Papst erinnert an unsere Behinderten, bedroht durch die „Wegwerfkultur“

4. Dezember 2020 in Prolife


Papstbotschaft zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung: "Es ist ... wichtig, eine Kultur des Lebens zu fördern, die unermüdlich die Würde jedes Menschen betont, insbesondere zum Schutz von Männern und Frauen mit Behinderung."


Vatikan (kath.net) kath.net dokumentiert die Botschaft des Heiligen Vaters, Papst Franziskus, zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung (3. Dezember 2020) in voller Länge:

 

Liebe Brüder und Schwestern!

Die Feier des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung nehme ich in diesem Jahr zum Anlass, euch allen meine Nähe zum Ausdruck zu bringen, die ihr in dieser Pandemiekrise besondere Schwierigkeiten durchlebt. Wir sitzen alle im gleichen Boot mitten auf rauer See, die uns Angst einjagen kann; in diesem Boot aber haben einige stärker zu kämpfen, darunter Menschen mit schweren Behinderungen.

Das diesjährige Thema lautet „Besser wiederaufbauen – hin zu einer inklusiven, zugänglichen und nachhaltigen Welt nach COVID-19“. Der Ausdruck „besser wiederaufbauen“ spricht mich besonders an. Er lässt uns an das biblische Gleichnis vom Haus auf dem Felsen oder auf dem Sand (vgl. Mt 7,24-27; Lk 6,47-49) denken. Daher nutze ich diese gute Gelegenheit, um eben von diesem Gleichnis aus einige Überlegungen vorzutragen.

1. Die Bedrohung durch die „Wegwerfkultur“

Zunächst können der „Wolkenbruch“, die „Wassermassen“ und die „Stürme“, die das Haus bedrohen, mit der in unserer Zeit weit verbreiteten „Wegwerfkultur“ identifiziert werden (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 53). Für sie scheinen »Teile der Menschheit […] geopfert werden zu können zugunsten einer bevorzugten Bevölkerungsgruppe, die für würdig gehalten wird, ein Leben ohne Einschränkungen zu führen. Im Grunde werden die Menschen nicht mehr als ein vorrangiger, zu respektierender und zu schützender Wert empfunden, besonders, wenn sie arm sind oder eine Behinderung haben« (Enzyklika Fratelli tutti, 18).

Diese Kultur trifft vor allem die schwächsten Bevölkerungsgruppen, zu denen auch Menschen mit Behinderung gehören. In den letzten fünfzig Jahren wurden sowohl auf Ebene der zivilen Institutionen als auch auf Ebene des kirchlichen Lebens wichtige Schritte unternommen. Das Bewusstsein für die Würde jedes Menschen ist gewachsen, und dies hat dazu geführt, dass mutige Entscheidungen für die Inklusion von Menschen mit körperlicher und/oder psychischer Einschränkung getroffen wurden. Doch auf kultureller Ebene gibt es immer noch zu viele Stimmen, die dieser Richtung faktisch widersprechen. Man trifft ablehnende Haltungen an, die auch aus einer narzisstischen und utilitaristischen Mentalität heraus zur Marginalisierung führen. Dabei wird nicht bedacht, dass alle an der Gebrechlichkeit Anteil haben. In Wirklichkeit gibt es Menschen mit selbst schweren Behinderungen, die – wenn auch mit Mühe – den Weg zu einem guten und sinnvollen Leben gefunden haben. Andererseits gibt es viele „normal Begabte“, die dennoch unzufrieden oder manchmal sogar verzweifelt sind. »Die Verletzlichkeit gehört zum Wesen des Menschen« (Ansprache anlässlich der Tagung „Katechese und Menschen mit Behinderung“, 21. Oktober 2017).

Deshalb ist es gerade an diesem Tag wichtig, eine Kultur des Lebens zu fördern, die unermüdlich die Würde jedes Menschen betont, insbesondere zum Schutz von Männern und Frauen mit Behinderung aller Altersgruppen und unter allen sozialen Bedingungen.

2. Der „Fels“ der Inklusion

Die gegenwärtige Pandemie hat die Ungleichheiten und Unterschiede, die unsere Zeit kennzeichnen, noch deutlicher hervortreten lassen, besonders auf Kosten der Schwächsten. »Während das Virus keine Unterschiede zwischen den Menschen macht, ist es auf seinem verheerenden Weg auf große Ungleichheiten und Diskriminierungen gestoßen. Und es hat sie vermehrt!« (Katechese bei der Generalaudienz am 19. August 2020).

Aus diesem Grund ist ein erster „Fels“, auf dem wir unser Haus bauen sollen, die Inklusion. Auch wenn dieser Begriff manchmal missbraucht wird, ist das biblische Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) stets aktuell. In der Tat begegnen wir auf unserem Lebensweg oft verletzten Menschen, die mitunter eben die Züge von Behinderung und Zerbrechlichkeit tragen. »Die Inklusion oder die Exklusion des am Wegesrand leidenden Menschen bestimmt alle wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder religiösen Vorhaben. Jeden Tag stehen wir vor der Wahl, barmherzige Samariter zu sein oder gleichgültige Passanten, die distanziert vorbeigehen« (Enzyklika Fratelli tutti, 69).

