„Wir brauchen einen Klimawandel in Sachen Religionsfreiheit“

4. September 2020 in Weltkirche


Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ hat Jan Figel zum Einsatz für Religionsfreiheit sowie seinem persönlichen Zugang zu dem Thema befragt.


Wien-München (kath.net/KIN)

Der slowakische Politiker Jan Figel war von 2016 bis 2019 erster EU-Sonderbeauftragter für Religionsfreiheit außerhalb der Europäischen Union. Nach einigem politischen Tauziehen wird dieses Amt auch unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wieder neu besetzt. Das weltweite päpstliche Hilfswerk „Kirche in Not“ hat Jan Figel zum Einsatz für Religionsfreiheit sowie seinem persönlichen Zugang zu dem Thema befragt. Anlass war der von den Vereinten Nationen ausgerufene „Internationale Gedenktag für die Opfer von Gewalt aufgrund von Religion oder Glauben“ am 22. August. Das Interview führte Josué Villalon.

Josué Villalon: Was verbinden Sie mit dem Gedenktag für die Opfer von Gewalt aufgrund von Religion oder Glauben, den die Vereinten Nationen 2019 zum ersten Mal ausgerufen haben?

Jan Figel: Der Tag ist wichtig, weil es viele Opfer religiöser Verfolgung gibt. Wir können von hunderten Millionen Betroffenen ausgehen. Die Verfolgung aufgrund der Religion nimmt weltweit zu. Viele weitere Millionen Menschen werden aufgrund ihres Glaubens diskriminiert. In der Vergangenheit wurde die Religionsfreiheit in internationalen Abkommen oft vernachlässigt, doch heute ist Religions- und Glaubensfreiheit der Lackmustest für den Status der Menschenrechte.

 

Wie sollte das Gedenken an die Opfer religiöser Verfolgung aussehen?

Sehr wichtig sind die Zeugnisse von Überlebenden. Beim UN-Gedenktag wurden Demonstrationen, Konferenzen, Online-Sitzungen und Webinare veranstaltet. Diese Veranstaltungen sollten in erster Linie dazu dienen, in uns das Bewusstsein für die universale Bedeutung der Religionsfreiheit zu schärfen und der Opfer religiöser Verfolgung zu gedenken. Denn wer das Gedächtnis verliert, verliert seine Identität und Orientierung.

Zum zweiten ist es sehr wichtig, den Fokus auf eine Erziehung zum Zusammenleben in Vielfalt zu legen. Denn Zusammenleben ist mehr als nur zusammen zu existieren. Und drittens müssen Staaten und nationale Autoritäten Gerechtigkeit für alle fördern, denn Frieden ist die Frucht der Gerechtigkeit. Zum Beispiel sind gleiche Bürgerrechte ein großartiger Ausdruck der Gleichheit für alle, sowohl für die Mehrheit der Gesellschaft als auch für Minderheiten.

 

Welche Erfahrungen haben Sie als junger Mensch in einem kommunistischen Land wie der damaligen Tschechoslowakei gemacht?

Ich habe mein halbes Leben lang ohne Freiheit gelebt. Es war eine unmenschliche Situation. Ich bin nach meinem Onkel benannt, der in den 1950er Jahren vom Geheimdienst des damals stalinistischen Staates ermordet wurde. Freiheit ist ein Ausdruck der Menschenwürde, und die Menschenwürde ist die Grundlage aller Menschenrechte. Die Freiheit des Menschen zu verleugnen bedeutet daher, die Menschenwürde zu verleugnen.

 

Warum ist es in diesem Zusammenhang wichtig, die Religionsfreiheit zu schützen?

Die Religions- oder Glaubensfreiheit ist der höchste Ausdruck der Freiheit. Sie umfasst auch die Freiheit des Gewissens. Daher ist sie für Gläubige wie Nicht-Gläubige gleichermaßen wichtig. Sie ist ein zentrales Menschenrecht, da sie mit der Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit verbunden ist. Wird die Religionsfreiheit unterbunden, werden auch andere Rechte und Freiheiten unterdrückt. Deshalb müssen wir uns mehr denn je für Religionsfreiheit einsetzen.

 

Wie kann dieser Einsatz für die Religionsfreiheit aussehen?

Es ist unsere Pflicht, die Opfer von Verfolgung zu schützen. Es ist unsere menschliche Verantwortung, aber es liegt auch im grundlegenden Interesse aller. Die Medien sollten viel mehr über diese Themen und die Situation verfolgter Menschen berichten. Es liegt in unserer Verantwortung, denjenigen eine Stimme zu geben, die keine Stimme haben und sich nicht verteidigen können. Die Welt braucht heute einen „Klimawandel“ in Sachen Religionsfreiheit, denn die Situation ist sehr leidvoll. Millionen Menschen leiden unter religiöser Verfolgung, und der Trend ist besorgniserregend. Diese Tatsachen sollten in der internationalen Gemeinschaft ein größeres Bewusstsein für die Achtung der Religionsfreiheit und die Verteidigung der Menschenwürde überall auf der Welt wecken.

Foto: Rot erleuchtetes Kreuz bei einem Gebetsabend für verfolgte Christen von „Kirche in Not“.  © Kirche in Not


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