„Ich war ein Baum. Ich wurde zum Kreuz“

8. April 2020 in Spirituelles


„Sein Tod an mir brachte Leben. Ich wurde ein Baum des Lebens.“ Leseprobe aus: Julia Beylouny: Für den König


Linz (kath.net)
Ich bin unter meinesgleichen aufgewachsen. Wir waren so viele. Ich hatte eine ganze Menge Geschwister, Freunde; sie waren groß und klein, dick und dünn. Es war schön in dem Wald, in dem ich lebte. Ich stand einfach nur dort und schaute der Sonne zu, wie sie tagtäglich auf- und wieder unter ging. Das Lichtspiel faszinierte mich. Im Frühling, wenn die vielen Laubbäume ihre Blätter entfalteten, kamen die ersten Vögel und spielten in den hohen Zweigen. Sie sangen die wunderschönsten Lieder und waren so fröhlich, dass jeder sich gern von ihnen anstecken ließ. Dann die Eichhörnchen, die Bienen und Rehe, die an der Rinde nagten. Im Sommer war es oft so heiß, dass die Bäume in der Hitze ächzten. Einige wurden bei Gewitter vom Blitz getroffen und in der Mitte gespalten. Krachend stürzten sie zu Boden. Dann schwiegen alle, in Trauer oder aus Angst, das gleiche Schicksal könnte sie ereilen. Um ehrlich zu sein, hatte ich mir nie Gedanken darüber gemacht, wann und wie ich sterben würde. Ich wurde immer größer, stärker und stolzer. Irgendwann hatte ich mich bis ganz nach oben durchgekämpft, dem Licht entgegen. Ich konnte den ganzen Wald überblicken! Dieses Gefühl würde ich sicher nie vergessen. Dieses Gefühl – und die Schneelast, die ich tragen musste, um die Kleineren unter mir zu schützen. Ja, ich war ein Baum. Und auch wenn ich gedacht hatte, dass meine Geschichte zu meinen Lebzeiten spielte; sie tat es nicht. Meine wahre Geschichte begann am Tag meines Todes. Es war ein schöner Tag. Ich ließ mich im Wind hin- und herwiegen, während ein Specht seinen Schnabel pochend in meinen Stamm meißelte. Es machte mir nichts aus, denn ich wusste, dass meine Wärme den winzigen Vogelbabys in wenigen Wochen Schutz bieten würde. Darauf freute ich mich bereits. Für gewöhnlich war es still in unserem Wald; was Menschen anging. Sie kamen nur, wenn sie auf der Jagd waren, oder einen von uns fällen wollten – wie an dem Tag. Der Specht bemerkte ihre rauen Stimmen zuerst. Er hielt inne, bevor er auf leisen Schwingen davonflog. Die Männer brüllten herum, zertraten mit ihren geschnürten Stiefeln die kleinen Schösslinge und jungen Triebe. Hin und wieder hielten sie an, begutachteten einen von uns und schrien wieder rum. „Der hier ist gut!“, hörte ich einen starken Mann rufen, der eine riesige Axt bei sich trug. Der Mensch stand nur zwei Bäume weit von mir entfernt. Meine Geschwister knarrten leise in ihrer Todesangst.

„Nein!“, rief ein anderer, und im gleichen Moment spürte ich seine feuchte Hand an meinem Stamm. „Der hier ist viel besser! Er ist glatt und ganz gerade gewachsen. Er ist optimal! Quirinius, komm her mir deinem Beil!“ Der andere Mann gehorchte. Sie stellten sich im Kreis um mich herum, jeder schaute an mir hoch, nickte, grinste und befühlte meinen Stamm. „Sehr gute Wahl, Gajus. Der Centurio wird stolz auf dich sein. Na los, worauf wartest du noch? Schlag ihn um! Vor Sonnenuntergang müssen wir zurück sein.“ Bis zu dem Tag hatte ich meinen Platz im Wald geliebt. Doch in jenem Augenblick wünschte ich mir, ich könnte meine Wurzeln aus der Erde herausreißen und mich selbst verpflanzen. Weit weg von ihnen. Fort von allen Menschen. Meine Geschwister seufzten. Ich ließ meine Äste auf und ab wehen, um mich zu wehren. Doch ein Baum vermag nichts zu tun, um sein Leben zu verlängern. Meine Stunde war gekommen und als der erste Axthieb auf meine Rinde traf, durchfuhr es mich heiß und kalt. Ich spürte den Saft aus meinem Stamm spritzen. Das Harz rann aus meiner blutenden Seite. Wie liebkosend war dagegen der Schnabelpiek des Spechtes gewesen … Nie wieder würde ich einen Sommer sehen. Keinen Herbst mehr, der uns in herrlich bunte Kleider hüllt. Mit jedem Hieb wurde ich schwächer. Doch ich verteidigte mich hartnäckig. Zweimal musste ein anderer Mensch kommen, um die Axt zu übernehmen. Mein Holz war felsenfest. Schließlich begann ich zu wanken, ich taumelte und konnte mich nicht länger aufrecht halten. Ein letztes Ächzen, dann sank ich in das Geäst meiner Geschwister und stürzte zu Boden. Die Menschen befreiten mich von den unzähligen Zweigen. Nur meinen Stamm wollten sie gebrauchen. Die Männer fesselten mich in Ketten und banden mich hinter ein Pferdegespann, das sie mit Peitschen antrieben. Die Tiere zogen wiehernd an und schleiften mich hinter sich her, quer durch den Wald, bis hinein in die Stadt. Dort herrschte ein großer Tumult. Der, den sie Centurio nannten, befahl, mich zu zerteilen. So legten sie wieder Hand an mich und zerschlugen mich in viele Stücke. Ich hatte keine Ahnung, wozu sie mich brauchten. Vielleicht sollte ich ihnen als Tisch oder Stuhl dienen, als Bett oder Schrank. Dann brach die Nacht herein. Eine Nacht, die ich voller Trauer und Schmerz verbrachte. Mein Harz, meine Tränen, mein Lebenselixier tropfte unaufhörlich aus meinen Wunden heraus. Die Menschen hatten mir den Tod gebracht. Sie hatten mir große Schmerzen zugefügt, mich mit Füßen getreten, mich bespuckt, mich mit ihren Klingen zerteilt. Nie wieder würde ein Vogel in meinen Zweigen singen. Nie wieder ein Eichhörnchen durch mein Geäst tanzen. Ich würde verdorren, auslaufen und endgültig tot sein. Am nächsten Tag war es sehr heiß. Die Gassen der Stadt waren staubig, laut und voller Menschen. Alle schrien durcheinander. Die Soldaten schlugen auf das Volk ein. Grobe Stimmen brüllten herum und plötzlich stießen sie einen Mann vor mir zu Boden. Er war schweißgebadet, blutüberströmt und sah ähnlich zerschunden aus wie ich selbst. Sein Atem ging nur stoßweise. Sein Schweiß tropfte auf mich herab. Dann sah er mich an und obwohl sein Blick bereits gebrochen war, lächelte er, als er mich sah. Mit zitternden Fingern streckte er seine Hand nach mir aus. Zunächst berührte er mich ganz behutsam. Dann kroch er näher heran und seine Arme umfingen mich. Ja, dieser Mann zog mich an sich, drückte seine Wunden an meine und küsste mich. Er war der erste Mensch, der mich gut behandelte. Ein Soldat schlug gleich darauf auf ihn ein und brüllte: „Steh endlich auf! Na los, mach schon! Oder willst du hier im Staub verrecken?“ Ich wusste nicht, warum sie so grob zu ihm waren. Unter Schmerzen erhob er sich, während ein zweiter Mann mich packte und mich auf die Schultern des Zerschundenen lud. Sollte er mich etwa tragen?

