Totus tuus. Johannes Paul II. – die Exequien: ‚Folge mir nach!’

9. April 2020 in Aktuelles


Benedikt XVI. – Licht des Glaubens: unser Papst – das wissen wir alle – wollte nie das eigene Leben bewahren, es für sich behalten. Er wollte sich ohne Vorbehalt, bis zum letzten Augenblick für Christus und auch für uns hingeben. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) Vor 15 Jahren, am 8. April 2005, fanden die Exequien und des Begräbnis Johannes Pauls II. statt. Keiner, der dabei war, wird je das Bild des Evangeliums vergessen, das der Wind auf dem Sarg des nunmehr heiligen Papstes durchblätterte – ein eindrucksvolles Zeichen, das den eigentlichen Abschluss eines historischen Pontifikats bildete. Ebenso wird keiner die fulminante Predigt vergessen, die Joseph Kardinal Ratzinger als Dekan des Kardinalkollegiums zu diesem Anlass hielt.

„Wir können sicher sein“, erklärte der Kardinal zum Abschluss seiner Betrachtungen – und zeigte dabei auf das berühmteste Fenster der Welt einer intensiv genutzten Papstwohnung –, „dass unser geliebter Papst jetzt am Fenster des Hauses des Vaters steht, uns sieht und uns segnet. Ja, segne uns, Heiliger Vater. Wir vertrauen deine liebe Seele der Mutter Gottes, deiner Mutter, an, die dich jeden Tag geführt hat und dich jetzt in die ewige Herrlichkeit ihres Sohnes, Jesus Christus unseres Herrn, führen wird“. Und das auf dem Petersplatz versammelte Volk wandte sich hin zu jenem Fenster, von dem aus der Papst die Welt gegrüßt und behütet hatte.

„Folge mir nach“: so fasste Kardinal Ratziger das Leben Karol Józef Wojtyłas zusammen. „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen“ (Lk 17,33): unser Papst, so Ratzinger, „– das wissen wir alle – wollte nie das eigene Leben bewahren, es für sich behalten. Er wollte sich ohne Vorbehalt, bis zum letzten Augenblick für Christus und auch für uns hingeben. Gerade so konnte er erfahren, dass alles, was er in die Hände des Herrn gelegt hatte, in neuer Weise zurückgegeben wurde:

Die Liebe zum Wort, zur Dichtung, zur Literatur war ein wesentlicher Teil seiner Hirtensendung und hat der Verkündigung des Evangeliums neue Frische, neue Aktualität, neue Anziehungskraft verliehen, auch wenn es ein Zeichen ist, dem widersprochen wird“.

Die wahre göttliche Barmherzigkeit, also kein Schleier, unter dem anderes zu verbergen oder zu erwirken wäre: „der Heilige Vater hat den reinsten Widerschein der Barmherzigkeit Gottes in der Mutter Gottes gefunden. Er, der im Kindesalter die Mutter verloren hatte, hat um so mehr die göttliche Mutter geliebt.

Er hat die Worte des gekreuzigten Herrn gehört und auf sich persönlich bezogen: ‚Siehe deine Mutter!’ Und er hat wie der Lieblingsjünger gehandelt: Er hat sie in seinem tiefsten Innern aufgenommen (eis ta idia: Joh 19,27) – ‚Totus tuus’. Und von der Mutter hat er gelernt, Christus ähnlich zu werden“.


Predigt von Joseph Kardinal Ratzinger zu: Feier der Exequien und Begräbnis Seiner Heiligkeit Papst Johannes Pauls II., 8. April 2005:

»Folge mir nach!«, sagt der auferstandene Herr als letztes Wort zu Petrus, zu dem Jünger, der erwählt war, seine Schafe zu weiden. »Folge mir nach!« – Dieses lapidare Wort Christi kann als Schlüssel gelten zum Verständnis der Botschaft, die vom Leben unseres geliebten verstorbenen Papstes Johannes Paul II. ausgeht, dessen sterbliche Hülle wir heute als Samen der Unsterblichkeit in die Erde senken, während unser Herz voll Trauer ist, aber auch voll froher Hoffnung und tiefer Dankbarkeit.