Inklusion sollte der „Fels“ sein, auf dem die Programme und Initiativen der zivilen Institutionen aufbauen, damit niemand ausgeschlossen wird, vor allem nicht Menschen in größten Schwierigkeiten. Die Stärke einer Kette hängt davon ab, wie sehr man sich um die schwächsten Glieder kümmert.

Was die kirchlichen Einrichtungen anbelangt, so betone ich die Notwendigkeit, geeignete und zugängliche Instrumente für die Glaubensweitergabe zu schaffen. Ich hoffe zudem, dass diese Mittel denen, die sie benötigen, möglichst kostenlos zur Verfügung gestellt werden, auch durch die neuen Technologien, die sich in dieser Zeit der Pandemie für alle als so wichtig erwiesen haben. Gleichfalls ermutige ich, für Priester, Seminaristen, Ordensleute, Katecheten und pastorale Mitarbeiter eine Grundausbildung im Umgang mit Behinderung und in der Benutzung inklusiver pastoraler Instrumente durchzuführen. Die Pfarrgemeinden sollen sich darum bemühen, unter den Gläubigen eine Willkommenskultur für Menschen mit Behinderung zu fördern. Die Schaffung einer voll zugänglichen Gemeinde erfordert nicht nur die Beseitigung architektonischer Barrieren, sondern vor allem eine solidarische Haltung und ein hilfsbereites Handeln seitens der Gemeindemitglieder gegenüber Menschen mit Behinderung und ihren Familien. Das Ziel ist, dass wir nicht mehr von „ihnen“, sondern nur noch von „uns“ sprechen.

3. Der „Fels“ der aktiven Beteiligung

Um unsere Gesellschaft „besser wiederaufzubauen“, muss die Inklusion der schwächsten Personen auch die Förderung ihrer aktiven Beteiligung beinhalten.

Zuallererst bekräftigte ich nachdrücklich das Recht von Menschen mit Behinderung, wie alle anderen Mitglieder der Kirche die Sakramente zu empfangen. Alle liturgischen Feiern in der Pfarrei sollen zugänglich sein, damit jeder zusammen mit seinen Brüdern und Schwestern seinen Glauben vertiefen, feiern und leben kann. Besondere Aufmerksamkeit muss den Menschen mit Behinderung gelten, die noch nicht die Sakramente der christlichen Initiation empfangen haben: Sie können an den katechetischen Kursen zur Vorbereitung auf deren Empfang teilnehmen. Die Gnade, die diese Sakramente vermitteln, darf niemandem verwehrt werden.

»Kraft der empfangenen Taufe ist jedes Mitglied des Gottesvolkes ein missionarischer Jünger geworden (vgl. Mt 28,19). Jeder Getaufte ist, unabhängig von seiner Funktion in der Kirche und dem Bildungsniveau seines Glaubens, aktiver Träger der Evangelisierung« (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 120). Deshalb verlangen auch die Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft wie in der Kirche, aktive Personen in der Pastoral zu sein und nicht nur Empfänger. »Viele Menschen mit Behinderung fühlen sich ohne Zugehörigkeit und Beteiligung. Es gibt immer noch vieles, was ihnen eine volle Teilhabe verunmöglicht. Die Aufgabe besteht nicht nur darin, diesen Menschen zu helfen, sondern es geht um ihre aktive Teilnahme an der zivilen und kirchlichen Gemeinschaft. Das ist ein anstrengender, ja beschwerlicher Weg, der aber nach und nach dazu beitragen wird, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass jeder Mensch eine einzigartige und unwiederholbare Person ist« (Enzyklika Fratelli tutti, 98). In der Tat stellt die aktive Teilnahme von Menschen mit Behinderung an der Katechese einen großen Reichtum für das gesamte Pfarrleben dar. Denn durch die Taufe Christus eingegliedert, nehmen sie mit ihm in ihrer besonderen Verfassung Teil am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt und evangelisieren so durch, mit und in der Kirche.

Daher stellt auch die Präsenz von Menschen mit Behinderung unter den Katecheten mit ihren je eigenen Fähigkeiten eine Ressource für die Gemeinschaft dar. In diesem Sinne soll ihre Ausbildung gefördert werden, damit sie auch auf theologischem und katechetischem Gebiet eine bessere Vorbereitung erhalten. Ich hoffe, dass in den Pfarrgemeinden Menschen mit Behinderung immer mehr Katecheten werden können, um auch durch ihr eigenes Zeugnis den Glauben auf wirksame Weise zu vermitteln (vgl. Ansprache anlässlich der Tagung „Katechese und Menschen mit Behinderung“, 21. Oktober 2017).

»Schlimmer als die gegenwärtige Krise wäre nur, wenn wir die Chance, die sie birgt, ungenutzt verstreichen ließen« (Homilie am Hochfest Pfingsten, 31. Mai 2020). Deshalb ermutige ich alle, die sich tagtäglich und oft still zugunsten von Situationen der Zerbrechlichkeit und der Behinderung einsetzen. Möge der gemeinsame Wunsch, „besser wiederaufzubauen“, Synergien zwischen zivilen und kirchlichen Organisationen schaffen, um gegen jedes Unwetter ein solides „Haus“ zu bauen, das in der Lage ist, auch Menschen mit Behinderung aufzunehmen, weil es auf den Felsen der Inklusion und aktiven Beteiligung gebaut ist.

Rom, St. Johannes im Lateran, 3. Dezember 2020

Franziskus


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