Maroniten-Patriarch Rai warnt Politik: "Libanon stirbt"

29. November 2020 in Aktuelles


Libanesischer Kardinal traf vor Abreise zum Kardinalskonsistorium im Vatikan mit Staatspräsident Aoun zusammen - Kritik an Vorgehen von designiertem Premier Hariri bei Verhandlungen um Regierungsbildung.


Beirut (kath.net/ KAP)

Der maronitische Patriarch Kardinal Bechara Rai hat zur sofortigen Bildung einer Regierung im Libanon aufgerufen. "Das Land stirbt, und dies ist nicht der Weg, um Regierungen zu bilden", kritisierte er laut einer am Mittwochabend auf Facebook verbreiteten Mitteilung des Patriarchats nach einem Treffen mit dem libanesischen Präsidenten Michel Aoun das Vorgehen des designierten Ministerpräsidenten Saad Hariri bei den Verhandlungen um eine Regierungsbildung.

Die Verfassung sehe vor, dass die Kabinettsaufstellung fertiggestellt werde, bevor sie dem Präsidenten vorgelegt werde. Eine Regierungsbildung könne "nicht in Raten erfolgen". Kurz vor seiner Abreise nach Rom, wo Rai bei den Feiern zur Ernennung neuer Kardinäle im Vatikan auch Papst Franziskus begegnen wird, forderte das Maroniten-Oberhaupt eine außerordentliche, apolitische und unparteiische Rettungsregierung. Libanon vertrage keinen weiteren Tag der Verzögerung.

Rai rief Hariri und Aoun auf, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und zum Wohl des Landes und seiner Menschen zusammenzuarbeiten. Ferner mahnte der Patriarch zu einer kriminaltechnischen Prüfung der libanesischen Zentralbank "Banque de Liban" sowie aller staatlichen Institutionen.

In Rom wolle er Papst Franziskus dafür danken, dass dieser nach den fatalen Explosionen im Hafen von Beirut "an der Seite des Libanon stand", fügte das Oberhaupt der Maronitischen Kirche hinzu.

 

Patriarch bekräftigt Konzept der Neutralität

Erst am vergangenen Sonntag hatte Patriarch Rai in einem Gottesdienst am libanesischen Nationalfeiertag zum 77. Jahrestag der Verkündigung der libanesischen Unabhängigkeit einmal mehr sein Konzept der Neutralität für den Libanon bekräftigt. Auch in der gegenwärtigen politischen und sozialen Krise, gelte, dass die Neutralität dem Libanon, seiner Wirtschaft und Gesellschaft immer gut getan habe, betonte der Kardinal. Wenn sich dagegen die politischen Eliten auf das Spiel der geopolitischen Kräfte eingelassen hätten, die sich im Nahen Osten feindlich gegenüberstehen, habe das immer negative Auswirkungen auf das libanesische Volk gehabt. Die Gründe für die Bekräftigung einer "aktiven Neutralität" hatte Rai auch in seinem "Memorandum für den Libanon" dargelegt, das Mitte August veröffentlicht worden war.

Die Lähmung der Politik aufgrund von Parteiinteressen, so der Patriarch in seiner Predigt, habe "Korruption und Verschwendung staatlicher Gelder" gefördert und "das Land zum Bankrott und Zusammenbruch" verurteilt. Dies sei ein Verrat an der Verfassung, so der Kardinal-Patriarch. Letztere sei erarbeitet worden, um ein interreligiöses Zusammenleben und eine gleichberechtigte Beteiligung von Christen und Muslimen an der Macht zu gewährleisten. Heute stellten sich aber die institutionellen Strukturen als ausschließliche Vertreter partikulärer Interessen dar. Auf der Grundlage dieser missverständlichen Auslegung werde mit "gekreuzten Vetos" das nationale Leben blockiert.

 

Seit Monaten ohne Regierung

Der Libanon ist seit mehr als drei Monaten ohne Regierung, nachdem Ministerpräsident Hassan Diab nach der verheerenden Explosion am 4. August im Hafen von Beirut zurückgetreten war. Die Verhandlungen über die Bildung einer neuen Regierung zwischen dem designierten Premier Hariri und sowie Staatspräsident Aoun stehen wegen der Manöver der politischen Parteien still. Zum 77. Jahrestag der Verkündigung der libanesischen Unabhängigkeit hatte Präsident Aoun am vergangenen Wochenende in seiner Nationalfeiertags-Rede den Druck auf Hariri erhöht.

Aoun, ein maronitischer Katholik, hatte Hariri, er ist sunnitischer Muslim, vor einem Monat mit der Regierungsbildung beauftragt. Zuvor war ein Versuch zur Formierung einer neuen Regierung unter Leitung von Mustafa Adib gescheitert. Hariri war zuletzt ab Ende 2016 für drei Jahre Ministerpräsident des Libanons gewesen.

 

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