Das sind die Gefühle in unserem Innern, Brüder und Schwestern in Christus hier auf dem Petersplatz, in den angrenzenden Straßen und auf verschiedenen Plätzen der Stadt Rom, die in diesen Tagen von einer überaus großen Menge schweigender und betender Menschen bevölkert ist. Ich grüße alle von Herzen. Auch im Namen des Kardinalskollegiums möchte ich einen ehrerbietigen Gruß an die Staatsoberhäupter, die Regierungschefs und an die Delegationen der verschiedenen Länder richten. Ich grüße die Obrigkeiten und die Repräsentanten der christlichen Kirchen und Gemeinschaften sowie der anderen Religionen. Ich grüße die Erzbischöfe, die Bischöfe, die Priester, die Ordensleute und die Gläubigen, die aus allen Erdteilen gekommen sind; insbesondere die Jugendlichen, die Johannes Paul II. als die Zukunft und Hoffnung der Kirche bezeichnet hat. Mein Gruß gilt darüber hinaus all denen in der ganzen Welt, die über Rundfunk und Fernsehen in dieser gemeinsamen Teilnahme am feierlichen Ritus des Abschieds von diesem geliebten Papst mit uns verbunden sind.

»Folge mir nach!« Als junger Student begeisterte sich Karol Wojtyla für die Literatur, das Theater und die Dichtung. Als er in einer Chemiefabrik arbeitete, umgeben und bedroht vom nationalsozialistischen Terror, hörte er die Stimme des Herrn: »Folge mir nach!« In dieser ganz besonderen Situation begann er, philosophische und theologische Bücher zu lesen, trat dann in das von Kardinal Sapieha im Untergrund geschaffene Priesterseminar ein und konnte nach dem Krieg seine Studien an der theologischen Fakultät der Jagellonen-Universität in Krakau vervollständigen. Oft hat er in seinen Schreiben an die Priester und in seinen autobiographischen Büchern von seinem priesterlichen Dienst gesprochen, zu dem er am 1. November 1946 geweiht worden war. In diesen Texten deutet er sein Priesteramt insbesondere im Licht von drei Worten des Herrn. Vor allem von diesem: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, daß ihr euch aufmacht und Frucht bringt und daß eure Frucht bleibt« (Joh 15,16).

Das zweite Wort lautet: »Der gute Hirt gibt sein Leben hin für die Schafe« (Joh 10,11). Und schließlich: »Wie mich der Vater geliebt hat, so habe ich euch geliebt. Bleibt in meiner Liebe!« (Joh 15,9). In diesen drei Worten erkennen wir die ganze Seele unseres Heiligen Vaters. Er ist wirklich unermüdlich überall hingegangen, um Frucht zu bringen, eine Frucht, die bleibt. »Auf, laßt uns gehen!« lautet der Titel seines vorletzten Buches. »Auf, laßt uns gehen!« Mit diesen Worten hat er uns aus einem müden Glauben, aus dem Schlaf der Jünger von gestern und heute aufgerüttelt. »Auf, laßt uns gehen!« sagt er auch heute zu uns. Der Heilige Vater ist dann Priester bis zum Äußersten gewesen, denn er hat sein Leben Gott dargebracht für seine Schafe und für die ganze Menschenfamilie durch seine tägliche Hingabe im Dienst an der Kirche und vor allem in den schweren Prüfungen der letzten Monate. So ist er eins geworden mit Christus, dem Guten Hirten, der seine Schafe liebt. Und schließlich: »Bleibt in meiner Liebe.« Der Papst, der die Begegnung mit allen gesucht hat, der die Fähigkeit zur Vergebung und zur Offenheit des Herzens gegenüber allen hatte, spricht auch heute zu uns mit diesen Worten des Herrn: Wenn wir in der Liebe Christi bleiben, lernen wir in der Schule Christi die Kunst der wahren Liebe.

