Amazonassynode und evangelikale/pfingstliche Gruppen

6. November 2019 in Kommentar


Sind evangelikale/pfingstliche Gruppierungen in Lateinamerika „näher am Menschen“? Gastkommentar von Maximilian Oettingen


Vatikan (kath.net) Eine kleine Randbemerkung, vielleicht auch nur eine Fußnote: Im Zuge der „Amazonas-Synode“ war immer wieder davon die Rede, dass evangelikale oder pfingstliche Gruppierungen in Lateinamerika in zunehmendem Maße erfolgreich agieren, daher müsse man mitunter überlegen, wie wir als Katholische Kirche Maßnahmen setzen, um – wie sie – näher am Menschen zu sein etc.

Vor 500 Jahren haben wir angefangen auf diesem Kontinent zu missionieren. Wir waren dabei eigentlich immer der einzige „Player“. Heute, vor allem seit dem Zweiten Weltkrieg, gibt es weitere Player, nämlich evangelikale und pfingstliche Gruppen. Und – glaubt man dem „Statusbericht 2019 zum Globalen Christentum“ – diese Kirchen wachsen global gesehen schneller als wir Katholiken (vgl.: https://www.jesus.ch/…/355961-christentum_boomt_atheismus_n…)

Wie gehen wir mit solchen Informationen um? Im Grunde haben wir zwei Optionen: Entweder wir nehmen unsere „getrennten Brüder“ als Konkurrenten oder als Gefährten wahr.

Natürlich kann ich mich täuschen und ich lasse mich auch gerne korrigieren, aber meine Einschätzung ist: Von der Grundstruktur der Argumentation her wurden Evangelikale und Pfingstler im Zuge der Amazonas-Synode vor allem als Konkurrenten wahrgenommen, was dann eher dazu führt (bzw. uns eher den Vorwand gibt) unser „Produkt“ auf einem „umkämpften Markt“ breiter zu streuen und besser zu positionieren – vielleicht indem wir die Zulassungsbedingungen zu geweihten Ämtern erweitern, vielleicht indem wir kulturelle Eigenheiten in unsere Liturgie einbauen.

Wenn wir hingegen Evangelikale und Pfingstler vor allem als Freunde und Gefährten kennen und schätzen lernen, werden wir von ihnen lernen und sie von uns. Das ist natürlich kein leichter Prozess.

Aber was können wir denn von ihnen lernen? Aus meiner Sicht vor allem drei Dinge:

Erstens: Kerygmatische Verkündigung. Das ist, natürlich, nichts Neues. So sagt P. Raniero Cantalamessa, seit 1981 Prediger des Päpstlichen Haushaltes, in seinem Buch Das Kreuz, Gottes Kraft und Weisheit, S. 15 ff., Köln 1999: In den ersten Jahrhunderten der Kirche gab es eine klare Unterscheidung zwischen Kerygma, also Erstverkündigung, und Katechese, also Unterweisung – in weiterer Folge (nach der Katechese) gab es dann noch für einige Theologie. Jedenfalls: Das Kerygma war der Anfangspunkt des Glaubens und die Katechese sollte diesen Glauben formen. Dies wurzelte in der Überzeugung, dass der Glaube an sich nur durch das Hören des Kerygmas zu wachsen beginnt. Heute, so Cantalamessa, haben wir Katholiken diese Reihenfolge im Wesentlichen auf den Kopf gestellt. Also: wir betreiben viel Theologie, wenig Katechese und kaum Kerygma. Die Folge ist, dass der Glaube nicht zu wachsen beginnt.

Und was ist der Inhalt kerygmatischer Verkündigung? Die Aussage, dass Jesus Christus der Herr ist; was wiederum zu einer existenziellen Entscheidung in der Nachfolge Jesu Christi herausfordert, nämlich die Anerkennung der Tatsache, dass wir Ihm folgen (und nicht umgekehrt) sowie die Anerkennung dessen, dass Er Herr ist (und nicht wir).

