Der Papst, das Recht, die Rechtsprechung

2. März 2020 in Aktuelles


Richtige Antworten beim Richten, indem tief in die Komplexität des menschlichen Lebens eingedrungen und die Gesetzesordnung mit dem Mehr an Barmherzigkeit verbunden wird. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) Es besteht kein Zweifel und es handelt sich um eine messbare Tatsache: der gegenwärtige Pontifikat ist der wortreichste der Geschichte, wie sowohl die „Acta Apostolicae Sedis“ als auch die zahllosen „inoffiziellen“ Wortmeldungen, Interviews, Gesprächsaufzeichnungen, Predigten usw. bezeugen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern und in welchem Sinn das „Inoffizielle“ „inoffiziell“ ist. Darüber werden in der Zukunft Historiker, Kirchenrechtler und Theologen ihr Urteil fällen müssen.

Der Papst ist als Nachfolger Petri nicht nur der oberste Hirte und „servus servorum Dei“, er ist auch das absolute Oberhaupt der weltlichen Einrichtung des Staates der Vatikanstadt, verbunden mit allem, was das mit sich bringt. Der Papst ist so Gesetzgeber der universalen Kirche, aber letztlich auch der einzige Gesetzgeber des Staates, dessen Herr er ist. Gleichzeitig ist der Papst oberster Richter der Kirche und eben auch Letztbeurteiler der Anwendung der positiven Gesetze (das heißt der „weltlichen“ Rechtsprechung) in „seinem“ Staat. Für jemanden, der aus dem Wesen einer vertieften Rechtsstaatlichkeit heraus nachdenkt, bietet diese Verquickung von Legislative, Judikative und Exekutive keine geringe spekulative Herausforderung, dies noch vor jeder theologischen Reflexion, denn: die Dimension der Verwirklichung dieses Geflechts hängt entscheidend auch von der Person des jeweiligen Amtsinhabers und dessen Geschichte ab.

Deutlich wird dies unter anderem jedes Jahr in den Ansprachen, die der Papst vor zwei Gerichtshöfen bzw. Gerichten hält, wenn er das Gerichtsjahr der „Sacra Rota Romana“ und des Staates der Vatikanstadt eröffnet. Dabei werden zwei völlig unterschiedliche Problemhorizonte sichtbar. Diese können so zusammengefasst werden: angesichts der besonderen „Arbeit“ der „Sacra Rota“ kann festgestellt werden, wie dieses Gericht aus einer vermeintlich rein juridischen Position heraus und in eine vermehrt „pastorale“ Dimension hineingeführt werden soll. Das Recht tritt hinter pastorale Anliegen, Vorgaben oder auch Ideologisierungen zurück, mit allen sich daraus ergebenden Folgen, zu denen vor allem eine Relativierung des juridischen Anspruchs gehört.

Anders liegt die Sache, was den „weltlichen“ Gerichtshof betrifft. Dieser Gerichtshof hat es in erster Linie und vor allem anderen mit Artikel 1, Satz 1 der „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ zu tun: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist die Basis: im allgemeinen Sinne und in vielen speziellen Sinnen. Das hat dann natürlich Folgen für das Zusammenspiel zwischen dem, was ein Gesetzgeber produziert, und wie dieses Produkt zur Anwendung kommt, was in der Welt getrennt ist. Nicht so im Vatikan, nicht so beim Papst: der Papst produziert das Gesetz und erklärt, wie dieses anzuwenden ist, welche Kriterien er seiner Ansicht nach für die rechte Anwendung für notwendig hält.

Dies stellt sowohl für den Rechtswissenschaftler/Juristen als auch für den Rechtsphilosophen eine besondere Situation dar. Gleichzeitig kann jedem Individuum, das in einem Rechtsstaat aufgewachsen ist, ein mögliches Urteil über dieses Geflecht mit seinen relativen Folgen überlassen werden. Aus diesem Grund und in Anbetracht besonderer Persönlichkeitsstrukturen ist es interessant und auch geboten, sich einmal anzuschauen, wie sich ein Papst an die „Verwalter und Vermittler des positiven Rechts“, das heißt an die Richter wendet, welche Ansprüche er jenseits einer „wissenschaftlichen Rechtssprechung“ vorbringt. Gleichzeitig vermittelt diese Anstrengung einen vertieften Einblick in das, was der „Staat der Vatikanstadt“ ist, so dass es dann möglich wird, Verzerrungen zu erkennen und Vorurteilen zu entgegnen.


Papst Franziskus, Ansprache zur Eröffnung des 91. Gerichtsjahrs des Staates der Vatikanstadt, 15. Februar 2020:

Sehr geehrte Herren!

Ich freue mich, euch zur Eröffnungszeremonie des Gerichtsjahres so zahlreich zu begegnen. Ich weiß, dass viele von euch in Einrichtun- gen tätig sind, denen die Justizverwaltung und der Schutz der öffentlichen Ordnung unterstellt sind. Gerade deshalb kommt eurer Arbeit großer Wert zu, denn sie garantiert nicht nur die Ordnung, sondern vor allem die Verantwortung für die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die auf unserem Staatsgebiet gelebt werden. Ich bitte euch, den Weg der Gerechtigkeit mit immer mehr Überzeugung fortzusetzen als den Weg, der echte Brüderlichkeit ermöglicht, in der alle geschützt sind, besonders die schwachen und verletzlichen Menschen.