»Folge mir nach!« Im Juli 1958 beginnt für den jungen Priester Karol Wojtyla ein neuer Abschnitt auf dem Weg mit dem Herrn und in der Nachfolge des Herrn. Karol war, wie gewohnt, mit einer Gruppe Jugendlicher, die begeisterte Kanufahrer waren, zu den Masurischen Seen in Urlaub gefahren. Aber er hatte einen Brief bei sich, in dem er aufgefordert wurde, sich beim Primas von Polen, Kardinal Wyszyński, vorzustellen, und er konnte den Zweck der Begegnung erraten: seine Ernennung zum Weihbischof von Krakau.

Den Unterricht an der Hochschule aufgeben, diese anregende Gemeinschaft mit den Jugendlichen aufgeben, diesen intellektuellen Wettstreit aufgeben, um das Geheimnis des Menschen zu erkennen und auszulegen, um in der Welt von heute die christliche Verwirklichung unseres Daseins gegenwärtig zu machen – das alles mußte ihm wie eine Selbstaufgabe vorkommen, wie ein Verlust all dessen, was zur menschlichen Identität dieses jungen Priesters gehörte. »Folge mir nach!« – Karol Wojtyla nahm den Ruf an, weil er im Ruf der Kirche die Stimme Christi hörte. Und er lernte dann, wie wahr das Wort des Herrn ist: »Wer sein Leben zu bewahren sucht, wird es verlieren; wer es dagegen verliert, wird es gewinnen« (Lk 17,33).

Unser Papst – das wissen wir alle – wollte nie das eigene Leben bewahren, es für sich behalten; er wollte sich ohne Vorbehalt, bis zum letzten Augenblick für Christus und auch für uns hingeben. Gerade so konnte er erfahren, daß alles, was er in die Hände des Herrn gelegt hatte, in neuer Weise zurückgegeben wurde: Die Liebe zum Wort, zur Dichtung, zur Literatur war ein wesentlicher Teil seiner Hirtensendung und hat der Verkündigung des Evangeliums neue Frische, neue Aktualität, neue Anziehungskraft verliehen, auch wenn es ein Zeichen ist, dem widersprochen wird.

»Folge mir nach!« Im Oktober 1978 hört Kardinal Wojtyla wiederum die Stimme des Herrn. Es wiederholt sich der Dialog mit Petrus, von dem heute im Evangelium dieses Gottesdienstes die Rede ist: »Simon, Sohn des Johannes, liebst du mich? Weide meine Schafe!« Auf die Frage des Herrn: Karol, liebst du mich?, antwortete der Erzbischof von Krakau aus tiefstem Herzen: »Herr, du weißt alles; du weißt, daß ich dich liebhabe.«

Die Liebe Christi war die bestimmende Kraft in unserem geliebten Heiligen Vater; wer ihn hat beten sehen, wer ihn hat predigen sehen, weiß das. Und so konnte er dank dieser tiefen Verwurzelung in Christus eine Last tragen, die rein menschliche Kräfte übersteigt: Hirt der Herde Christi, seiner universalen Kirche zu sein. Hier ist nicht der Augenblick, von den einzelnen Inhalten dieses so reichen Pontifikats zu sprechen. Ich möchte nur zwei Abschnitte aus der Liturgie von heute vorlesen, in denen die zentralen Elemente seiner Botschaft aufscheinen. In der Ersten Lesung sagt uns der hl. Petrus – und der Papst spricht mit dem hl. Petrus: »Wahrhaftig, jetzt begreife ich, daß Gott nicht auf die Person sieht, sondern daß ihm in jedem Volk willkommen ist, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist. Er hat das Wort den Israeliten gesandt, indem er den Frieden verkündete durch Jesus Christus; dieser ist der Herr aller« (Apg 10,34–36). Und in der Zweiten Lesung mahnt uns der hl. Paulus und mit dem hl. Paulus unser verstorbener Papst mit lauter Stimme: »Darum, meine geliebten Brüder, nach denen ich mich sehne, meine Freude und mein Ehrenkranz, steht fest in der Gemeinschaft mit dem Herrn« (Phil 4,1).

