„Es waren Predigtworte, wie sie die Wenigsten erwarteten“

1. Oktober 2019 in Chronik


Grundsatzpredigt aus dem Jahr 2018 des Erzbischof von Paris, Michel Aupetit, zum Missbrauchsskandal in der französischen katholischen Kirche. Gastbeitrag von Juliana Bauer


Paris (kath.net) Es war eine Predigt besonderer Art: jene Predigt, die mittlerweile ein Jahr alt ist, aber nach wie vor von hoher Aktualität. Der Erzbischof von Paris, Michel Aupetit (Archivfoto), hielt sie am 30. September 2018 in der (damals noch unzerstörten) Kathedrale Notre Dame. Aufgrund damaliger neuer Enthüllungen zum sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche sprach er diesen im Schlussteil seiner Homilie an, thematisierte aber auch die Gefahr von Machtmissbrauch und Fehlverhalten in der Kirche allgemein – nicht ohne dies der Liebe Christi und der eigentlichen Berufung des Menschen gegenüberzustellen.

Es waren Predigtworte, wie sie die Wenigsten erwarteten. Predigtworte, welche u.a. auch die Mehrheit einer Berufsgruppe in den Blickpunkt rückten, die in den Diskussionen und medialen Berichten über die schrecklichen Vorkommnisse nahezu in Vergessenheit geriet: die Mehrheit der Geistlichen. Und deren Mehrheit der Pariser Oberhirte Gerechtigkeit widerfahren ließ.

Es war eine Predigt, die es vom ersten Satz an in sich hatte. Zunächst auf das Tagesevangelium eingehend (Mk 9,38-43.45.47-48) nimmt Michel Aupetit bereits einen entscheidenden Gedanken seines späteren Teils vorweg: „Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt (oder wie es in dem mir vorliegenden französischen Text heißt: „Wenn dir deine Hand Anlass zum Abfall/ zum Sturz gibt“), dann schneide sie ab“ (Mk 9,43). Worte Jesu, die, wie Michel Aupetit nach der Einflechtung einer humorvollen Pointe ausführt, zwar eine „semantische Übertreibung“ darstellen, die jedoch aufzeigen sollen, dass unser „gesamter Lebensweg … (als Christen) sich dem Reich Gottes unterzuordnen“ habe und „kein Hindernis“ ihn davon, d.h. von „dieser Berufung“ abhalten dürfe.

In diesem Zusammenhang erläutert der Erzbischof vor dem Hintergrund von „Gottes Projekt“, in das „wir von Ewigkeit an … hineingehören“, welches ein „Projekt der Liebe ist“, in dem „wir von Ewigkeit an geliebt sind“ die Berufung der Christen, die, aus dieser Liebe Gottes heraus, eine Berufung zur Liebe sei. Dass wir berufen sind, „… in seinem Namen Gutes zu tun und lernen, (andere) zu lieben, wie er uns liebt …“ Und diese Liebe zeige sich den anderen gegenüber „als schlichte Geste der Nächstenliebe“, … wenn wir dafür Sorge tragen, dass „viele … (von ihnen) … Jesus kennenlernen“ können … Er verwies dabei vor allem auf die „Verantwortung,“ in der wir alle als Christen stehen, auf die Verantwortung unseren „menschlichen Brüdern“ gegenüber. Und auf die „große Verantwortung“ der Priester, die Christus in besonderer Weise nachfolgen, die der „Herr ruft, ihm zu folgen, ihr Leben zu geben, um“ – im biblischen Bild des Guten Hirten zu bleiben – „seine Schafe zu führen.“

Aus dieser Verantwortung heraus heiße es, gerade heute, da „unsere Kirche enorm geschlagen ist“, wachsam zu sein, wachsam, damit „uns unsere Zugehörigkeit zu Christus nicht arrogant“ mache und sie, wie es Papst Franziskus nenne, zum „Klerikalismus“ verkomme. Damit „die Wohltaten …, die wir von Gott empfangen, … die aber allen Menschen gelten, … uns nicht in eine Machtposition versetzen“, die uns dazu verführen könne – Michel Aupetit legt dies anschaulich und auf jegliche Form von Macht bezogen dar –, eine solche Machtposition zu missbrauchen, uns die „Gaben Gottes selbst anzueignen, die durch unsere Hände allen zu Teil werden sollen…, …“ Das sei ein Verhalten, das nicht diene, das sogar sehr schwerwiegend sei.

Seiner Überlegung, wie ein solches „Abdriften“ vermieden werden könne, antwortet er mit vier schlichten Wörtern: dem „flehenden Gebet vor Gott,“ dem Gebet, das uns ermögliche, „als nutzlose Diener,“ auf die Gott verzichten könne, die er aber als seine Boten senden wolle, an unserem richtigen Platz zu bleiben und in unserem Mitbruder, in dem Christus präsent sei, die Würde zu achten.

