‚Ohne Juda, ohne Rom bauen wir Germaniens Dom’

1. Oktober 2019 in Aktuelles


Der deutsche ‚Nationalkatholizismus’. Eine Geschichte. Man ist versucht zu meinen, Johannes XXIII. habe mit der Ankündigung des Konzils die deutsche ‚Büchse der Pandora’ geöffnet. Von Walter Kardinal Brandmüller


Rom (kath.net/as/wb) „Ohne Juda, ohne Rom bauen wir Germaniens Dom“ – dieser Slogan von Hitlers frühem Ideengeber Georg von Schönerer (1842-1921) gibt einem deutschen Ressentiment Ausdruck, das – letztendlich – in der Schlacht im Teutoburger Wald seinen Ursprung hat. Die Niederlage Roms in der „Hermannsschlacht“ des Jahres 9 p. Chr. ist wenigstens seit zweihundert Jahren fester Bestandteil „teutscher“ Erinnerungskultur.

Was Wunder, dass von da auch ein eigenartiges Licht auf das Verhältnis deutscher Katholiken zu „Rom“ fällt – von den „Gravamina Nationis Germanicae“ gegen „Rom“ des frühen 16. Jahrhunderts bis heute.

Gehen wir dem nach, so finden wir Spuren davon an der Wende zum 19. Jahrhundert. Manch einer gibt die Schuld am Untergang der „Reichskirche“ eben jenem Rom, das keinen Finger gerührt habe, um die alten Fürstbistümer und Reichsabteien aus dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches zu retten – eine „Dolchstoßlegende“ avant le mot.

In eben diesem Zusammenhang – der Wiener Kongress war in vollem Gange – entwickelte der Konstanzer Bistums-Verweser Ignaz Heinrich von Wessenberg die Idee einer deutschen Nationalkirche. Ein Neuaufbau aus den Trümmern mochte dann auch die Überwindung der konfessionellen Spaltung und den Frieden zwischen Staat und Kirche bewirken.

Auf dieser Grundlage sollte denn auch die politische Einheit der Nation aufgebaut werden. Es war freilich sehr fern der Wirklichkeit, wenn er meinte, dass eine solche Nationalkirche noch katholisch sein würde. Jedenfalls forderte er ein Reichskonkordat mit dem Heiligen Stuhl – Napoleons Vorbild könnte ihn inspiriert haben. Dann würde, so Wessenbergs Idee, ein deutscher Primas an die Spitze einer gerade noch locker mit dem römischen Zentrum verbundenen Deutschen Kirche gesetzt werden… Bei diesen Ideen ist es indes geblieben.

Ideen, freilich, die beim Aufwallen eines neuen deutschen Nationalgefühls um das Revolutions- und Paulskirchen-Jahr 1848 wiederbelebt, die Geister bewegten.

Es war der, kaum fünfzigjährig schon hochangesehene, Professor Ignaz von Döllinger, der in einem Anflug von Problembewusstsein meinte: „Der größte Teil der Katholiken, die im Gefühl deutscher Nationalität eine deutsche Nationalkirche wünschen, ist nicht in Widerspruch mit der katholischen Kirche getreten.“

Dabei hatte der Münchener Kirchenhistoriker allerdings jenes meteorhafte Phänomen des „Deutschkatholizismus“ übersehen – oder vielleicht bewusst ignoriert? – das in eben diesen Jahren die religiöse Landschaft beunruhigte.

Es waren zwei im Glauben und am Zölibat gescheiterte Kapläne, Ronge und Gersky, die im Protest gegen die Trierer „Heilig-Rock-Wallfahrt“ des Jahres 1844, ihre „Deutsch-katholische Kirche“ gegründet und im Norden und Westen des Reiches bemerkenswerten Zulauf gefunden hatten.