»Folge mir nach!« Mit dem Auftrag, seine Herde zu weiden, kündete Christus dem Petrus sein Martyrium an. Mit diesem abschließenden und zusammenfassenden Wort des Dialogs über die Liebe und über den Sendungsauftrag des universalen Hirten verweist der Herr auf einen anderen Dialog, der im Zusammenhang mit dem Letzten Abendmahl stattgefunden hat. Bei diesem Anlaß hatte Jesus gesagt: »Wohin ich gehe, dorthin könnt ihr nicht gelangen.« Petrus sagte zu ihm: »Herr, wohin willst du gehen?« Jesus antwortete ihm: »Wohin ich gehe, dorthin kannst du mir jetzt nicht folgen. Du wirst mir aber später folgen« (Joh 13,33.36).

Vom Abendmahl geht Jesus zum Kreuz, zur Auferstehung – er tritt in das österliche Geheimnis ein; Petrus kann ihm noch nicht folgen. Jetzt – nach der Auferstehung – ist dieser Augenblick, dieses »später« gekommen. Während er die Herde Christi weidet, tritt Petrus in das österliche Geheimnis ein, geht dem Kreuz und der Auferstehung entgegen. Der Herr sagt es mit diesen Worten: »Als du noch jung warst, … konntest [du] gehen, wohin du wolltest. Wenn du aber alt geworden bist, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und dich führen, wohin du nicht willst« (Joh 21,18).

In den ersten Jahren seines Pontifikats ging der Heilige Vater, noch jung und stark, unter der Führung Christi in alle Länder der Welt. Später aber vereinte er sich immer tiefer mit dem Leiden Christi, verstand er immer mehr die Wahrheit der Worte: »Ein anderer wird dich gürten…« Und gerade in dieser Vereinigung mit dem leidenden Herrn verkündete er unermüdlich mit neuer Eindringlichkeit das Evangelium, das Geheimnis der Liebe, die bis zum Äußersten geht (vgl. Joh 13,1).

Er hat uns das österliche Geheimnis als Geheimnis der göttlichen Barmherzigkeit aufgezeigt. In seinem letzten Buch schreibt er: Die dem Bösen gesetzte Grenze »ist letztendlich die göttliche Barmherzigkeit« (»Erinnerung und Identität«, S. 75). Und im Hinblick auf das Attentat schreibt er: »Christus hat, indem er für uns alle litt, dem Leiden einen neuen Sinn verliehen, er hat es in eine neue Dimension erhoben, in eine neue Ordnung der Liebe … Es ist das Leiden, welches das Böse mit der Flamme der Liebe verbrennt und aufzehrt und sogar aus der Sünde einen mannigfaltigen Reichtum an Gutem hervorbringt« (S. 208f.). Von dieser Vision beseelt, hat der Papst vereint mit Christus gelitten und geliebt, und deshalb ist die Botschaft seines Leidens und seines Schweigens so beredt und fruchtbar gewesen.

Göttliche Barmherzigkeit: Der Heilige Vater hat den reinsten Widerschein der Barmherzigkeit Gottes in der Mutter Gottes gefunden. Er, der im Kindesalter die Mutter verloren hatte, hat um so mehr die göttliche Mutter geliebt. Er hat die Worte des gekreuzigten Herrn gehört und auf sich persönlich bezogen: »Siehe deine Mutter!« Und er hat wie der Lieblingsjünger gehandelt: Er hat sie in seinem tiefsten Innern aufgenommen (eis ta idia: Joh 19,27) – »Totus tuus«. Und von der Mutter hat er gelernt, Christus ähnlich zu werden.

Für uns alle bleibt es unvergeßlich, wie der Heilige Vater, vom Leiden gezeichnet, am letzten Ostersonntag seines Lebens noch einmal am Fenster des Apostolischen Palastes erschienen ist und zum letzten Mal den Segen »Urbi et orbi« erteilt hat. Wir können sicher sein, daß unser geliebter Papst jetzt am Fenster des Hauses des Vaters steht, uns sieht und uns segnet. Ja, segne uns, Heiliger Vater. Wir vertrauen deine liebe Seele der Mutter Gottes, deiner Mutter, an, die dich jeden Tag geführt hat und dich jetzt in die ewige Herrlichkeit ihres Sohnes, Jesus Christus unseres Herrn, führen wird. Amen.

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