An dieser Stelle legt der Erzbischof seinen versammelten Gläubigen das Gebet in eindrücklicher Weise ans Herz, ja, er beschwört sie fast, täglich zu beten und inständig darum zu bitten, damit wir anderen keinen Anlass zu Skandal und Abfall (vom Glauben) bieten, damit sich andere nicht aufgrund unseres Missverhaltens von Jesus abwendeten. Man würde durchaus genau beobachten, wie wir Christen lebten, wie wir sprächen…

Diesen Gedanken ausweitend, lässt Aupetit seine Zuhörer in seine Seele blicken und verrät ihnen ein „Geheimnis“ seines persönlichen Gebetes: „Ich bete jeden Tag darum, für andere nicht zum Grund eines Skandals zu werden … für die, welche Christus lieben … unsere Worte können verletzen, … das, was wir tun, kann verletzen, auch wenn wir es nicht wollen, … ihr seid hier zahlreich versammelt, ebenso die, die uns sehen (über Rundfunk und Fernsehen), da kann es sein, dass meine Worte durchaus … jemandem nicht gefallen …“ Er erbitte dann die Hilfe des Hl. Geistes, gerade auch, wenn er etwas gesagt habe, was als „ungerecht“ empfunden würde …

Letztere Gedanken bereiteten den Boden für das, was den Erzbischof so sehr bewegte und es ihn seinen Gläubigen mitzuteilen drängte. Indem er nochmals klar und eindeutig an die Verantwortung aller „Getauften“ für andere Menschen appelliert, insbesondere aber an die der „Diener Gottes,“ als der er sich selbst unmissverständlich versteht, stellt er nun diese, d.h. die rechtschaffenen Priester (seines Bistums) unvermittelt in den Fokus seiner Verkündigung. Und nicht nur das! Er stellt sich genauso eindeutig hinter sie, ohne Wenn und Aber:

„Die Priester, die dem Herrn ihr Leben gegeben haben, um euch zu dienen, sind zutiefst betroffen und verletzt von den jüngsten Enthüllungen über einige ihrer Brüder. Sie schämen sich und sind gedemütigt, wenn sie zu Zusammenkünften mit unterschiedlichsten Menschen müssen, wo sie Personen begegnen, die sie beleidigen, indem sie sie als Pädophile bezeichnen. Sie, die ihr Leben gaben. Und das ist die große Mehrheit… Wie der Herr haben sie allen Ernstes ihr Leben für ihre Brüder gegeben und sie wünschen sich nur, diese Liebe des Herrn an sie weiterzugeben. Sicher wissen sie, dass, wenn sie Christus nachfolgen, der Beleidigungen ertragen musste … auch sie teilhaben würden an der Schmach, unter der Jesus Christus litt… … …

Liebe Brüder und Schwestern, ich bitte euch darum, schenkt ihnen eure Wertschätzung und euer Vertrauen, … diesen Priestern, die Christus verkünden möchten… ich bitte euch, ihnen zu helfen, ihre Freude wiederzufinden, Christus nachzufolgen. Schenkt ihnen eure Zuneigung!

Es gibt einige, die das Gesicht Jesu und das der Kirche furchtbar beschmutzen … aber die größere Gruppe verdient eure Wertschätzung.“

Mit einer kleinen Erzählung aus einer ihn sehr berührenden Begegnung schloss Michel Aupetit seine Predigt ab: „Gestern fand der Kongress Mission statt … Dort segneten die Laien die Priester und die Bischöfe … Sie legten allen die Hände auf … Für mich war das eine wunderschöne Geste, die Wertschätzung und Vertrauen ausdrückte.“ Und er bat seine Gemeinde: “Hört nicht auf, uns zu segnen.“

Quelle: Die schriftliche Fassung der Predigt (Homélie de Mgr Michel Aupetit - Messe Notre Dame de Paris, Dimanche 30 septembre 2018: Diocèse de Paris: L’église catholique à Paris). Unter Berücksichtigung und Einarbeitung mehrerer Passagen des gesprochenen Predigt-Worts. Übersetzung: Dr. Juliana Bauer

Nachfolgend sei als Ergänzung noch darauf verwiesen, dass der Erzbischof von Paris einen Meilenstein bei der Aufklärung und Bekämpfung von Sexualstraftaten in der Kirche setzte: am 5.September 2019 unterzeichneten er und Staatsanwalt Rémy Heitz, Paris, „eine Absichtserklärung zur Übermittlung von Berichten über Sexualverbrechen an die Staatsanwaltschaft.“ Diese Vereinbarung soll eine noch engere Zusammenarbeit von Kirche und Justiz in Frankreich bewirken, die Berichterstattung der Diözese beschleunigen und es der Strafverfolgung ermöglichen, begangene Verbrechen zu verfolgen oder, auch umgekehrt, Zweifel auszuräumen. Laut Staatsanwaltschaft sei es „das erste Mal, dass in Frankreich eine Staatsanwaltschaft und eine Diözese ihre Beziehungen in einen institutionellen Rahmen gestellt haben, um gegen sexuellen Missbrauch vorzugehen“ (vatican news.va, 7.9.2019).


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