Seine blutigen Hände rutschten immer wieder an mir ab und einige meiner Splitter gingen ihm unter die Haut. Er tat mir leid, ich wünschte, ich hätte mich für ihn leichter machen können. Sein Stöhnen erklang dicht an meinem Holz, seine bloßen Füße und mein Stumpf schlurften durch den Staub und die Steine, die auf dem Weg lagen. Immer wieder flüsterte er leise Worte, die nur ich hören konnte. Sie waren voller Liebe, voller Vergebung, voller Kummer. Er sprach mit jemandem, den er Vater nannte. Die Peitsche, die immer wieder auf seinen zerfleischten Rücken traf, bohrte sich mehr als einmal in mein Holz hinein. Unter Fluchen und mit einem gewaltigen Ruck zog der Soldat sie wieder heraus. Einmal biss sie dem Mann, der mich trug, ins Gesicht. Mein trockener Stamm saugte sein Blut und seinen Schweiß in sich auf. Dann verlor der Mann, den die weinenden Menschen am Wegesrand Jeschua nannten, für eine Sekunde das Bewusstsein. Er stürzte, und ich schlug hart auf seinem Rücken auf. Der Soldat zerrte an ihm herum, stieß ihn zurück auf die Beine und band einen Strick um mich und den Körper des Mannes. Wir waren aneinander gefesselt. Er an mich und ich an ihn. Schließlich erreichten wir die Spitze einer Anhöhe. Dort warfen sie den Mann zu Boden, schlugen den Strick an meinem Holz entzwei und rissen Jeschua die Kleider vom Leib. Er weinte vor Schmerz, als die Wunden unter seinem Gewand erneut zu bluten begannen. Dann legten sie seinen sterbenden Körper auf mich. Einer der Soldaten, der dabei gewesen war, als ich gefällt wurde, zog vier lange Eisennägel hervor. Er reichte sie an den, den sie Primus nannten, und der einen schweren Hammer hielt. Primus schlug die Nägel in Jeschuas Hände und Füße. So durchbohrten die Eisenstifte nicht nur sein Fleisch, sondern sie durchbohrten auch mich. Schließlich richteten sie mich auf. Sie schlugen Keile in meinen Fuß und befestigten mich mit Stricken, um mich nicht wanken zu lassen. Von meiner Position aus hatte ich eine weite Sicht über all die Menschen, die gekommen waren, um dem Tod jenes Mannes beizuwohnen. Viele Dinge geschahen in den Stunden, in denen Jeschua und ich aneinander gefesselt waren. Stunden und Dinge, die mich erkennen ließen, dass dieser Mensch unschuldig war. Ich erkannte, wie sehr er mich liebte. Wie sehr er sich gewünscht hatte, mich durch die staubige Stadt zu tragen. Er liebte mich und meine Last, die ihn dreimal zu Fall gebracht hatte. An diesem Tag begann meine Geschichte. Dieser Tag vereinte mich mit einem Mann, den die Welt nicht vergessen würde. Er machte mich zu einem Symbol, das den Menschen ihr Heil versprach. Ich war ein Baum. Ich wurde zum Kreuz. Sein Tod an mir brachte Leben. Ich wurde ein Baum des Lebens.

kath.net-Buchtipp
Für den König
Von Julia Beylouny
Taschenbuch, 68 Seiten
2020 Dip3 Bildungsservice Gmbh
ISBN 978-3-903028-75-3
Preis: 5.95 EUR

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