„Ha, mich schauert’s, dass wir schon so nahe daran! Doch jetzt ist’s vorüber. Der große Wurf ist gelungen, der Fortschritt des Jahrhunderts ist gerettet. Der Genius Deutschlands greift schon nach dem Lorbeerkranz – und Rom muss fallen!“

So Johannes Ronge. Nun ja, es war nicht Rom, das fiel. Um 1860 schon sprach niemand mehr von ihm. Dass er mit seiner Idee Erfolg haben konnte, lag indes nicht nur am Fortwirken der Aufklärung. Es war unter anderem das in der Romantik und ihrer Mittelalterbegeisterung aufbrechende Nationalgefühl, das auch den Blick auf die zerbrochene religiöse Einheit Deutschlands lenkte. Deren Wiedergewinnung erschien als erstrebenswertes Ziel: Eine deutsche Nation, eine deutsche Nationalkirche.

Ideen, die da und dort virulent blieben, bis Bismarcks Kulturkampf eine völlig neue Lage schuf. Der im Sinne Hegels verstandene Staat konnte den „Fremdkörper katholische Kirche“ nicht integrieren und wandte deshalb Gewalt an. In dieser für den deutschen Katholizismus lebensbedrohenden Situation – Bischöfe im Gefängnis oder vertrieben, Hunderte von Priestern ihrer Ämter entsetzt und in Haft genommen – scharten sich Deutschlands Katholiken einmütig um Rom, um den Papst – allzu staatstreue Katholiken fanden alsbald ihre „Kirche“ im Altkatholizismus.

Nun trug der „Ultramontanismus“, dessen Vordenker stets die Universalität der Kirche betont und ihre Bindung an den Staat, sowie jeden Nationalismus und besonders den preußischen Militarismus entschieden abgelehnt hatten, seine Früchte: beeindruckende Belebung der Volksfrömmigkeit, Treue zum katholischen Glauben, zu Bischöfen und den vielverehrten Papst – es war Pius IX.

Kurz gesagt: Das Bewusstsein, der weltumspannenden Kirche Jesu Christi anzugehören, ließ keinen Raum mehr für nationalkirchliches Denken.

Einen – namentlich für die deutsche Theologie folgenschweren Rückfall stellt jedoch das Verhalten mancher deutscher Bischöfe und katholischer Intellektueller in der Modernismus-Krise an der Wende zum 20. Jahrhundert dar. Die auf das menschliche Bewusstsein fixierte Philosophie des deutschen Idealismus und deren Verbindung mit dem Evolutionsgedanken hatten dazu geführt, dass man Religion als ein Produkt der Tiefe der menschlichen Seele sah, das im Zuge der Evolution sich von einer Stufe zur nächsthöheren entwickele und damit der Veränderung unterworfen sei. Man mag aus heutiger Perspektive manche Verhaltensweise „Roms“ in diesen Jahren für zu rigide halten, an der die Fundamente des Glaubens untergrabenden Gefährlichkeit jener Ideen, die man seither unter dem Begriff „Modernismus“ zusammenfasst, kann indes kein Zweifel bestehen.

Dass Pius X. in dieser Situation „die Notbremse zog“, indem er von den Lehrern der Theologie die Leistung eines „Antimodernisteneides“ forderte, sollte man – auch im Blick auf heutige Zustände in der Theologie – nicht als Ausdruck von „römischem Alarmismus“ abtun oder lächerlich machen. Eher kann es erstaunen, dass ausgerechnet die deutschen Professoren der Theologie von dieser Forderung ausgenommen blieben – sie fürchteten um ihre Freiheit in Lehre und Forschung, deren Verlust sie der Verachtung der wissenschaftlichen Welt preisgegeben hätte.

Nun gut, eben ein deutscher Sonderweg. Dass in der Folge eine prinzipielle Auseinandersetzung der deutschen Theologie mit dem Modernismus ausblieb, war zum guten Teil dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und in dessen Folge dem „Dritten Reich“, dem Siegeszug des Nationalsozialismus zuzuschreiben. Nach dessen Katastrophe und dem Wiederaufstieg Deutschlands brach im Vorfeld des II. Vatikanums jedoch das Modernismusproblem in gewandelter Gestalt mit neuer Heftigkeit aus.

