kindheitsträume, Fluchttragödien, Versöhnung. SCM Hänssler 2002, ISBN 978-3775139090


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