Der erste Punkt, den ich bei dieser Begegnung hervorheben möchte, ist das Evangelium. Es lehrt uns einen tieferen Blick als das weltliche Denken, und es zeigt uns, dass die von Jesus angebotene Gerechtigkeit nicht einfach nur ein technisch angewandtes Regelwerk ist, sondern ein Herzenszustand, der jene leitet, die Verantwortung tragen.

Die große Ermahnung des Evangeliums besteht darin, die Gerechtigkeit vor allem in uns selbst zu errichten und mit Nachdruck darum zu kämpfen, das Unkraut zu beseitigen, das sich in uns befindet. Für Jesus ist es naiv zu meinen, wir könnten jede Wurzel des Bösen in uns ausrotten, ohne auch den guten Weizen zu beschädigen (vgl. Mt 13,24-30). Die Wachsamkeit über uns selbst und der daraus folgende innere Kampf helfen uns jedoch, das Böse nicht die Oberhand über das Gute gewinnen zu lassen. Angesichts dieser Situation könnte keine Rechtsordnung uns retten. In diesem Sinne fordere ich einen jeden auf, sich nicht nur in eine äußerliche Tätigkeit, die die anderen betrifft, einbezogen zu fühlen, sondern auch in eine persönliche Arbeit, in einem jeden von uns stattfindet: unsere persönliche Umkehr. Nur das ist Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit erzeugt!

Es muss jedoch gesagt werden, dass Gerechtigkeit allein nicht genügt. Sie muss auch von den anderen Tugenden begleitet sein, vor allem von den Kardinaltugenden, die als Angelpunkt dienen: Klugheit, Tapferkeit und Mäßigung. Denn die Klugheit befähigt uns, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, und sie gestattet uns, jedem das Seine zu geben. Die Mäßigung als Element der Zurückhaltung und der Ausgewogenheit in der Beurteilung von Tatsachen und Situationen macht uns frei, auf der Grundlage unseres Gewissens zu entscheiden.

Die Tapferkeit gestattet uns, die Schwierigkeiten zu überwinden, denen wir begegnen, und Druck und Leidenschaften zu widerstehen. Insbesondere kann sie euch eine Hilfe sein in der Einsamkeit, die ihr oft erfahrt, wenn ihr schwierige und heikle Entscheidungen zu treffen habt. Bitte vergesst nicht, dass ihr bei eurer täglichen Arbeit oft Menschen gegenübersteht, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit, leidenden Menschen, die manchmal in Ängsten und existentieller Verzweiflung gefangen sind.

Beim Richten müsst ihr richtige Antworten geben, indem ihr tief in die Komplexität des menschlichen Lebens eindringt und die Gesetzesordnung mit dem Mehr an Barmherzigkeit verbindet, das Jesus uns gelehrt hat. Denn die Barmherzigkeit ist nicht die Aufhebung der Gerechtigkeit, sondern ihre Erfüllung (vgl. Röm 13,8-10), weil sie alles in eine höhere Ordnung führt, wo auch jene, die zu den härtesten Strafen verurteilt sind, die Erlösung der Hoffnung finden.

Das Richten ist eine Aufgabe, die nicht nur Vorbereitung und Ausgewogenheit verlangt, sondern auch Leidenschaft für die Gerechtigkeit und das Bewusstsein um die große und gebotene Verantwortung, die mit dem Urteil verbunden ist. Eure Aufgabe darf nicht das ständige Streben nach dem Verständnis der Ursachen für den Fehler und der Schwäche dessen, der das Gesetz gebrochen hat, vernachlässigen.

Ein zweiter Punkt unserer Reflexion über die Gerechtigkeit sind die Gesetze, die die zwischenmenschlichen Beziehungen und somit ihre Rechtmäßigkeit regeln, aber auch die ethischen Werte, die dahinterstehen. In diesem Zusammenhang hat die vatikanische Gesetzgebung vor allem im letzten Jahrzehnt und insbesondere im strafrechtlichen Be reich maßgebliche Reformen gegenüber der Vergangenheit durchgemacht.

Grundlage dieser wichtigen Modifizierungen war nicht nur ein natürliches Modernisierungsbedürfnis, sondern auch und vor allem die Notwendigkeit, internationale Verpflichtungen ein- zuhalten, die der Heilige Stuhl auch im Namen des Vatikanstaats eingegangen ist. Diese Verpflichtungen betreffen vor allem den Schutz des Menschen, der in seiner Würde bedroht ist, so- wie den Schutz jener gesellschaftlichen Gruppen, die oft Opfer neuer abscheulicher Formen der Rechtswidrigkeit sind.