Man ist versucht zu meinen, Johannes XXIII. habe mit der Ankündigung des Konzils die deutsche „Büchse der Pandora“ geöffnet. Was seit der unbewältigten Modernismuskrise unter der Decke weiter geschwelt hatte, brach nun sichtbar, lautstark mit neuer Heftigkeit aus. Der Deutsche Katholikentag des fatalen Jahres 1968 wurde zur Bühne wütender, vulgärer Proteste gegen die Enzyklika „Humanae vitae“ Pauls VI., deren prophetischer Charakter heute mehr und mehr erkannt wird.

Die deutsche Bischofskonferenz des gleichen Jahres versuchte die Wogen zu glätten, indem sie die Zurückweisung künstlicher Kontrazeption durch die Enzyklika relativierte. Dies gelang vordergründig, indem Kardinal Döpfner, Vorsitzender der Westdeutschen Bischofskonferenz, die zur Zustimmung zur Enzyklika aufrufenden Briefe von Kardinal Bengsch, der im Namen der Bischöfe in der DDR sprach, nicht an ihre Adressaten weitergab, sondern unterschlug. Ein unerhörter Vorgang!

So kam es zu der „Königsteiner Erklärung“, die die Anwendung kontrazeptiver Mittel bzw. Praktiken der Gewissensentscheidung der Eheleute anheimstellte. Keiner der Päpste der Folgezeit ist mit der Forderung nach Revision der damaligen Beschlüsse durchgedrungen. Der deutsche Episkopat verharrte im Widerstand gegen das Lehramt des Papstes.

In dieser antirömischen Atmosphäre versammelte sich bald darauf die „Gemeinsame Synode der Bistümer Deutschlands“ in den Jahren 1971-1975. Sie stellte allein mit ihrem Statut bzw. ihrer Geschäftsordnung einen klaren Bruch mit der synodalen Überlieferung der Kirche dar, indem sie den Laien, die in gleicher Anzahl wie Bischöfe und Priester Mitglieder der Synode waren, gleiches Stimmrecht einräumte. Damit waren Konflikte unvermeidlich geworden. Es sei nur an die Auseinandersetzungen über die Laienpredigt erinnert. Prof. Joseph Ratzinger und Prälat Karl Forster, damals Sekretär der Bischofskonferenz, verließen damals unter Protest die Synode.

Schließlich sei auch noch an die Kölner Erklärung des Jahres 1989 „Wider die Entmündigung – für eine offene Katholizität“ erinnert, die von mehr als zweihundert Theologen unterzeichnet wurde. Es war zunächst ein Protest gegen die Ernennung Kardinal Meisners zum Erzbischof von Köln, dann aber auch gegen das kirchliche Lehramt „Roms“ überhaupt.

Einen noch heftigeren deutschen Widerstand erfuhr Johannes Paul II., als er den Einrichtungen der kirchlichen Schwangerenkonfliktsberatung verbot, den vom Gesetz als Vorbedingung für eine legale Abtreibung geforderten „Beratungsschein“ auszustellen, der de facto das Todesurteil für ungeborene Kinder darstellte.

Man kann es bis heute nicht verstehen, dass sich dagegen heftiger, hartnäckiger Widerstand der meisten deutschen Bischöfe, besonders Kardinal Lehmanns und Bischof Kamphaus‘, erhob. Erst ab dem Jahr 2000 entschloss man sich, dem Papst zu gehorchen. Dennoch entstand im Widerstand der Verein „Donum vitae – eine wahrlich zynische Benennung - die mit der Ausstellung des Beratungsscheins fortfuhr.