Zweitens: Sie setzen gerne Prozesse auf, die helfen, dass aus (Zitat Kardinal Suenens) „durchschnittlichen Christen normale Christen werden“: Das heißt Christen, die existenziell begreifen, dass sie unter dem Blick des himmlischen Vaters sind, leben und agieren; die gewohnt sind geistlich zu unterscheiden bzw. „auf die Stimme Gottes zu hören“; die belehrbar und neugierig bleiben; die Jesus Christus als ihren Herrn annehmen und anerkennen; die als Christen (in der Sprache des Katechismus) „vermehrt an der Sendung Jesu Christi und der Fülle des Hl. Geistes Anteil“ haben, „damit ihr ganzes Leben den Wohlgeruch Christi ausströme“ (KKK 1152). Es mag sein: Der durchschnittliche Christ tickt und agiert nicht wie gerade beschrieben, ein normaler Christ schon 😉

Diese Prozesse werden bisweilen „Jüngerschaftsprozesse“ genannt. Ihr Kennzeichen ist, dass sie vor allem Praxis orientiert sind, so, dass (in den Worten des Katechismus) Christen Anteil bekommen an der Sendung, an der Freude und am Leiden Jesu Christi (vgl. KKK 787). Wer beispielweise an einem „Discipleship Training School“ von „Youth with a Mission“ (https://www.ywam.org/dts/) teilgenommen hat, der beginnt in der Regel zu denken und zu handeln wie Sein Meister.

Vielleicht denkst Du jetzt: Solche Prozesse gibt es seit vielen, vielen Jahrhunderten in unseren Klöstern und sicherlich auch in guten, christlichen Familien. Das stimmt. Das Interessante aber an der Art, wie evangelikale und pfingstliche Christen diese Prozesse gestalten, ist, dass sie für jedermann zugänglich sind. Da werden Leute zu Jüngerschaftsschulungen geschickt – nicht mit dem Ziel, dass sie dann dort bleiben oder eintreten, sondern mit dem Ziel, dass sie von dort zurück gesandt werden in ihre Gemeinden, Universitäten, Familien, in die ganze Welt. Ihre Jüngerschaftsschulungen haben also primär nichts mit der Frage der Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen zu tun und auch nichts mit jener Frage, ob man das Glück hatte in eine gute christliche Familie hineingeboren worden zu sein. Vielmehr werden in der Breite junge Menschen zu solchen Schulungen geschickt, auf dass sie zu normalen Christen werden.

Noch eine Bemerkung zur Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen: Jesus wählte aus den Jüngern die zwölf Apostel (vgl. Lk 6, 13). Meine Beobachtung ist: Dort, wo es im Katholischen Kontext „Jüngerschaftsschulungen“ gibt, dort gibt es überdurchschnittlich viele Berufungen zur Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen und zum Priestertum.

Drittes: Gerade pfingstliche Gruppierungen haben ein großes Verständnis dafür, dass der Hl. Geist nicht nur sehr gerne in uns, sondern auch sehr gerne durch uns wirken möchte. Im Besonderen wird in der Breite dahingehend geschult auf das Wirken des Hl. Geistes „durch uns“ zum Heil anderer zu achten und entsprechend zu agieren. So kommt es dann, dass junge Leute auf der Straße evangelisieren, dabei für Menschen um Heilung beten und messianische Zeichen und Wunder erleben. Das sorgt manchmal für Irritation, da und dort mal für eine Schlagzeile, meistens für Gesprächsstoff – es ist aber vor allem ein Ausdruck einer starken missionarischen Gesinnung. Werden dabei Fehler gemacht? Selbstverständlich – wie bei allen anderen Vollzügen des christlichen Lebens. Daher ist Demut und Belehrbarkeit in diesem Kontext – und in allen anderen Kontexten des christlichen Lebens – so wichtig. Gleichzeitig ist es in diesem Zusammenhang wichtig, den Geist nicht auszulöschen, sondern alles zu prüfen und das Gute zu behalten (vgl. 1 Thess 5, 19 – 21).

Bleiben wir noch bei diesem dritten Punkt: Wir Katholiken sprechen in diesem Zusammenhang gerne von „heiligmachender“ und von„charismatischer“ oder „helfender Gnade“ (vgl. uA KKK 1999 und 2000):

Heiligmachende Gnade: Gott schenkt sich uns selbst; Er gießt sich selbst durch den Heiligen Geist in uns hinein, um uns von der Sünde zu heilen, um uns heilig zu machen; denn Gott ist gerecht und er macht gerecht (vgl. Röm 3, 26).