Das Hauptziel dieser Reformen ist daher in die Sendung der Kirche einbezogen, ja es ist ein fester und wesentlicher Bestandteil ihres Dienstes. Das erklärt, warum der Heilige Stuhl sich dafür ein- setzt, an den Bemühungen der internationalen Gemeinschaft um den Aufbau eines gerechten und aufrichtigen Zusammenlebens teilzuhaben – eines Zusammenlebens, das vor allem auf den Zu- stand der Benachteiligten und der Ausgegrenzten achtet, die wesentlicher Güter beraubt sind, deren Menschenwürde oft mit Füßen getreten wird und die als unsichtbar und weggeworfen betrachtet werden.

Um dieses Bemühen konkret zu machen, hat der Heilige Stuhl einen Prozess zur Anpassung seiner Gesetzgebung an die internationalen Rechtsnormen in Gang gesetzt und sich auf operativer Ebene insbesondere dafür eingesetzt, illegale Machenschaften im Finanzsektor auf inter- nationaler Ebene zu bekämpfen. Zu diesem Zweck hat er die Zusammenarbeit sowie gemeinsame politische Maßnahmen und Initiativen zur Bekämpfung gefördert und interne Überwachungs- und Handlungsgremien geschaffen, die in der Lage sind, strenge und wirksame Kontrollen durchzuführen.

Diese Tätigkeiten haben kürzlich verdächtige Finanzlagen ans Tageslicht gebracht, die sich – über ihre eventuelle Rechtswidrigkeit hinaus – schlecht mit dem Wesen und den Zielen der Kirche vertragen und die in der Gemeinschaft der Gläubigen Verwirrung und Unruhe erzeugt haben. Es handelt sich um Vorgänge, die der Staatsanwaltschaft übergeben worden sind und deren Strafrechtserheblichkeit noch geklärt werden muss. Man kann sich daher in dieser Phase nicht zu ihnen äußern. Positiv ist auf jeden Fall – das volle Vertrauen in die Arbeit der Rechts- und Ermittlungsorgane vorausgesetzt und unter Wahrung das Prinzips der Unschuldsvermutung gegenüber dem Beschuldigten –, dass gerade in diesem Fall die ersten Hinweise von internen Autoritäten des Vatikans ausgegangen sind, die im Bereich der Wirtschaft und Finanz tätig sind, wenngleich mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Das ist ein Beweis für die Zugkraft und die Effizienz der Bekämpfungsmaßnahmen, wie es von den inter- nationalen Standards gefordert wird.

Der Heilige Stuhl ist fest entschlossen, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen – nicht nur auf der Ebene der Gesetzesreformen, die zu einer grundlegenden Konsolidierung des Systems beigetragen haben, sondern auch, indem er neue Formen gerichtlicher Zusammenarbeit sowohl auf der Ebene der Ermittlungs- als auch der Untersuchungsorgane in Gang setzt, in den von den internationalen Normen und Praktiken vorgesehenen Formen. In diesem Bereich hat sich auch das Gendarmeriekorps durch seine Ermittlungstätigkeit zur Unterstützung des Amts des Kirchenanwalts aus- gezeichnet.

Es muss hervorgehoben werden, dass die im Laufe der Zeit eingeführten Reformen zwar aner- kennenswert sind und konkrete Resultate hervorbringen, aber dennoch weiterhin im Handeln des Menschen verankert und von ihm abhängig sind. Denn über die Besonderheit des ihm zur Verfügung stehenden Gesetzesmaterials hinaus muss jener, der in die richterliche Funktion berufen ist, immer in erster Linie nach menschlichen und nicht nur nach rechtlichen Kriterien handeln. Denn die Gerechtigkeit entspringt wie gesagt nicht so sehr der formalen Vollkommenheit des Systems und der Regeln, sondern vielmehr der Qualität und Aufrichtigkeit der Menschen, an erster Stelle der Richter.

Es bedarf also einer besonderen Haltung der Mitarbeiter, nicht nur auf intellektueller, sondern auch auf moralischer und deontologischer Ebene. In diesem Sinne erfordert die Förderung der Gerechtigkeit den Beitrag von Seiten gerechter Menschen. Hier können uns die anspruchsvollen und nachdrücklichen Worte Jesu helfen: »Nach dem Maß, mit dem ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden« (vgl. Mt 7,2). Das Evangelium ruft uns in Erinnerung, dass am Horizont unseres Strebens nach irdischer Gerechtigkeit stets die endgültige Begegnung mit der göttlichen Gerechtigkeit steht – mit der Gerechtigkeit des Herrn, der uns erwartet. Diese Worte dürfen uns nicht erschrecken, sondern müssen uns nur anspornen, unsere Pflicht mit Ernst und Demut zu erfüllen.

Abschließend möchte ich euch ermutigen, die Verwirklichung eurer Berufung und wichtigen Sendung im täglichen Bemühen um die Herstellung der Gerechtigkeit fortzusetzen. Setzt euch ein im Bewusstsein um eure wichtige Verantwortung. Öffnet Räume und neue Wege, Gerechtigkeit herzustellen, um die Würde des Menschen, der Freiheit und letztlich des Friedens zu fördern. Ich bin mir sicher, dass ihr dieser Pflicht nachkommen werdet, und ich bete darum, dass der Herr euch auf diesem Weg begleiten möge. Und ich bitte euch, auch für mich zu beten. Danke.

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