Zählt man dann noch das „Kirchenvolksbegehren“ und die Bildung von Protestgruppen wie „Wir sind Kirche“ sowie die Degeneration des ehemals „kirchentragenden“ Verbandskatholizismus hinzu – nicht zu vergessen die marxistische Infiltration des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend, dann ist das Ausmaß der zentrifugalen Dynamik zu erkennen, mit welcher der „Nationalkatholizismus“ (welch eine „contradictio in terminis“) sich nach dem 2. Weltkrieg von jenem Rom Pius‘ XII. entfernt hat, das 1945 als einzige internationale Instanz dem zertrümmerten Deutschland beim Wiedereintritt in die Gemeinschaft der freien Völker die Hand gereicht hatte.

Heute jedoch versucht die „deutsche Kirche“, die Deutsche Bischofskonferenz, Einfluss auf die Weltkirche zu nehmen. Sind nicht Emanuel Geibels Verse aus dem Gedicht „Deutschlands Beruf“ vom Jahre 1861 erneut aktuell: „… Dann vergeblich seine Netze wirft der Fischer aus in Rom … und es mag am deutschen Wesen einmal noch die Welt genesen“? Man vergleiche den Antwortbrief des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz an Kardinal Ouellet vom 12. September 2019.

Ein solcher Anspruch ist freilich längst nicht mehr durch besondere Leistungen der deutschen theologischen Wissenschaft begründet. Es fehlen heute – von bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen – so große Namen, wie sie um das II. Vatikanum den weltweiten Ruf der deutschen Theologie begründet hatten. Noch weniger zeichnet dieser deutsche Katholizismus sich durch religiöse Lebendigkeit aus, zeigt doch die kirchliche Statistik einen beständigen Sinkflug, was Kirchenbesuch, Sakramentspraxis, Priesterberufe etc. betrifft.

Es sind mittlerweile weit mehr die reichlichen Gelder, die aus deutschen Kirchensteuerkassen in ärmere Gegenden der Weltkirche fließen, die den deutschen Einfluss begründen. Umso peinlicher ist da die Arroganz, mit der Repräsentanten des deutschen Katholizismus als weltkirchliche Schulmeister auftreten.

Es ist nicht mehr zu übersehen: Das Phantom einer deutschen Nationalkirche lässt immer schärfere Konturen erkennen. Schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts träumte mancher von einem deutschen Nationalkonzil, das – so dachte man schon damals – die Einheit der Nation auch auf religiösem Gebiet besiegle. Aber selbst wenn solche Ideen bloße Träumereien blieben – eine nationale Abkapselung des deutschen Restkatholizismus in einer möglichst romfreien Nationalkirche wäre der sicherste Weg in den endgültigen Untergang.

Man frage sich nur, was von „Kirche“ überall da übrig geblieben ist, wo die Nation, der Staat, das eigentliche Strukturelement, den Bezugsrahmen der Kirche darstellt.

In Skandinavien gibt es Staatskirchen, die seit langem sich vom Apostolischen Glaubensbekenntnis verabschiedet haben. In der „Church of England“ ist die Königin Oberhaupt der Kirche, ernennt der „Prime Minister“ die Bischöfe, pflegt man ein hoch ästhetisches Ritual, und jeder glaubt, was er will. Eine ähnliche enge Anbindung an den Staat zeichnet die „autokephalen“ Kirchen des byzantinischen Kulturkreises aus.

Indes ist allen diesen oder ähnlichen Modellen von „Kirchen“ die schlichte Tatsache entgegenzustellen, dass Jesus Christus von seiner Kirche im Singular spricht. Nicht anders sein Apostel Paulus, der die Kirche den – natürlich nur einen – Leib Christi nennt.

Da ist es denn geradezu absurd, wenn dazu noch zu einer Zeit, da alle Welt von Globalismus spricht, innerhalb der Kirche selbstzerstörerischer nationaler Partikularismus am Werk ist. Im Lichte solcher Überlegungen ist dann auch der Versuch eines deutschen Sonderweges zu sehen.


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