Charismatischer Gnade: „Die Kirche kennt unzählbar viele Pfingsten, die die örtliche Gemeinde beleben…“ (Benedikt XVI, Über den Heiligen Geist, Augsburg, S. 129f.). So werden wir wieder und wieder vom Heiligen Geist erfüllt und gesandt, so, wie die Jünger und Apostel wieder und wieder vom Hl. Geist erfüllt und gesandt wundern – jedenfalls zu Pfingsten (vgl. Apg 2) und dann danach wieder, also nach Pfingsten (vgl. Apg 4, 23 ff.).

Jetzt: es ist richtig, dass wir zwischen heiligmachender und charismatischer Gnade unterscheiden; und, es ist richtig, dass die heiligmachende Dimension des Hl. Geistes vorrangig ist. Falsch ist aber, dass wir die charismatische Wirkweise des Hl. Geistes unseren „Charismatikern“ überlassen und so in eine Schublade stecken – als ob wir den Hl. Geist schubladisieren oder gar halbieren könnten. Meine Einschätzung ist, dass wir vor dieser sendenden Dimension des Hl. Geistes eine gewisse Scheu haben, weil wir vor dem – wie es im Bericht über Pfingsten so schön heißt – „Getöse“ (Apg 2, 6), das damit einhergehen kann, zurückschrecken.

Frage: woher kommt missionarische Sendung und Dynamik im kirchlichen Leben? Natürlich nicht von einem „starken Heer“ oder von „Rossen“ (vgl. Ps 33, 16 & 17), auch nicht von unserer Diplomatie, von unserem Kirchenrecht, von unseren Kirchenbeitragssystemen, unserer Finanzkraft, von unseren kirchlichen Strukturen oder von unserer Erfahrung und Tradition, sondern vom Hl. Geist, der uns in „leuchtender“ oder in „schlichter“ Weise (vgl. LG 12) sendet, wieder und wieder.

Und was können evangelikale und pfingstliche Kirchen von uns Katholiken lernen?

Es läge an unseren „getrennten Brüdern“ uns zu sagen, was sie von uns lernen können, daher halte ich mich kurz. Aus meiner Sicht sind es vor allem drei Dinge:

Erstens: Eine ungemein reichhaltige Theologie und Liturgie, die so leicht ins Geheimnis Gottes hineinführen kann.

Zweitens: Jene Dimension von Jüngerschaft, bei dem uns das wertvollste genommen wird und wir gerade so in unsere eigentliche Berufung kommen: In dem Moment, in dem Maria ihre natürliche Mutterschaft aufgeben muss – beim Tod ihres Sohnes am Kreuz – empfängt sie ihre übernatürliche Berufung, nämlich Mutter zu sein für andere, für die Kirche (vgl. Joh 19, 25). Diese Dimension von Ganzhingabe bis unters Kreuz ist tief in unserer Katholischen Kultur eingeprägt. Das Leben vieler unserer Heiligen spricht genau davon. Richtig verstanden und gelebt öffnet sie den Blick für die Liebe Gottes, die auch „mächtige Wasser nicht löschen können“ (Hohelied 8, 7). Als Edith Stein – damals noch Atheistin – im Zuge des Ersten Weltkrieges eine junge Witwe besuchte, deren Mann gerade gefallen war, war sie davon tief berührt, dass die Witwe sie tröstete. Die Witwe war eine gläubige Frau. Das Leid in ihrem Leben machte die Liebe Gottes für Edith Stein sichtbar.

Drittens: Den Sensus für die heiligmachende Dimension des Hl. Geistes, der in uns wirkt, in uns verbleibt und uns heilig macht; vor diesem Hintergrund gerade auch unsere Liebe zur Kontemplation. Ein evangelikaler Pastor sagte mir vor einem halben Jahr: Wenn man Katholiken Lobpreis beibringen möchte, also das uneigennützige Singen und Musizieren zur Ehre Gottes, wäre das besonders leicht, denn sie gehen zurecht davon aus, dass Gott da ist.

Foto (c) Maximilian Oettingen


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